Europarecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Berufung, Versorgung, Leistungen, Unterkunft, Vertragsschluss, Anrechnung, Pflegeheim, Leistungserbringung, Befristung, Aufwendungen, Abwesenheit, Entgeltanspruch, Vertrag, Heimbewohner, Treu und Glauben, integrierte Versorgung, eigene Wohnung

Aktenzeichen  4 U 1292/21

Datum:
22.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 53733
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

12 O 725/20 2021-03-30 LGAMBERG LG Amberg

Tenor

I.
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Amberg vom 30.03.2021, Az. 12 O 725/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
II.
Die Beklagte hat weder neue berücksichtigungsfähige Tatsachen vorgetragen (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) noch konkrete Anhaltspunkte aufgezeigt, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellungen des Landgerichts begründen würden (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es ist daher von dem im angefochtenen Urteil zugrunde gelegten Sachverhalt auszugehen. Dieser rechtfertigt weder eine andere Entscheidung noch ist eine Rechtsverletzung vorgetragen, auf der die erstinstanzliche Entscheidung beruhen würde (§ 513 Abs. 1 ZPO).
Der Senat hat die gegen das angefochtene Urteil erhobenen Einwände geprüft und gewürdigt. Die mit der Berufung vorgetragenen Gesichtspunkte können ihr jedoch nicht zum Erfolg verhelfen.

Gründe

1. Soweit sich die Berufung gegen die Verurteilung zur Räumung des Zimmers Nr. 203 in der Einrichtung B. richtet, hat die Beklagte die Berufung nicht begründet, so dass die Berufung insoweit bereits unzulässig ist.
2. Im Übrigen ist die Berufung unbegründet.
a) Die Regelung in Ziffer 19.3 des Vertrages über vollstationäre Pflege (Pflegevertrag), wonach sich ab dem vierten Abwesenheitstag die Pflegevergütung, die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung sowie Ausbildungszuschlag und eventuelle Zuschläge nach § 92b SGB XI (integrierte Versorgung) um jeweils 25% reduzieren, ist wirksam. Insbesondere verstößt sie nicht gegen §§ 307 ff BGB, weil sie die Beklagte nicht entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Die von der Beklagten zitierten § 308 Nr. 7b BGB und § 309 Nr. 6 BGB sind vorliegend schon deswegen nicht direkt anwendbar, weil deren Voraussetzungen nicht vorliegen. Davon geht auch die Beklagte aus, denn sie beruft sich nur auf eine Vergleichbarkeit der Regelungen.
Die Regelung in Ziffer 19.3 des Pflegevertrages ist bereits deswegen wirksam, weil sie vom Gesetz selbst als zulässig angesehen wird.
Danach sind die Regelungen in § 7 WBVG gemäß § 16 WBVG nicht zum Nachteil des Verbrauchers abdingbar. Eine legitimierte Ausnahme ergibt sich allerdings aus § 7 Abs. 5 S. 2 WBVG. In § 7 Abs. 5 WBVG ist geregelt, dass bei einer Abwesenheit des Verbrauchers von mehr als drei Tagen eine Anrechnung der durch die Abwesenheit ersparten Aufwendungen des Unternehmers auf den Entgeltanspruch vorzunehmen ist. Im Gegensatz zu einer detaillierten Aufstellung lässt § 7 Abs. 5 S. 2 WBVG die Möglichkeit zu, eine Pauschalierung hinsichtlich der Ersparnis aus Gründen der Praktikabilität vorzunehmen. Ob die Pauschale sich exakt mit den ersparten Aufwendungen deckt, kann dahinstehen (Dickmann/Kempchen, 11. Aufl., 2014, WBVG § 7 Rn 1). Es ist daher unerheblich, ob der Kläger durch die Abwesenheit der Beklagten tatsächlich höhere Einsparungen gehabt hat. Da zwischen den Parteien eine Pauschalvereinbarung bestand, brauchte der Kläger dazu weder etwas vorzutragen noch unter Beweis zu stellen.
Die Pauschalierungsregelung in Ziffer 19.3 des Pflegevertrages entspricht § 87a S. 6 SGB XI, wonach Abschläge von mindestens 25% der Pflegevergütung, der Entgelte für Unterkunft und Verpflegung und der Zuschläge nach § 92b SGB XI vorzusehen sind.
Das vereinbarte Entgelt abzüglich der Pauschale ist bis zur Beendigung des Pflegevertrages zu zahlen. Zwar ist in Ziffer 19.1 des Pflegevertrages und in § 87a SGB XI geregelt, dass der Pflegeplatz im Fall vorübergehender Abwesenheit vom Pflegeheim für einen Abwesenheitszeitraum von bis zu 42 Tagen im Kalenderjahr für den Pflegebedürftigen freizuhalten ist, wobei Krankenhausaufenthalte und Aufenthalte in Rehabilitationseinrichtungen nicht eingerechnet werden. Weder im Gesetz noch im Pflegevertrag ist aber eine Befristung oder Änderung des pauschalen Abzugsbetrags vorgesehen, wenn die Abwesenheit länger als 42 Tage andauert. Die Argumentation der Berufung, dass ein pauschaler Abschlag von 25% der jeweiligen Situation des Heimbewohners nicht gerecht wird, überzeugt vor dem Hintergrund der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung nicht. Der Heimbewohner kann im Übrigen den Vertrag jederzeit kurzfristig nach Ziffer 27.1 des Pflegevertrages kündigen, wenn sich seine persönliche Situation verändert hat.
b) Eine Vertragsanpassung im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB wegen Störung der Geschäftsgrundlage aufgrund der Beschränkungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kommt nicht in Betracht.
aa) Nach § 313 Abs. 1 BGB kann eine Vertragsanpassung verlangt werden, wenn sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und wenn die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, und soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann.
bb) Die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB werden durch § 10 WBVG (Nichtleistung oder Schlechtleistung) nicht verdrängt, denn die Gebrauchsbeeinträchtigungen durch die COVID-19-Pandemie und die in deren Folge erlassenen öffentlich-rechtlichen Gebrauchsbeschränkungen stellen keinen Mangel dar, so dass es auch keine Sperrwirkung der Gewährleistungsregeln gegenüber dem Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gibt.
„Erbringt der Unternehmer die vertraglichen Leistungen ganz oder teilweise nicht, kann der Bewohner nach § 10 Abs. 1 WBVG grundsätzlich eine angemessene Kürzung des vereinbarten Entgelts verlangen. Für Leistungsausfälle aufgrund der Coronapandemie gilt das nicht. § 150 Abs. 1 S. 3 SGB XI lässt im Fall einer wesentlichen Beeinträchtigung der Leistungserbringung infolge der Coronapandemie die Vornahme der erforderlichen Maßnahmen und Anpassungen zu. Zivilrechtlich kann nicht als Schlechtleistung gelten, was leistungsrechtlich als pandemiebedingte Ausnahme gesetzlich toleriert wird. Darüber hinaus ist der zivilrechtliche Kürzungsanspruch gemäß § 10 Abs. 4 WBVG mit dem Kürzungsverfahren nach § 115 Abs. 3 SGB XI verknüpft. Das Kürzungsverfahren nach § 115 Abs. 3 SGB XI ist aber pandemiebedingt vorübergehend ausgesetzt. Dies hat eine Reflexwirkung auf das Wohn- und Betreuungsvertragsverhältnis“.
Dieser von Schmidt (Schmidt, COVID-19, 3. Aufl. 2021, § 5 Heimrecht Rn 66a, beck-online) vertretenen Auffassung schließt sich der Senat an.
cc) § 313 Abs. 1 BGB setzt eine schwerwiegende Änderung der Umstände voraus. Dies erfordert eine Einzelfallprüfung, bei der es insbesondere darum geht, festzustellen, inwiefern sich durch die Änderung das vertragliche Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung geändert hat. Die Fälle der Äquivalenzstörung betreffen ein schwerwiegend gestörtes Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung. Die Folge ist, dass je nach Einzelfall der Umfang der von einer Partei übernommenen Leistungspflicht herauf- oder herabgesetzt wird, oder dass beide Leistungspflichten angeglichen werden. Da dies einen schweren Eingriff in den Grundsatz der Vertragstreue darstellt, sind die Voraussetzungen für eine Äquivalenzstörung sehr hoch. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ohne die Anpassung ein „untragbares, mit Recht und Gerechtigkeit schlechthin unvereinbares Ergebnis“ vorliegen (BGH NJW 1977, 2262/2263). Das ist hier nicht der Fall.
Richtig ist zwar, dass zur Freizügigkeit in Pflegeeinrichtungen gehört, dass es im Grundsatz keine Besuchsverbote geben soll. Hausrechtliche Besuchsverbote, die auf dem (Fehl-)Verhalten einzelner Besucher beruhen, decken keine generellen, durch eine pandemische Lage veranlassten Besuchsverbote. Auch Ausgangsbeschränkungen sind dem Heimrecht grundsätzlich fremd. Auf individueller Ebene kommen sie als freiheitsentziehende Maßnahme nur mit richterlichem Beschluss in Betracht.
Dennoch steht der Beklagten keine Vertragsanpassung zu, bei der sie bis auf die (geringfügige) Investitionspauschale kein Entgelt zu zahlen habe.
Eine solche Vertragsanpassung ist nicht gerechtfertigt, denn die notwendigen Betreuungs- und Pflegeleistungen, die den Schwerpunkt des Pflegevertrages bilden und in Ziffer 2.1 des Pflegevertrages geregelt sind, waren weiterhin uneingeschränkt möglich. Der Beklagten standen ihr Zimmer, ihre Mahlzeiten und die Pflege weiterhin zur Verfügung, auch wenn sie diese während ihrer Abwesenheit nicht in Anspruch genommen hat. Aus triftigem Grund hätte sie gemäß den jeweils geltenden „Coronabestimmungen“ das Heim auch jederzeit verlassen können. Ein triftiger Grund wäre es z. B. gewesen, sich um die eigene Wohnung zu kümmern, sowie Wochenendheimfahrten zu unternehmen oder spazieren zu gehen. Insoweit ist sie durch die „Coronabestimmungen“ nicht mehr betroffen als jeder andere. Dass das Besuchsrecht teilweise stark eingeschränkt war, hätte an den Kernaufgaben, die dem Kläger obliegen, nichts geändert. Letztlich ist es so, dass auch Nichtheimbewohner Kontaktbeschränkungen und sonstige Einschränkungen aufgrund der Coronapandemiemaßnahmen hinnehmen mussten und müssen.
Der Senat geht auch nicht von einer Zweckstörung des Vertrages aus. Von einer Zweckstörung spricht man vor allem im Werkvertragsrecht, wenn ein Unternehmer ein Werk mangelfrei erstellt, dieses im Zeitpunkt der Abnahme für den Besteller aber nicht mehr verwendbar ist. Dieses Risiko trägt normalerweise der Besteller. Unter bestimmten Voraussetzungen kann aber eine andere Bewertung geboten sein. Bei Zweckstörungen ist dies in der Regel der Fall, wenn der Schuldner den Verwendungszweck kennt und er eine eigene Beziehung zu der Erreichung des Zwecks hat. Dies kann beispielsweise anzunehmen sein, wenn der Schuldner an dem aus seiner Leistung resultierenden Erfolg wirtschaftlich partizipiert, etwa durch eine erhöhte Gegenleistung oder eine Umsatzbeteiligung.
Eine solche Zweckstörung ist vorliegend nicht gegeben. Die Beklagte meint, dass Eigenständigkeit und weitestgehende Selbstbestimmung Grundlage des Vertrags über vollstationäre Pflege geworden sind. Dies ist insoweit richtig und ergibt sich aus der Präambel des streitgegenständlichen Vertrages, wonach Ziel der Seniorenwohn- und Pflegeeinrichtungen des Bayerischen Roten Kreuzes ist, dem Bewohner Pflege, Betreuung, Unterkunft und Verpflegung anzubieten, ihm zum Schutze seiner Interessen und Bedürfnisse ein Leben unter Wahrung seiner Menschenwürde und Sicherung der Selbstbestimmung zu ermöglichen sowie Lebensqualität zu erhalten und zu fördern. Allerdings ist damit weder ein Zweck definiert noch wurde eine dann nicht mehr verwendbare Leistung erbracht. Vielmehr handelt es sich allenfalls um eine Äquivalenzstörung, die im Ergebnis – weil sie nicht schwerwiegend genug ist – nicht zu einer Vertragsanpassung führt.
III.
Der Senat regt die Rücknahme der Berufung an. Dies hätte gegenüber der Entscheidung nach § 522 ZPO Kostenvorteile.
Die Beklagte erhält Gelegenheit zur Stellungnahme von 2 Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.


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