Europarecht

Dublin-III-VO, Einstweilige Anordnung, Verwaltungsgerichte, Anordnungsgrund, Angaben des Antragstellers, Unbegleiteter Minderjähriger, Anordnungsanspruch, Familienangehörige, Vorwegnahme der Hauptsache, Antragsgegner, Mitgliedstaaten, Halbgeschwister, Subsidiär Schutzberechtigter, Familienbuchs, Asylverfahren, Familiäre Lebensgemeinschaft, Asylantragstellung, Asylantragsteller, Volljährigkeit, Kostenentscheidung

Aktenzeichen  AN 17 E 21.50047

Datum:
16.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5364
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 7 Abs. 2, Art. 8 Abs. 1 und 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt von Griechenland aus den Nachzug zu in Deutschland lebenden Halbgeschwistern und deren Mutter bzw. die Durchführung seines Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO).
Der am … 2003 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger. Seine Eltern sind seinen Angaben zufolge der in Syrien lebende … (geb. …1963) und die ebenfalls in Syrien lebende …; diese sind – in zweiter Ehe für den Vater – mit einander verheiratet und haben außer dem Antragsteller noch vier weitere Kinder (…). Der Vater ist nach Angaben des Antragstellers im Übernahmeverfahren in erster Ehe mit Frau „…“ verheiratet und hat mit ihr acht weitere Kinder ( … ); sie leben seit ihrer Ausreise aus Syrien im Jahr 2013 in Deutschland. Die Halbgeschwister … (geb. 2007), … (geb. 2004), … (geb. 2000), … (geb. 1998) und … (geb. 1990) leben mit Frau …, die der Antragsteller als Stiefmutter bezeichnet, in einer gemeinsamen Wohnung in D., die weitere Kinder …, … und … in eigenen Haushalten. Herr … war – so der Antragsteller – außerdem in dritter Ehe mit einer weiteren Frau verheiratet, von der er inzwischen geschieden ist. Aus diese Beziehung ging ebenfalls ein Kind (…) hervor. Er unterhält außerdem eine vierte Ehe oder Lebensgemeinschaft mit einer weiteren Frau (…) in Syrien und hat mit dieser drei weitere Kinder ( …, … und … ). Diese leben in Syrien.
Der Antragsteller floh 2018 aus Syrien und stellte am 30. Januar 2020 in Griechenland einen Asylantrag.
Am 30. April 2020 richtete die griechische Dublin-Einheit unter Vorlage von
– Einverständniserklärungen des Antragstellers, seiner Stiefmutter … … und seiner Halbgeschwister … und …,
– des Mietvertrags über eine 4-Zimmer-Wohnung (110 m²) in …,
– eines Bescheids über den Bezug von Sozialleistungen der Stiefmutter und Halbgeschwister,
– eines als Fotomontage erstellten Bildes der Familie,
– Fotografien der Seiten eines arabisch-sprachigen Dokuments (wohl Familienbuch),
– einer in Griechenland gefertigten Übersetzung zu diesen Seiten ins Englische und
– eines „Best Interests Assessment“ für den Antragsteller, das eine Beschreibung der Familiensituation in Griechenland durch den Antragsteller und eine Zeichnung zu den dortigen Wohnverhältnissen enthält
ein auf Art. 8 Dublin III-VO auf Nachzug zur Stiefmutter gestütztes Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin.
Im Best Interests Assessment wird ausgeführt, dass der Antragsteller ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Stiefmutter … … und seinen Halbgeschwistern habe. In Syrien habe der Antragsteller mit seiner Mutter und seinen (Voll-)Geschwistern in einem Haus in der Nähe des Hauses seines Vaters, wo dieser mit seiner Stiefmutter und seinen Halbgeschwistern gelebt habe, gewohnt. Der Vater habe in beiden Häusern seine Zeit verbracht. Man habe sich gegenseitig immer besucht, sei zusammen aufgewachsen und habe nach wie vor eine enge Beziehung. Die Stieffamilie habe Syrien auch besucht und dabei den Antragsteller bei dieser Gelegenheit gesehen.
Die in Griechenland gefertigte Übersetzung des o.g. Dokumentes (Ausstellungsdatum 23.6.2011) weist 15 Kinder aus, darunter als 4. Kind von Herrn … … eine „…“, als 7. Kind einen „…“, als 9. Kind einen „…“ und als 13. und 14. Kind „…“. Die Stiefmutter ist dort unter den Personalien „…“ registriert. Eine vierte Frau ist nicht eingetragen.
Eine vom Bundesamt in Auftrag gegebene erneute Übersetzung des Familienbuchs ins Deutsche ergab, dass für das 7. und 8. Kind kein Auszug aus dem Familienbuch von Griechenland vorgelegt worden ist (vgl. Übersetzung vom 5.6.2020). Die Stiefmutter des Antragstellers ist dort mit „… …“ aufgeführt, das 4. Kind als „…“ und als 14. Kind ein(e) „…“.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2020, per DubliNet übersandt am 29. Juni 2020, lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme des Antragstellers gegenüber Griechenland mit der Begründung ab, dass die weitere Ehefrau des Vaters des Antragstellers keine Familienangehörige des Antragstellers sei und die Unterlagen nicht ausreichend seien, um eine Familienbeziehung zu begründen.
Mit Schreiben vom 20. Juli 2020 übersandten die griechischen Behörden das Familienbuch erneut und mit einer neuen Übersetzung. Danach ist die Stiefmutter als „…“ bezeichnet, das 4. Kind mit „…“, als 7. Kind „…, geb. 21.1.2003“, als 9. Kind „…“ und als 14. Kind „…“. Beigefügt wurde zudem ein „Psychological Assessment“ vom 10. Juli 2020. Darin ist ausgeführt, dass der Antragsteller mit seiner Stiefmutter und seinen Halbgeschwistern in Syrien für einige Jahre im gleichen Haus gewohnt habe, sie eine Familie bilden würden und der Antragsteller traurig sei und die Wiedervereinigung mit seiner Stieffamilie wünsche. Auch in einer Stellungnahme des griechischen Anwalts des Antragstellers vom 20. Juli 2020 ist die Rede davon, dass der Antragsteller mit den Personen, zu denen nachgezogen werden solle, in einem Haus gelebt habe. Frau … selbst gibt in einer englisch-sprachigen Stellungnahme vom 17. Juli 2020 an, dass die Familie seit 2002 im selben zweistöckigen Haus gelebt habe.
Mit Schreiben vom 7. September 2020 lehnte das Bundesamt nach erneuter Überprüfung die Übernahme ab. Die Kinder der Stiefmutter seien keine in Art. 2 Buchst. h) Dublin III-VO erwähnten Personen. Auch Art. 8-11, 16 und 17 Dublin III-VO griffen nicht ein.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2021 berief sich der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten auf ein Nachzugsrecht zu seinen Geschwistern nach Art. 8 Dublin III-VO. Mit Schriftsatz vom 12. Februar 2021 stellte dieser einen Antrag nach § 123 VwGO beim Verwaltungsgericht Ansbach und beantragte,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen durch das Griechische Migrationsministeriums – Nationales Dublin-Referat für den Asylantrag des Antragstellers für zuständig zu erklären.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass aufgrund der langen Verfahrensdauer eine dauerhafte Verhinderung der Familieneinheit drohe. Als syrischer Staatsangehöriger sei für den Antragsteller in Griechenland ein „fast-track procedure“ vorgesehen. Die Vorwegnahme der Hauptsache sei notwendig. Für die Minderjährigkeit sei aufgrund Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Griechenland abzustellen. In Deutschland lebten die Stiefmutter des Antragstellers und die zehn Geschwister …, …, …, …, …, …, …, … und … Bis auf den Halbbruder … sei allen Geschwistern in Deutschland internationaler Schutz zuerkannt. Eine Unterscheidung zwischen (Voll-) und Halbgeschwistern finde im Rahmen des Art. 8 Dublin III-VO nicht statt. Der Zuzug eines unbegleiteten Minderjährigen zu seinen Geschwistern entspreche regelmäßig dessen Wohl. Gegenteilige Anhaltspunkte existierten hier nicht. Mit Schriftsätzen vom 2. März 2021 und 15. März 2021 wurden weitere Stellungnahmen zum Anordnungsgrund abgegeben.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 19. Februar 2021, den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zwar zulässig (2), aber unbegründet (3) und deshalb abzulehnen. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1).
1. Da sich der Antragsteller in Griechenland aufhält, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für … seinen Sitz in N. hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zuständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Der Antragsteller ist nach § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Hierfür ist erforderlich, dass er einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch geltend macht, d.h. vorträgt und dies jedenfalls in Betracht kommt, dass ihm ein Rechtsanspruch zusteht (Anordnungsanspruch) sowie die Durchsetzung dieses Anspruchs dringlich ist bzw. der Anspruch ohne eine Eilentscheidung in unzumutbarer Weise gänzlich gefährdet ist und unterzugehen droht (Anordnungsgrund). Dies ist im Hinblick auf Art. 8 Dublin III-VO geltend gemacht und nicht von vorneherein ausgeschlossen. Ein Berufen vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO ist dabei anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 Europäische Grundrechts-Charta (GRCh) sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragsteller hat weder einen Anordnungsanspruch (a), noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (b).
a) Ein Nachzugsanspruch zu Halbgeschwistern und seiner „Stiefmutter“ ergibt sich für den Antragsteller aus Art. 8 Dublin III-VO nicht. Die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO wurden aufgrund unklarer, nicht gleichbleibender, sondern teilweise widersprüchlicher Angaben zu den Familienverhältnissen nicht glaubhaft gemacht.
Nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ist für einen Asylantragsteller der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich Familienangehörige oder Geschwister eines unbegleiteten Minderjährigen aufhalten. Da hierfür nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO der Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung im Dublin-Raum maßgeblich ist, unterfällt der Antragsteller trotz seiner zwischenzeitlich eingetretenen Volljährigkeit grundsätzlich weiter dem Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO. Er hat seinen Antrag auf internationalen Schutz bereits am 31. Januar 2020 gestellt und war damals noch 17 Jahre alt. Da er nicht in Begleitung oder in der Obhut eines verantwortlichen Erwachsenen war und ist, war er zu diesem Zeitpunkt ein unbegleiteter Minderjähriger i.S.v. Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO.
Frau … stellt jedoch keine Familienangehörige für den Antragsteller da. Dies sind für einen Minderjährigen grundsätzlich nur der Vater und die Mutter (Art. 2 Buchst. g Spiegelstrich 2 Dublin III-VO). Andere Erwachsene sind dies nur, wenn sie nach dem Recht oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaates, in dem sich der Erwachsene aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich sind (Art. 2 Buchst. g Spiegelstrich 3 Dublin III-VO). Nach deutschem Recht ist eine Mehrehe gänzlich ausgeschlossen und damit sind auch keine Verantwortlichkeiten zwischen Kindern und Mütter aus anderer Ehe des Vaters in der deutschen Rechtsordnung vorgesehen. Die weitere Frau seines Vaters steht mit dem Antragsteller auch nicht in verwandtschaftlichem Verhältnis i.S.v. Art. 2 Buchst. j Dublin III-VO (vgl. dort abschließende Auszählung), so dass im Hinblick auf die Stiefmutter auch Art. 8 Abs. 2 Dublin III-VO als Anspruchsgrundlage ausscheidet.
Ein Nachzugsanspruch ergibt sich für den Antragsteller auch nicht zu den benannten Halbgeschwistern. Nach Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ist die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates auch dann begründet, wenn sich Geschwister eines unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten und der Nachzug zu diesen dem Wohl des Antragstellers entspricht. Der Begriff der Geschwister ist dabei in der Dublin III-VO nicht definiert. Entsprechend dem deutschen Recht (vgl. etwa § 1307 BGB, der von „vollbürtigen und halbbürtigen Geschwister[n]“ spricht) ist aber davon ausgehen, dass auch Personen, die nur einen Elternteil gemeinsam haben, Geschwister in diesem Sinne sind. Dass es sich bei den Referenzpersonen tatsächlich um (halbbürtige) Geschwister des Antragstellers handelt, ist jedoch nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Aufgrund mehrerer Zweifel, die sich aus den von den griechischen Behörden vorgelegten Unterlagen und Übersetzungen und dem Vortrag der Beteiligten hierzu ergeben, ist das geschwisterliche Verhältnis nicht ausreichend nachgewiesen. Die Angaben der Beteiligten zur Stieffamilie des Antragstellers weichen teilweise voneinander ab und werfen Fragen auf. Sie sind deshalb nicht in der Lage, das Geschwisterverhältnis zu belegen. Die (angegebene) Stiefmutter des Antragstellers ist in den Unterlagen mit drei verschiedenen Namen und zwei verschiedenen Geburtsdaten erfasst. Im Antrag der griechischen Behörden und durch den Antragsteller selbst wird sie als „…“ (geb. …1968) bezeichnet, in der ersten Übersetzung des Familienbuchs geht als Mutter der Kinder „…“ (geb. …1968) hervor, in der deutschen Übersetzung ist diese mit „…“ (geb. …1968) und in der zweiten Übersetzung aus Griechenland alternativ als … bezeichnet. Ein Kind „…“ existiert nach keiner der drei Übersetzungen des Familienbuchs und zwar von keiner Frau des Vaters, ein(e) … wird aber vom Antragsteller selbst (s. Section 5 – Summary and Recommendations des Best Interest Assessment) erwähnt. Unklar ist auch, ob und wie das Kind … zur Familie gehört, was es mit den Kindern „…“ (ins Familienbuch eingetragen, vom Antragssteller aber nie erwähnt) und … (nicht ins Familienbuch eingetragen, aber laut Vortrag des Antragstellers existent und in Deutschland lebend) auf sich hat und wie es zu der Fehlübersetzung von „…“ mit „…“ und „…“ mit „…“ gekommen ist bzw. ob es sich tatsächlich um eine Fehlübersetzung handelt. Aufgrund von Transkriptionen und Sprachfärbungen wären zwar kleinere Ungenauigkeiten erklärbar und dürfen Übersetzungsungenauigkeiten nicht überwertet werden. Die Summe der Unklarheiten und zweifelhaften Angaben führt vorliegend jedoch zu einer Unklarheit der Familienverhältnisse insgesamt, zumal auch die vierte Frau des Vaters und die dazu gehörenden Kinder im Familienbuch von 2011 nicht eingetragen sind. Insgesamt ist damit die Stellung des Antragstellers als Halbbruder zu den Referenzpersonen im Antragsschriftsatz bzw. den Personen, die Griechenland als Referenzpersonen angibt bzw. für die ein Einverständnis zum Nachzug vorliegt – der Personenkreis ist auch nicht identisch – nicht glaubhaft gemacht. Zu den zweifelbegründenden Umständen gehört auch, dass die Angaben des Antragstellers und die von Frau … hinsichtlich der Wohnsituation in Griechenland deutlich voneinander abweichen. Während der Antragsteller eindeutig von zwei verschiedenen Wohnhäusern der Teilfamilien des Vaters im gleichen Viertel sprach und davon, dass der Vater seine verschiedenen Familien in beiden Häusern besucht habe (s. Section 5 – Summary and Recommendations des Best Interest Assessment), gibt Frau … davon abweichend in ihrem „declaration statement“ vom 17. Juli 2020 an, dass alle zusammen in einem zweistöckigen Haus gelebt hätten. In einer Zeichnung hat zwar auch der Antragsteller ein zweistöckiges Haus skizziert, darin wohnten nach seinen Angaben aber gerade nicht Frau … mit ihren Kindern, sondern seine weitere Stiefmutter „…“, die Brüder „…“, „…“ und die Schwester „…“ (vgl. „Annex II child’s drawing“ im Rahmen des Best Interests Assessment). Die Vorlage eines als Montage erstellten Fotos – die Fotomontage ist auf den ersten Blick als solche eindeutig erkennbar – zur Belegung der Familiensituation ist völlig unbehelflich, vertieft die Zweifel an der Richtigkeit des vorgetragenen Sachverhalts allenfalls noch.
Im Rahmen des Verfahrens des § 123 Abs. 1 VwGO ist es nicht Sache des Gerichts, im Wege der Amtsaufklärung den – hier durchaus erheblichen und zahlreichen – Widersprüchen im Detail nachzugehen, weitere Beweise anzufordern oder im Einzelnen zur Aufklärung aufzufordern, um den wahren Sachverhalt oder wenigstens einen wahren Kern des Vortrags zu ermitteln. Es ist wie im Asylverfahren generell Sache des Asylantragstellers eine plausible, nachvollziehbare, widerspruchsfreie Sachverhaltsschilderung abzuliefern. Das gilt nicht nur für das eigentliche Asylbegehren, die Verfolgungsgeschichte im Heimatland, sondern auch für die persönlichen Umstände, die die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates im Rahmen eines Dublin-Verfahrens begründen sollen. Anzuerkennende Beweise oder Indizien im Sinne von Art. 22 Abs. 3 a) bzw. b) Dublin III-VO i.V.m. Anlage II Verzeichnis A bzw. Verzeichnis B der Dublin-Durchführungs-VO zur Belegung der Familiensituation sind hier auch vom griechischen Staat nicht beigebracht worden. Ein nicht aktuelles, unvollständiges, widersprüchlich übersetztes Dokument, von dem unklar ist, ob und gegebenenfalls um welche Art von Familienstandstandbescheinigung es sich dabei handelt, stellt kein Dokument im Sinne von Anlage II Verzeichnis A Nr. 3 der Dublin-Durchführungs-VO dar. Im Übrigen ist angesichts der Widersprüche und Wirrnisse unklar, ob der Antragsteller bzw. die Referenzpersonen tatsächlich die Personen sind, die in den Papieren erwähnt sind. An einer Glaubhaftmachung im Rahmen des Eilverfahrens nach § 123 Abs. 1 VwGO fehlt es jedenfalls, einen solchen Nachweis kann das vorgelegte Papier ohne die Zweifel ausräumende Erläuterungen, wie es zu den Falschangaben kam, nicht führen.
Weiter ist, selbst wenn man eine bestehende Geschwisterbeziehung zugrunde legen würde, nicht glaubhaft gemacht, dass der Nachzug zur Zweitfamilie dem Wohl des Antragstellers auch dient. Zwar spricht wohl grundsätzlich eine Vermutung dafür, dass der Nachzug zu Geschwistern dem Wohl eines unbegleiteten Minderjährigen dient, diese Vermutung existiert nach Ansicht des Gerichts für den Fall des Nachzugs zu Halbgeschwistern, mit denen nie eine familiäre Lebensgemeinschaft bestanden hat, jedoch nicht. Der Blick auf die Erwägungsgründe der Dublin III-VO zeigt, dass in erster Linie der Schutz der Familie gewährleistet werden soll und eine Trennung von Familienangehörigen vermieden werden soll. Lag eine getrennte Wohnsituation aber bereits im Heimatland vor und bestand lediglich ein allgemein gutes Verhältnis innerhalb einer Großfamilie, wie dies etwas auch zwischen Onkel, Tanten, Neffen und Nichten oftmals der Fall ist, greift der erhöhte Schutzzweck des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO nicht ein. Es liegt eher eine familiäre Situation vor, die der Konstellation des Art. 8 Abs. 2 Dublin III-VO entspricht (sonstige Verwandte), bei dem das Wohl des Minderjährigen aber individuell und aktiv dargelegt werden muss und keine Vermutung hierfür besteht. Dass für das Wohl des fast erwachsenen Antragstellers die Lebensgemeinschaft oder räumliche Nähe mit seinen Halbgeschwistern, mit denen er seit deren Flucht im Jahr 2013, also seit seinem 10. Lebensjahr keinen persönlichen Kontakt mehr hatte, notwendig oder förderlich ist, wurde in keiner Weise dargestellt. Der Antrag wurde vielmehr in erster Linie mit dem guten Verhältnis zur Stiefmutter begründet und nicht aber mit persönlichen Beziehungen zu den Halbgeschwistern. Auch die entstehende beengte Wohnsituation von dann sieben Personen in einer 4-Zimmer-Wohnung dient nicht unbedingt dem Familienfrieden und damit dem Wohl des Antragstellers.
Schließlich fehlt es zusätzlich auch an der Glaubhaftung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Referenzpersonen. Aus den in den Akten befindlichen Unterlagen ergibt sich zwar, dass Frau … und die bei ihr wohnenden Kinder subsidiär Schutzberechtigte sind, die Aufenthaltstitel nach deutschem Recht sind nach Aktenlage jedoch derzeit abgelaufen. Sie waren vom 18. Juli 2018 bis 17. Juli 2020 gültig, sind bislang aber nicht verlängert worden.
Ein Anordnungsanspruch nach Art. 8 Dublin III-VO ist damit in mehrfacher Hinsicht nicht glaubhaft gemacht. Mangels Vortrags und erkennbarer Umstände hierzu kommt auch ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht ernsthaft in Betracht, zumal es sich hierbei um eine Ermessensvorschrift handelt und ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null erfolgreich wäre, was im Hinblick auf das Alter des Antragstellers und fehlender besonderer Umstände ausscheidet (vgl. etwa VG Ansbach, B.v. 17.8.2020 – AN 17 E 20.50269 – juris).
b) Es liegt zudem kein Anordnungsgrund vor. Die hierfür erforderliche Dringlichkeit ist nicht gegeben, auch wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise erst nach einer Asylentscheidung in der Sache durch Griechenland ergehen würde. Dem Antragsteller ist die fortbestehende Trennung von Frau … und deren Kinder vielmehr zumutbar und zwar selbst bei Zugrundelegung eines (Halb-)Geschwisterverhältnisses. Im Fall von gesunden Volljährigen ist die Frage eines Anordnungsgrundes aufgrund längerer Trennung von Familienangehörigen oder Verwandten vom Grundsatz her anders zu beurteilen als im Fall einer Trennung von minderjährigen Kindern von ihren Eltern bzw. von vulnerablen Personen von Betreuungspersonen, auf die diese angewiesen sind (vgl. Rechtsprechung der Kammer insoweit z.B. VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris). Bei Volljährigen spricht viel dafür, dass dem Grundsatz, dass die Hauptsache im einstweiligen Rechtschutz nicht vorweggenommen werden darf, der Vorrang zukommt. Dem Antragsteller ist als Erwachsenem die längere Zeitdauer, die ein Klageverfahren regelmäßig in Anspruch nimmt, prinzipiell zumutbar. Dass auf diesem Wege ein Nachzug nach Deutschland eventuell ganz ausgeschlossen sein kann, weil das nationale Ausländerrecht einen Nachzug zu Geschwistern nicht vorsieht, steht dem nicht entgegen, weil es hierbei nicht um den unzumutbaren Verlust einer erheblichen Rechts handelt, sondern unter Bewertung des Rechtsverlustes nach nationalen und europäischen Grundrechten gegebenenfalls hinnehmbar ist. Eine Verletzung des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK ist nach den Darlegungen unter 3a) nicht gegeben. Wie im Schriftsatz vom 15. März 2021 von Antragstellerseite dargelegt, besteht im Falle einer Anerkennung des Antragstellers in Griechenland auch die Möglichkeit des besuchsweisen Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland, so dass ein persönlicher Kontakt zwischen den Geschwistern nicht gänzlich ausgeschlossen wird.
Im Hinblick auf den Anordnungsgrund ist der Antragsteller auch als Volljähriger und nicht als Minderjähriger zu behandeln. Insoweit ist der maßgebliche Zeitpunkt nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG derjenige der Entscheidung. Der abweichende, sich aus Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ergebenden Zeitpunkt, ist lediglich für den Anordnungsanspruch entscheidend, nicht aber für die nicht europarechtlich festgelegte Rechtfrage des Anordnungsgrundes.
Den Verfahrensakten ist hier auch nicht zu entnehmen, dass eine Entscheidung über den Asylantrag des Antragstellers in Griechenland in Kürze erfolgen wird und damit ein Klageverfahren zu spät käme. Zwar hat das Gericht in seinen bisherigen Entscheidungen (vgl. auch hier VG Ansbach, B.v. 13.8.2020 – AN 17 E 20.50216; B.v. 24.8.2020 – AN 17 E 20.50232; B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – alle juris) die Gefahr der jederzeitigen Entscheidung der griechischen Behörden genügen lassen, jedoch zeigt die Erfahrung, dass eine Entscheidung der griechischen Behörden mitunter lange auf sich warten lässt. Der Antragsteller stellte bereits am 30. Januar 2020 seinen Asylantrag, über den bislang noch nicht entschieden ist. Dass ein Anhörungstermin zwischenzeitlich terminiert wurde oder nunmehr mit einer kurzfristigen Entscheidung zu rechnen ist, ist nicht ersichtlich. Alles in allem ist die Eilbedürftigkeit damit hier nicht glaubhaft gemacht (vgl. für volljährige Antragsteller auch: VG Ansbach, B.v. 22.2.2021 – AN 17 E 21.50020; B.v. 10.3.2021 – AN 17 E 21.50060 – jeweils juris).
4. Die Kostenentscheidung des erfolglosen Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
5. Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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