Europarecht

Dublin-Verfahren (Italien)

Aktenzeichen  M 22 S 15.50561

Datum:
16.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 133220
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Die Verbescheidung eines Asylantrags nach § 27a AsylG, die erst mehrere Monate nach Ablauf der Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit für das Asylverfahren auf die Bundesrepublik Deutschland erfolgt, ist unzulässig.  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.05.2015 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein nigerianischer Staatsangehöriger, wurde am …2014 in einem aus Österreich kommenden Zug kontrolliert, wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise vorläufig festgenommen und in der Folge in einem Hotel in … bis zu einer beabsichtigten Zurückschiebung untergebracht.
Nachdem eine Eurodac-Abfrage mehrere Treffer u.a. für Italien ergeben hatte, wandte sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 27.06.2014 an die italienische Dublin Unit mit einem Gesuch um Wiederaufnahme des Antragstellers. Mit Schreiben vom 03.07.2014 erklärte sich die Dublin Unit dazu bereit, wobei als Rechtsgrundlage auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-Verordnung Bezug genommen wurde.
Mit Bescheid vom 14.07.2014 – der Antragsteller hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Asylantrag in Deutschland gestellt – ordnete das Bundesamt daraufhin gemäß § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG (jetzt: AsylG) die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an.
Soweit ersichtlich hat der Antragsteller den Bescheid nicht erhalten. Am 16.07.2014 erfolgte ein Zustellversuch (Einwurf der Sendung in den Geschäftsbriefkasten des Hotels, nachdem der Antragsteller vor Ort nicht angetroffen wurde). Wie sich aus einem Vermerk in der Akte dieses Verfahrens (5770516 – 232) ergibt, soll der Antragsteller aber bereits seit dem 11.07.2014 untergetaucht gewesen sein.
Tatsächlich hatte sich der Antragsteller ausweislich der Angaben in der weiteren Verfahrensakte … mittlerweile nach München begeben, wo er sich am 14.07.2014 als Asylsuchender meldete und am 23.07.2014 einen Asylantrag stellte. Bei der Prüfung dieses Antrags ist zunächst offenbar nicht aufgefallen, dass gegenüber dem Antragsteller bereits eine Abschiebungsanordnung verfügt worden war. Dies wurde erst bemerkt, nachdem die italienische Dublin Unit zu einem weiteren Wiederaufnahmegesuch mit Schreiben 23.09.2014 mitteilte, das neuerliche Gesuch könne nicht akzeptiert werden, da die frühere Zusage noch wirksam sei.
Mit Bescheid vom 28.05.2015 hob das Bundesamt die Abschiebungsanordnung vom 14.07.2014 auf (Tenor Nr. 1), lehnte den Asylantrag als unzulässig ab (Tenor Nr. 2) und ordnete erneut die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Tenor Nr. 3).
In den Bescheidsgründen wurde ausgeführt, der Bescheid vom 14.07.2014 sei nach § 48 Abs. 1 VwVfG zurückzunehmen gewesen. Der Asylantrag sei unzulässig, da Italien für die Behandlung des Antrags zuständig sei (§ 27a AsylVfG). Die Abschiebungsanordnung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
Am 09.06.2015 ließ der Antragsteller gegen den ihm am 02.06.2015 zugestellten Bescheid Klage erheben.
Weiter beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, es sei ein inhaltsgleicher Bescheid erlassen worden, ohne zu berücksichtigen, dass zwischenzeitlich die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei. Eine Begründung für dieses Vorgehen sei nicht gegeben worden.
Des Weiteren wäre vor einer Rückschiebung nach Italien eine konkrete Unterbringungsmöglichkeit zu fordern, da in Italien offensichtlich systembedingte Mängel im Aufnahmeverfahren bestünden. Nur mittels eines Abfrageverfahrens könne eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person sichergestellt werden.
Die Antragsgegnerin hat sich im Verfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 28.05.2015 (Nr. 3 des Bescheidtenors) ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und den Antragsteller auch in seinen Rechten verletzt, die Klage in der Hauptsache also Erfolg haben wird. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt angesichts dessen zugunsten des Antragstellers aus.
Gemäß § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden, hat das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat anzuordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Voraussetzungen dieser Bestimmungen, auf die das Bundesamt seine Entscheidung gestützt hat, dürften hier aber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag nicht mehr vorgelegen haben. Nach Aktenlage spricht alles dafür, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens bereits mehrere Monate vor Bescheidserlass auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist und sich der Antragsteller hierauf auch berufen kann.
Die Frage der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylgesuchs beurteilt sich vorliegend nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in den Dublin-Verordnungen. Derzeit gilt die Dublin III-Verordnung vom 26.06.2013, mit der die Dublin II-Verordnung vom 18.02.2003 abgelöst wurde. Die Dublin II-Verordnung ist allerdings für Anträge auf internationalen Schutz, die vor dem 01.01.2014 gestellt wurden (was hinsichtlich des in Italien vom Antragsteller betriebenen Verfahrens der Fall sein dürfte), weiter anwendbar, soweit es um die Bestimmung des zuständigen Staates geht. Für Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme gelten dagegen auch bei einer (Erst-)Antragstellung vor dem 01.01.2014 die Bestimmungen der Dublin III-Verordnung (Art. 49 Unterabsatz 2 Dublin III-Verordnung).
Ausweislich der Angaben im Antwortschreiben der italienischen Dublin Unit vom 03.07.2014 zum ersten Wiederaufnahmegesuch stellt sich die Situation hier so dar, dass der Antragsteller in Italien einen (möglicherweise weiteren) Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht entschieden wurde. Demnach wäre von einer Zuständigkeit Italiens, allerdings wohl nicht nach dem von der Dublin Unit in Bezug genommen Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-Verordnung, sondern nach der dieselbe Fallgruppe regelnden Vorgängerbestimmung des Art. 16 Abs. 1 Buchst. c Dublin II-Verordnung, auszugehen gewesen.
Was die Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedsstaat angeht (insoweit gilt auch für Altfälle die Dublin III-Verordnung), bestimmt Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-Verordnung, dass diese spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, erfolgen muss.
Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedsstaat über (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung). Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Frist auf ein Jahr bzw. höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung), was allerdings eine entsprechende Abstimmung mit dem ersuchten Mitgliedsstaat voraussetzt.
Im vorliegenden Fall hat die italienische Dublin Unit dem Gesuch um Wiederaufnahme mit Schreiben vom 03.07.2014 zugestimmt. Das weitere Gesuch vom 11.09.2014 ist unbeachtlich, da dieses von der Dublin Unit unter Hinweis auf die Zustimmung zum ersten Gesuch zurückgewiesen wurde. Des Weiteren ist hier auch anzumerken, dass gegen die erste Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 14.07.2014 Rechtsmittel nicht ergriffen wurden (zweifelhaft ist im Übrigen, ob der Bescheid überhaupt wirksam bekannt gegeben wurde).
Die Überstellungsfrist von sechs Monaten (eine Verlängerung der Überstellungsfrist wurde nicht vereinbart) begann damit hier am 03.07.2014 zu laufen und diese endete am 03.01.2015, 24:00 Uhr (zur Fristberechnung siehe Art. 42 Dublin III-Verordnung).
Die Zuständigkeit für die Prüfung des (weiteren) Asylgesuchs ist damit zum 04.01.2015 auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
Der Antragsteller dürfte sich auf den Zuständigkeitsübergang auch berufen können. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn feststünde, dass Italien trotz des Fristablaufs weiterhin bereit wäre, den Antragsteller im Vollzug der Dublinregelungen wieder aufzunehmen (vgl. hierzu OVG NRW, U.v. 16.9.2015 – 13 A 800/15.A – juris m.w.N. – zu den Vorgängerregelungen in der Dublin II-Verordnung). Dafür, dass dies der Fall wäre, ist aber nichts ersichtlich.
Im Ergebnis ist danach davon auszugehen, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf sachliche Behandlung seines Asylantrags in Deutschland zusteht, eine Verbescheidung des Asylantrags nach § 27a AsylG, die erst mehrere Monate nach Ablauf der Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit erfolgte, unzulässig war und dementsprechend gegen den Antragsteller auch keine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG hätte verfügt werden dürfen.
Da der Antrag bereits aus diesem Grunde Erfolg hat, bedarf es keines Eingehens mehr auf die vom Antragsteller weiter angesprochene Problematik des Vorliegens systemischer Mängel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).


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