Europarecht

Dublin-Verfahren (Polen)

Aktenzeichen  M 1 K 17.50759

Datum:
3.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 5875
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 17 Abs. 1 S. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2
GRCh Art. 3

 

Leitsatz

Asylsuchende haben im Dublin-System grundsätzlich keinen Anspruch auf weiteren Verbleib in einem bestimmten Staat, um dort eine notwendige medizinische oder psychologische Behandlung fortführen zu können; ausnahmsweise können in einem besonders schweren Fall zwingende humanitäre Gründe gegen eine unfreiwillige Ortsveränderung (removal) sprechen, sodass eine Ermessensreduzierung auf Null eine grundrechtsbedingte Pflicht zum Selbsteintritt vermittelt.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gem. § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da beide Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben.
Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid vom 6. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Das Bundesamt hat zu Unrecht seine Zuständigkeit abgelehnt.
Zwar ist Polen im vorliegenden Fall für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß Art. 3 Dublin-III-VO grundsätzlich zuständig, da der Antragsteller dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wie sich aus seinem EURODAC-Treffer der Kategorie 1 ergibt.
Ob eine Überstellung nach Polen aufgrund systemischer Mängel des Asylsystems in Polen gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist (vgl. zu den Anforderungen an systemische Mängel: EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – juris; B.v. 18.6.2013 – 53852/11 – juris; BVerwG, B.v.19.03.2014 – 10 B 6.14 – juris), kann hier hoffen bleiben (verneinend u.a. BayVGH, U.v. 19.1.2016 – 11 B 15.50130 – juris; VG München, B.v. 6.4.2017 – M 9 S 17.50799 – juris m.w.N.).
Denn die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist jedenfalls im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Aufgrund der gesamten Vorgeschichte und der psychischen Konstitution des Klägers hat er einen Anspruch darauf, dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft wird. Im Hinblick auf den Charakter des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO als Ermessensnorm kann ein Kläger zwar allenfalls ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 40 VwVfG geltend machen (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22). Bei der Anwendung dieser fakultativen Bestimmung steht den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen zu (EuGH, U.v. 10.12.2013 – C-394/12 – Rn. 57). Das Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre, weil beispielsweise eine Überstellung zu einer in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnden Grundrechtsverletzung führen würde (BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22). Die Vorschriften der Dublin Ill-VO für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats dienen zwar prinzipiell allein der zügigen Bearbeitung von Asylanträgen und sind als organisatorische Regelungen nicht individualschützend. Wenn sie aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen (BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 23).
Eine solche Fallkonstellation liegt hier aufgrund der schweren und fortwährenden psychischen Erkrankung des Klägers vor. Aus dem Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 GRCh ergibt sich die Pflicht zum Selbsteintritt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die in der GRCh verankerten Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung der Dublin-Vorschriften zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 – NVwZ-RR 2013, 735 Rn. 50 ff.; zum Zusammenhang von Grundrechtsschutz und Individualschutz vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris). Außerdem ist zu bedenken, dass nach Art. 19 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Pflicht besteht, Antragstellern mit schweren psychischen Störungen die erforderliche medizinische Versorgung und psychologische Betreuung zu gewähren. Nach Art. 21 dieser Richtlinie ist ferner die spezifische Situation von Personen mit psychischen Störungen zu berücksichtigen. Gemäß den Befunden vom … Juni 2017 und vom … August 2017 leidet der Kläger u.a. an einer (mittel- bis) schwergradigen depressiven Episode mit wiederholt akuter, jedenfalls latenter Suizidalität und einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Hinzu kommen seine Borderline Persönlichkeitsstörung, seine Suchterkrankung (Polytoxikomanie) sowie Hepatitis B und C. Nach der Diagnose der Fachärztin ist bei seiner Rückkehr nach Polen krankheitsbedingt mit einer starken Dekompensation und Verschlechterung sowie massiven Gefährdung seines Gesundheitszustandes zu rechnen. Sein selbstverletzendes Verhalten mit durchgehend latenter Suizidalität kann hiernach zu lebensbedrohlichen Verletzungen führen. Bei einer Verschlechterung des psychischen Zustandes des Klägers ist laut dem Gutachten der Fachärztin mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Rückfall im Hinblick auf die Suchtmittelerkrankung des Klägers auszugehen. Eine erneute weitere Verschlimmerung seines Gesundheitszustands im Falle einer Abschiebung nach Polen oder in die Ukraine, besonders mit unkontrollierten selbstverletzenden suizidalen Handlungen ist hiernach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Gemäß dem fachärztlichen Befund ist eine langfristige Behandlung von einer Dauer von mindestens zwei Jahren bei gleichzeitiger Stabilisierung der Lebenssituation erforderlich.
Bei derartigem Grundrechtsbezug, der sich in einer schwerwiegenden Krankheit äußert, ist eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zum Selbsteintritt anzunehmen. Das ergibt sich aus den Wertungen der Dublin III-VO selbst, die sich nicht nur auf rein verfahrenstechnische Regelungen beschränkt. Die gesonderte Erwähnung von Personen, die wegen Krankheit auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen sind (Art. 16 Dublin III-VO) zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Ermessensausübung dort einschränken will, wo Grundrechte berührt sind. In derartigen Fällen besteht grundrechtsbedingt die Pflicht zum Selbsteintritt, welche ein subjektives Recht vermittelt (BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 25 m.w.N.).
Die Annahme des Selbsteintritts steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK. Danach besteht grundsätzlich kein Anspruch auf weiteren Verbleib in einem bestimmten Staat, um dort eine notwendige medizinische oder psychologische Behandlung fortführen zu können, sofern nicht ausnahmsweise zwingende humanitäre Gründe gegen eine unfreiwillige Ortsveränderung („removal“) sprechen (EGMR, U.v. 4.6.2013 – Nr. 6198/12 – Rn. 63, 67). Dieser Vorbehalt kommt im vorliegenden Fall zum Tragen. Gemäß den vorliegenden fachärztlichen Attesten ist damit zu rechnen, dass im Fall der Abschiebung das labile seelische Gleichgewicht des Klägers in riskanter Weise aus den Fugen geraten würde. Eine solche Maßnahme würde eine Beeinträchtigung der geistigen und körperlichen Gesundheit bewirken und wäre somit ein Eingriff in die geistige und körperliche Unversehrtheit (vgl. auch BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 25).
Zwar ist maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung maßgeblich abzustellen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) und datiert das zuletzt vorgelegte ärztliche Attest auf den … August 2017. Jedoch konnte von der Anforderung eines Attests neueren Datums abgesehen werden, da das Gericht aufgrund der gesamten Vorgeschichte des Klägers, den Ausführungen der Ärztin (latente Suizidalität, erforderlicher Behandlungsdauer von mindestens zwei Jahren usw.) davon überzeugt ist, dass auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Ermessen bezüglich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auf Null reduziert ist. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die Ausführungen der Fachärztin bzgl. des Zustands des Klägers sowie der Dauer der Behandlungsbedürftigkeit des Klägers unzutreffend sind.
2. Aufgrund der dargelegten Erkrankung des Klägers und der hiermit einhergehenden Reiseunfähigkeit liegt zugunsten des Klägers ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, so dass die Klage gegen Nr. 2 des Bescheids vom 6. März 2017 ebenfalls begründet ist.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 und AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Insofern hat der Gesetzgeber im Wesentlichen die obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. u.a. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251; U.v. 11.9.2007 – 10 C 17.07 – juris Rn. 15) nachvollzogen, wonach zur Substantiierung des Vorbringens einer Erkrankung (hier: angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes und der vielfältigen Symptomatik psychischer Störungen) regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attestes gehört.
Vor dem so umrissenen rechtlichen Hintergrund ist die gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG bestehende gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit des Antragstellers widerlegt. Das vorgelegte psychiatrische Gutachten vom … August 2017 genügt den gesetzlichen Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Aus dem Gutachten ergibt sich ein ernsthaftes Risiko, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtert.
3. Auch die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids ist aus den unter 1. und 2. dargelegten Gründen rechtswidrig. Insbesondere sind im Rahmen der Abschiebungsanordnung im Hinblick darauf, dass § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG verlangt, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann – auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, wie sie in § 60a Abs. 2 AufenthG niedergelegt sind, zu prüfen (BayVGH B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris Rn. 4; B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 4).
Gleiches gilt für Nr. 4 des Bescheids, da das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG zwingend eine (rechtmäßige) Abschiebung voraussetzt.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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