Europarecht

Dublin-Verfahren, Überstellung von Mutter und Kind nach Italien, unzulässiger Asylantrag, keine systematischen Mängel im italienischen Asylsystem, fehlender Heiratsnachweis, kein familiärer Zusammenhalt

Aktenzeichen  B 8 K 18.50681

Datum:
29.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 46002
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Klägerinnen tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Soweit die Klagen zulässig sind, haben sie keinen Erfolg.
1. Die Klageanträge sind insoweit unzulässig, als über die Anfechtung des Bescheides hinaus „Verpflichtungsanträge“ auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bzw. ein unbedingter Verpflichtungsantrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten, gestellt bzw. aufrechterhalten wurden. Geht es – wie vorliegend – um die Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG, ist die Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen den Bescheid des Bundesamts vom 03.05.2017 (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris; BVerwG, U.v. 01.06.2017 – 1 C 9/17 – juris). Eine isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelung führt zur weiteren Prüfung des Antrags des Klägers durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel, denn damit wird das Verwaltungsverfahren in den Stand zurückversetzt, in dem es sich vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen befunden hat. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 Asylgesetz (AsylG) gesetzlich verpflichtet, das Verfahren weiterzuführen.
2. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) sind die Ablehnung des Asylantrags im Bescheid vom …2018 als unzulässig (Ziffer 1), die Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen (Ziffer 2), und die unter Ziffer 3 angeordnete Abschiebung nach Italien rechtlich nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
2.1 Der Asylantrag ist gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG in Deutschland unzulässig.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG ist ein Asylantrag in Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat – hier Italien – nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Diese Voraussetzung ist gegeben, weil die Klägerinnen erstmalig in Italien in die Europäische Union Asylanträge gestellt haben und Italien gemäß Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO zur Wiederaufnahme der Klägerinnen verpflichtet ist.
2.1.1 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 2, Art. 7 i.V.m. Art. 9 Dublin III-VO. Danach ist der Mitgliedsstaat für die Asylprüfung zuständig, in dem ein Familienangehöriger – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat – wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem Mitgliedsstaat aufenthaltsberechtigt ist, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich äußern. Voraussetzung für die Anknüpfung ist jedoch ein entsprechender Wille des Antragstellers sowie des Familienangehörigen, der aus Gründen der Rechtsklarheit schriftlich kundzutun ist (Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, Rn. 416, beck-online). Die genannten Voraussetzungen müssen in der Person des Familienangehörigen zu dem nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedsstaat stellt, vorliegen (BeckOK MigR/Thomann, 8. Ed. 01.05.2021 Rn. 4, Dublin III-VO Art. 9 Rn. 4).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Dass die Klägerin zu 1 Ehefrau des in Bezug genommenen Herrn … ist, wurde nicht dargelegt. Soweit eine „Heiratsurkunde“ vorgelegt worden ist, ist diese in weiten Teilen – insbesondere auch für den Dolmetscher – nicht entzifferbar und deshalb als Beweismittel untauglich. Ein Datum der Heirat ist nicht erkennbar. Die Urkunde weist zudem weder eine Urkundennummer noch ein Datum der Ausstellung aus. Fotos der Brautleute fehlen. Da mangels Eintragung ins Zivilregister in Eritrea auch nachträglich kein Nachweis der Eheschließung zu erbringen ist, kann der Entscheidung keine Eheschließung zugrunde gelegt werden.
Zwar ist inzwischen die Vaterschaft für die Klägerin zu 2 (Art. 2g Dublin III-VO) festgestellt, doch wurde weder zum Zeitpunkt der Asylantragstellung der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland noch in der darauffolgenden Zeit trotz ausreichender Zeitdauer vom Kindsvater als Familienangehörigen weder schriftlich noch mündlich der Wunsch geäußert, dass die Beklagte für die Kläger zuständig sein soll.
Ein familiärer Zusammenhalt im Sinne von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, der einer Überstellung der Klägerinnen nach Italien entgegenstehen könnte, ist ebenfalls nicht festzustellen. Die Personensorge, essentieller Bestandteil des von Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Rechts der Eltern auf Pflege und Erziehung des eigenen Kindes, umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
Sie begründen vorliegend jedoch keine individuellen, außergewöhnlichen humanitären Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-VO notwendig machen. Das Selbsteintrittsrecht kommt nur hinsichtlich des Grund- und Menschenrechtes auf Familie der Antragstellerinnen und seiner Tochter (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) in Betracht.
Diesbezüglich ist auszuführen: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z.B. B.v. 10.05.2008 – 2 BvR 588/08 – juris) entfaltet Art. 6 GG nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen, sondern entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. auch BVerfG, B.v. 09.01.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris; BayVGH, B.v. 24.11.2008 – 10 CE 08.3014 – juris; BayVGH, B.v. 17.05.2013 – 10 CE 13.1065 – juris, VG München B.v. 23.10.2013 – M 10 E 13.3727 – juris). Erforderlich ist eine durch Tatsachen belegte Nähebeziehung, die verdeutlicht, dass eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung hinreichend sicher zu erwarten ist. (vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 60a AufenthG Rn. 24). Eine formale Vaterschaftsanerkennung kann allein keinen Abschiebungsschutz begründen (vgl. VG München, G.v. 29.02.2016 – M 12 K 15.50784 – juris Rn. 47). Die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind ist getragen von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes. Bei der Würdigung der Eltern-Kind-Beziehung im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, B.v. 22.05.2018 – 2 BvR 941/18 – juris; VG München B.v. 06.02.2019 – 10 S7 19.50049, BeckRS 2019, 5145 Rn. 20, 21, beck-online).
Da der Kindsvater jedoch in keiner Weise den Wunsch zeigte, mit den Klägerinnen einen gemeinsamen Wohnsitz zu begründen, kann weder von einem Aufbau noch von einer Kontinuität emotionaler Bindungen die Rede sein. Vielmehr lehnte er solche ab. Darüber hinaus erhielten die Klägerinnen bereits am vorherigen Aufenthaltsort, dem Ankerzentrum, seit ihrem dortigen Einzug keinen einzigen Besuch vom Kindsvater (vgl. Schreiben der Regierung von …, Zentrale Ausländerbehörde, vom …2019 mit Anlage (Auswertung der Besucherlisten …, vgl. Bl. 51/52 Gerichtsakte). Dies spricht eindeutig gegen eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kindsvater und beiden Klägerinnen und einer tatsächlichen Anteilnahme am Leben und der Anteilnahme des Kindsvaters am Leben seiner Tochter, der Klägerin zu 2. Eine notwendige Nähebeziehung, die verdeutlicht, dass eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung hinreichend sicher zu erwarten, ist nicht erkennbar.
Auch die Angaben der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung überzeugen das Gericht nicht von einer tatsächlichen Anteilnahme des Kindsvaters am Leben und Aufwachsen des Kindes.
Ihre anfänglichen Angaben in der mündlichen Verhandlung, der Kindsvater besuche sie und ihr Kind jeden Monat, hielt sie nach Vorhalt des Gerichts nicht aufrecht: den Erkenntnissen der Ausländerbehörde zufolge zeige der Kindsvater kein Interesse an seiner Familie; so habe er kein einziges Mal Mutter und Kind besucht, solange diese zunächst in … wohnten. Auch Besuche in der neuen Unterkunft in … seien nicht festgestellt worden. Auch für die Klägerin zu 1 sei kein besonderes Interesse an einem gemeinsamen Leben bzw. einer gemeinsamen Sorge und Erziehung für die Klägerin zu 2 festzustellen.
Die Klägerin zu 1 bestätigte daraufhin, dass weder der Kindsvater noch sie ein Interesse an einem Zusammenleben gehabt hätten, nachdem sie nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erkennen habe müssen, dass dieser eine andere Frau habe. Auch ihre anfänglichen Angaben in der mündlichen Verhandlung, der Kindsvater besuche zumindest seine Tochter regelmäßig, revidierte sie in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass der Kindsvater sie jedenfalls nicht in ihrem Zimmer besuche und noch etwas später, dass sie ihm die Klägerin zu 2 nach außen bringe. Das nachträgliche, immer wieder erfolgte Korrigieren der eigenen Angaben nach Vorhalt des Gerichts bzw. kritisches Nachfragen des Gerichts lassen erkennen, dass die Angaben der Klägerin zu 1 eher von den Erfolgsaussichten ihrer Klage denn von der Realität geleitet werden. Die Erkenntnisse der Ausländerbehörde bestätigen diese Angaben im Übrigen ebenfalls nicht. Einen Schluss auf eine tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern lässt diese Erkenntnislage nicht zu.
Dass die Klägerin zu 2 sogar einmal beim Kindsvater in der Asylbewerberunterkunft übernachtet haben soll, wie die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung angibt, wäre nach Überzeugung des Gerichts aufgefallen. Selbst wenn deren Wahrheitsgehalt unterstellt wird, ließe dies allein keine familiäre Verbundenheit zwischen Kind und Kindsvater erkennen.
Diese Erkenntnisse sprechen gegen die Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kindsvater und beiden Klägerinnen und einer tatsächlichen Anteilnahme am Leben am Leben seiner Tochter sowie der Klägerin zu 2. Eine notwendige Nähebeziehung, die verdeutlicht, dass eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung hinreichend sicher zu erwarten, ist nicht erkennbar.
2.1.2
Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht durch Ablauf der Überstellungsfrist wieder entfallen.
Die Überstellungsfrist beträgt nach Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO zwar grundsätzlich sechs Monate ab dem Tag der Annahme des Auf- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedsstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Da mit der Entscheidung des Gerichts vom 14.09.2018 (Az. B 8 S 18.50881) die aufschiebende Wirkung angeordnet worden ist, läuft gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO keine Überstellungsfrist. Hierüber hat die Beklagte den zuständigen Mitgliedsstaat Italien auch in Kenntnis gesetzt (vgl. Schreiben der Beklagten an das Innenministerium Italiens vom 30.01.2019, Bl. 118 Gerichtsakte).
2.1.3
Auch gemäß Art. 3 Abs. 2 Sätze 2 und 3 Dublin III-VO ist Deutschland nicht als der zuständige Mitgliedstaat anzusehen. Insbesondere liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor, die die Zuständigkeit der Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO begründen oder möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO sprechen.
Es gibt keine wesentlichen Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-GR-Charta mit sich bringen. Dies gilt auch für Familien mit minderjährigen Kindern, wie den Klägerinnen.
Systemische Mängel des italienischen Asylverfahrens liegen nach Auffassung des Gerichts nicht vor. In Italien existiert nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, vom 11.11.2020, Version 2, ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (vgl. a.a.O. S. 5; vgl. auch Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 02.04.2020 sowie der Bericht des Bundesamtes vom 01.02.2021).
Nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse ist nicht davon auszugehen, dass den Klägerinnen bei einer Überstellung nach Italien eine menschenunwürdige Behandlung im vorgenannten Sinne droht (vgl. VGH Bayern, B.v. 10.11.2021 – 14 ZB 21.50043 -; B.v. 09.01.2019 – 10 CE 19.67 – asyLnet: M26958; VG München, B.v. 09.08.2018 – 26 S 18.52225 – juris, VG Bayreuth, B.v. 02.10.2018 – 8 S 18.50704; VG Augsburg, U.v. 22.01.2018 – Au 5 K 17.50400 – juris). Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials (vgl. Ausführungen des Bundesamtes vom 01.02.2021; Bundesamt a.a.O.; österreichisches Bundesamt a.a.O.) sowie der Bewertung durch verschiedene Obergerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (s. hierzu EGMR, U.v. 23.03.2021 – 46595/19 – in Milo; OVG Rheinland-Pfalz, B.v. 09.04.2021 – 7 A 11654/20 – in Milo; OVG NW, U.v. 18.07.2016 – 13 A 1859/14.A – juris, m.w.N., U.v. 07.07.2016 – 13 A 2302/15.A – juris; OVG SH, U.v. 04.04.2018 – 10 LB 96/17 – juris).
Den Klägerinnen droht nach den Auskünften nicht nur keine Obdachlosigkeit; vielmehr ist nach aktuellen Erkenntnissen die familiengerechte Unterbringung auch angemessen (vgl. Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O. S. 1 Zusammenfassung).
Auch der Vorsitzende des italienischen Flüchtlingsrats (CIR) hat angegeben, dass die Gefahr einer möglichen Obdachlosigkeit einer zurückgekehrten Familie zu keinem Zeitpunkt gegeben sei, obwohl er im Gespräch das Dublin-System als Ganzes kritisierte. Gleichwohl habe das Salvini-Dekret zu Reduzierungen in allen Bereichen geführt. Regionale Unterschiede würden dadurch aus Sicht des CIR nur mehr verstärkt.
Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber in der Vergangenheit festgestellten Mängel und Defizite sind weder für sich genommen noch insgesamt als derart gravierend zu bewerten, so dass ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen „Dublin-Rückkehrer“ nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad nahelegen würde (vgl. OVG NRW, U.v. 18.07.2016 a.a.O). Es ist im Grundsatz davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, völker- und unionsrechtskonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das trotz einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. In Italien bestehen ausdifferenzierte Strukturen zur Aufnahme von Asylbewerbern, auch speziell für „Dublin-Rückkehrer“. Diese befinden sich in staatlicher, in kommunaler, kirchlicher oder privater Trägerschaft und werden zum Teil zentral koordiniert (vgl. VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris, m.w.N.). Das italienische Recht gewährt den Asylsuchenden ab dem Zeitpunkt des Asylantrags Zugang zu Unterbringungsmöglichkeiten. In der Praxis wird zwar der Zugang zu den Aufnahmezentren häufig erst von der formellen Registrierung des Asylantrags abhängig gemacht, so dass hierdurch eine Zeitspanne ohne Unterbringung entstehen kann. Die Behörden sind jedoch darum bemüht, diese zu verringern (vgl. VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 a.a.O.). Auch „Dublin-Rückkehrer“ haben bei ihrer Ankunft in Italien nach Kapazität sofort Zugang zu bestimmten Unterkünften. Insbesondere wird Dublin-Rückkehrern kein Unterkunftsplatz nach Rückkehr verwehrt (vgl. Bundesamt vom 02.04.2020 a.a.O. S. 1, S. 5).
Sinkende Anlandungszahlen und eine Erhöhung der Asylentscheidungen in der ersten Instanz haben im Übrigen zu einer deutlichen, zahlenmäßigen Entlastung der Aufnahmeeinrichtungen in Italien geführt (Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O. S. 8). Bei der Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern kann es durchaus regionale Unterschiede geben, die auch mit der Größe der Aufnahmeeinrichtung zusammenhängen können. Beispielsweise werden Familien in Mailand einzeln in einem Zimmer untergebracht. Nicht alle Zimmer verfügen über Bäder. Der Betreiber der Einrichtung achtet darauf, dass vulnerable Fälle und Familien ein Zimmer mit angeschlossenem Bad erhielten (vgl. Informationen zu CAS Casa Suraya Mailand vom 28.01.2020, Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O.). Um Probleme hinsichtlich einer Unterkunft zu vermeiden, verwies beispielsweise die Leiterin der Grenzpolizei auf die festen Uhrzeiten für Überstellungen von Familien und vulnerablen Fällen. Eine Überstellung dieser Fälle werde auch nur akzeptiert werden, wenn sie rechtzeitig angekündigt worden sei. Sollte eine Überstellung mit erheblicher Verspätung erfolgen oder es zu Komplikationen kommen, kann die Grenzpolizei auf CAS-Einrichtungen in Mailand zurückgreifen, in welchen eine Familie vorrübergehend untergebracht werden kann (Lage im Bereich des Flughafens MailandMalpensa v. 28.01.2020, Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O.). In allen Fällen besteht die Pflicht, die Einheit der Familie in geeigneten Einrichtungen zu gewährleisten (vgl. Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O. S 6).
Insgesamt ist die Sorge, dass eine Familie mit minderjährigen Kindern nach ihrer Dublin-Rückkehr nicht unmittelbar angemessen untergebracht wird, nach den vorliegenden Informationen und den gesammelten Eindrücken, die das Bundesamt gesammelt hat, unbegründet. Durch den deutlichen Rückgang der Anlandungszahlen und die rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen zur Beschleunigung des Asylverfahrens ist eine Aufnahmesituation in Italien eingetreten, die durch ein zunehmend strukturiertes und auch auf einen Ausgleich zwischen den italienischen Regionen gerichtetes System charakterisiert wird. Hierzu tragen auch die mittlerweile immer stärker greifenden Unterstützungsmaßnahmen der EU-Kommission über das Europäische Asyl Unterstützungsbüro (EASO) in Italien bei (vgl. Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O. S. 8 und S. 51).
Es ist auch gewährleistet, dass die Klägerinnen nach ihrer Rückkehr nach Italien ihr Asylverfahren weiterbetreiben können (s. OVG NRW, U.v. 19.05.2016 – 13A 516/14.A – juris).
Die Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern entspricht nach der Registrierung in das staatliche System der Versorgung von italienischen Staatsangehörigen. Die vorhandenen bürokratischen Hindernisse bei der Registrierung lassen sich mit Hilfe der Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen überwinden. Diese Hilfestellung gehört zu deren vertraglichen Aufgaben. Bei allen Einrichtungen, welche im Rahmen der Recherchen zu dem Bericht des Bundesamts vom 02.04.2020 (a.a.O.) besucht wurden, haben die Betreiber geeignete und auf die jeweiligen regionalen Bedingungen angepasste Lösungen für die Registrierung der Migranten in das italienische Gesundheitssystem gefunden (Bundesamt v. 02.04.2020 a.a.O. S. 15).
2.1.4
Eine konkrete, einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden, dass die Klägerinnen in Italien als Familie zusammenbleiben können und die Klägerin zu 2 in einer ihrem Alter adäquaten Art und Weise behandelt wird, musste die Beklagte nicht einholen. Die ein solches Erfordernis begründende Tarakhel-​Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezieht sich vorrangig auf Neugeborene und Kleinkinder (EGMR, Urt.v. 04.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127; vgl. hierzu BVerfG, Entsch.v. 27.05.2015 – 2 BvR 177/15 – juris). Die Klägerin zu 2 ist ausweislich der Behördenakte am 27.07.2015 geboren und mithin bereits 6 Jahre alt. Zudem basiert die genannte EGMR-Rechtsprechung auf den Verhältnissen in Italien zur damaligen Zeit, zu der u.a. eine viel höhere Zahl Schutzsuchender zu verzeichnen war. Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidungen des EGMR vom 23.03.2021 (a.a.O.); des Verwaltungsgerichts Trier vom 05.04.2019 – 7 L 1263/19.TR – juris, des OVG Rheinland-Pfalz, B.v. 09.04.2021 (a.a.O.); Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 04.04.2019 – 15 L 3696/18 A. – juris und des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 04.03.2019 – 9 AE 5844/18 – juris, welche im Hinblick auf die aktuelle Lage in Italien eine individuelle Garantieerklärung Italiens vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nicht für erforderlich halten. Den diesbezüglichen Einschätzungen schließt sich das Gericht vollumfänglich an, zumal auch nach den aktuellen Erkenntnissen des Bundesamtes vom 02.04.2020 a.a.O. und der Auskunft des Bundesamtes vom 01.02.2021 a.a.O. eine familiengerechte Unterbringung gewährleistet ist. Darüber hinaus hat das italienische Innenministerium, Dublin Einheit, in einem Rundbrief an alle Kollegen zugesichert, dass im Rahmen des neuen Systems Asylbewerber im SAI-System untergebracht werden können, einschließlich Familiengruppen, um den Schutz eines so grundlegenden Rechts wie die Einheit der Familie zu gewährleisten. Diese speziellen Zentren würden auch Dublin-Familiengruppen mit Minderjährigen aufnehmen, die aus anderen Mitgliedstaaten gemäß dem Tarakhel-Urteil aufgenommen werden.
3. Aus den oben genannten Erwägungen erwächst den Klägerinnen auch kein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 2 AufenthG hinsichtlich Italiens.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Hieraus folgen neben Unterlassungsauch staatliche Schutzpflichten. Eine Verletzung von Schutzpflichten kommt in Betracht, wenn sich die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten im Zielstaat allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen würden. Die hinsichtlich der allgemeinen Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigen bestehenden Gewährleistungspflichten hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Einzelnen konkretisiert. Demnach kann die Verantwortlichkeit eines Staates aus Art. 3 EMRK begründet sein, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, Urteil vom 04.11.2014, Az. 29217/12 (Tarakhel / Schweiz), juris). Anhand der oben ausgeführten Erwägungen sind Anhaltspunkte für entsprechende „systemische Mängel“ für Asylbewerber in Italien nicht anzunehmen.
Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben