Europarecht

Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland: Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  W 8 K 20.50244

Datum:
9.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30648
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 1, § 43 Abs. 2 S. 1, § 101 Abs. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 27 Abs. 4, Art. 29 Abs. 1
VwVfG § 78 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Februar 2020 aufzuheben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die im Einverständnis mit den Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet.
Das Klagebegehren ist bei verständiger Würdigung (§ 88 VwGO) im Interesse des Klägers sachgerecht dahin auszulegen, dass er nicht im Wege des Dublin-Verfahrens in die Niederlande abgeschoben wird, sondern dass ein nationales Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wird. Diesem Begehren entspricht der unter Nr. 2 der Klage zum Ausdruck gebrachte Verpflichtungsantrag, den streitgegenständlichen Bescheid vom 24. Februar 2020 aufzuheben. Einer darüber hinausgehenden Feststellung zum Ablauf der Dublin-Frist wie in Nr. 1 des Klageantrags formuliert, bedarf es nicht, da der Verpflichtungsantrag weitergehend ist.
Die Verpflichtungsklage auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides ist zulässig (anders noch VG Würzburg, U.v. 12.1.2020 – W 1 K 20.50224). Die Verpflichtungsklage ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil der Bescheid vom 24. Februar 2020 in Folge des Ablaufs der Überstellungsfrist gegenstandslos geworden wäre (vgl. § 43 Abs. 2 VwVfG), weil dieser Bescheid mit seiner Abschiebungsanordnung ohne Aufhebung weiterhin wirksam ist und – unter Mitwirkung der Ausländerbehörde – Basis für die Abschiebung des Klägers in die Niederlande sein könnte.
Die Verpflichtungsklage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger nicht zuvor ausdrücklich einen dahingehenden Antrag bei der Beklagten gestellt hat (str.; vgl. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 42, Rn. 6; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 42, Rn. 37 f.), weil ein solcher Antrag zum einen nach § 48 VwVfG nicht vorgesehen und zum anderen der Asylantrag des Klägers in der vorliegenden Konstellation nach dem Ablauf der Überstellungsfrist wiederauflebt. Außerdem hat der Kläger durch die prozessuale Geltendmachung sein Begehren auch gegenüber der Beklagten deutlich gemacht und diese hat sich in der Sache ablehnend darauf eingelassen. Weiter hatte die Beklagte dem Kläger nicht nur mit Schreiben vom 9. Juli 2020 mitgeteilt, dass die Aussetzung der Vollziehung widerrufen werde, sondern gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken kundgetan, dass die Frist zur Überstellung nunmehr der 9. Januar 2021 sei. Auch in der Klageerwiderung vom 9. Oktober 2020 hat die Beklagte ausdrücklich angeführt, dass die Überstellungsfrist erst am 9. Januar 2021 ende. Darüber hinaus hat die Beklagte – von Ausnahmen abgesehen – in zahlreichen Fällen an ihrer Rechtsauffassung der Verlängerung durch Überstellungsfrist festgehalten.
Im Gegensatz zum Verpflichtungsantrag ist der dahinter zurückbleibende Feststellungsantrag in Nr. 1 des Klageschriftsatzes als subsidiär unzulässig (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO), weil der Kläger sein Ziel direkter durch die vorstehende Verpflichtungsklage als Leistungsklage erreichen kann. Nach dem Klageziel ist das Feststellungsbegehren als nachrangiges Begehren im Leistungsbegehren enthalten (vgl. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 43, Rn. 4). Der Kläger hat dabei nicht nur einen Anspruch auf Bescheidung, sondern einen Anspruch auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides, weil die Niederlande in Folge der Dublin-Regelungen nach Ablauf der Überstellungsfrist unzuständig und die Bundesrepublik Deutschland zuständig geworden ist (siehe nachfolgend).
Die zulässige Klage ist begründet.
Der streitgegenständliche Dublin-Bescheid ist rechtswidrig geworden. Der Kläger hat gemäß Art. 48 Abs. 1 VwVfG einen Anspruch auf Aufhebung des rechtswidrigen Bescheides. Das Ermessen hat sich auf Null reduziert. In Folge der Ablauf der Überstellungsfrist ist im vorliegenden Fall zwingend ein nationales Verfahren in Deutschland durchzuführen. Andernfalls würde die Gefahr einer „refugee in orbit“-Situation begründet, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Dies liefe dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwider, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährleistung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 20 m.w.N.).
Die Beklagte ist durch Ablauf der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Zwar hat die Beklagte den Asylantrag des Klägers zunächst zutreffend gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt, da die Niederlande gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Dublin III-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig war. Auf die Ausführungen des Gerichts im Beschluss vom 5. März 2020 (W 8 S 20.50098 – juris) und im Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 (W 8 K 20.50097) wird Bezug genommen.
Die Zuständigkeit ist jedoch aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Maßgeblich für den Fristbeginn ist vorliegend die Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung mit Beschluss vom 5. März 2020, als das fristauslösende Ereignis. Die Überstellungsfrist endete damit sechs Monate später mit Ablauf des 5. September 2020 (vgl. Art. 42 Buchst. b Dublin III-VO). Gründe für die Verlängerung der Überstellungsfrist auf ein Jahr bzw. 18 Monate wegen Inhaftierung oder Flüchtigsein des Klägers (vgl. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO) liegen nicht vor.
Die von der Beklagte mit Schriftsatz vom 27. April 2020 verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung führt nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist mit der Folge, dass diese mit dem Widerruf der Aussetzung durch Schreiben der Beklagte vom 9. Juli 2020 neu zu laufen beginnen und ein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte erst mit Ablauf des 9. Januar 2021 erfolgen würde. Diese Rechtsfolge vermag die Aussetzung der Abschiebungsanordnung und deren Widerruf nicht zu bewirken (so auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris sowie schon VG Würzburg, B.v. 21.10.2020 – W 8 S 20.50245 – BeckRS 2020, 28677; U.v. 12.10.2020 – W 1 K 20.50224; U.v. 11.8.2020 – W 8 K 19.50795 – juris m.w.N.; siehe ansonsten zuletzt etwa VG Dresden, B.v. 13.10.2020 – 6 L 712/20.A – Milo; Saarl VG, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – juris; VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 – A 9 K 343/20 – juris; B.v. 15.9.2020 – A 9 K 4825/19 – juris; VG Ansbach, U.v. 23.9.2020 – AN 14 K 18.50955 – juris; VG Bremen, U.v. 18.9.2020 – 2 K 1112/19 – juris; SH VG, U.v. 14.9.2020 – 5 A 57/20 – juris; VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 – 3 A 1865/19 HGW – juris; VG Berlin, B.v. 20.8.2020 – 32 L 173/20 A – juris, jeweils m.w.N.; Neumann, Offene Fragen rund um die Aussetzung der sofortigen Vollziehung in Dublin-Verfahren durch das BAMF, ZAR 2020, 314; Lehnert/Werdermann, Aussetzungen der Dublin-Überstellungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge während der Corona-Krise, NVwZ 2020, 1308; Hupke, Coronabedingte Aussetzungen von Dublin-Überstellungen, Asylmagazin 8/2020, 257; Pettersson, Abschiebungen und Corona – Auswirkungen der Pandemie auf die Asylrechtsprechung, ZAR 2020, 230; alle m.w.N.; a. A. etwa VG Bremen, B.v. 29.9.2020 – 6 V 1878/20 – juris; VG Münster, B.v. 2.9.2020 – 10 L 704/20.A – juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.8.2020 – A 1 K 1026/20 – juris sowie BAMF, Referat 32 A, Aussetzungsentscheidungen des Bundesamtes – ein Überblick, Entscheiderbrief 09/2020, 4; jeweils m.w.N.).
Zwar haben nach § 80 Abs. 4 VwGO die Behörden grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Regelungen des Asylgesetzes schließen dabei eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus. Jedoch setzt das vorrangige Unionsrecht diesbezüglich gewisse Grenzen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – BVerwGE 164, 165 – juris Rn. 23 ff). Unionsrechtlich setzt Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO die Möglichkeit einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung gerade voraus und steht der Anwendung von § 80 Abs. 4 VwGO nicht entgegen. Gleichwohl setzt das Unionsrecht insbesondere in den Art. 27 und 28 Dublin III-VO dem nach nationalem Recht eröffneten weiten Ermessensspielraum Grenzen. Denn die behördliche Aussetzungsentscheidung begünstigt den jeweiligen Kläger nicht ausschließlich, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen aufgrund der Abschiebungsanordnung zunächst nicht vollzogen werden können. Vielmehr erfolgt auch eine jedenfalls mittelbare Belastung, weil eine Unterbrechung der Überstellungsfrist einen möglicherweise erstrebten Zuständigkeitsübergang nicht erfolgen lässt und zudem die inhaltliche Prüfung des Asylantrags weiter verzögert wird. Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel Sekundärmigration zu verhindern (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – Buchholz 451.902 Europ. Ausländeru. Asylrecht Nr. 82). Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C 6.16 – BVerwGE 156, 9 – juris Rn. 18), denn dann haben die Belange eines Klägers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – BVerwGE 164, 165).
Vorstehende Voraussetzungen erfüllt die pauschale gegenüber allen Personen, die sich im „Dublin-Verfahren“ befinden und hiergegen einen Rechtsbehelf eingelegt haben (vgl. Schreiben der Direktorin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 18. März 2020: „vorübergehend“), erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung ohne konkreten Endpunkt aufgrund der Entwicklungen in der „Corona-Krise“, gleichwohl nicht.
Bereits der Wortlaut von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eröffnet lediglich die Möglichkeit, die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung auszusetzen. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung dient in diesen Fällen damit letztlich der Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes, indem eine umfassende Klärung von Tatsachen- oder Rechtsfragen nicht allein durch den Zuständigkeitswechsel aufgrund von Zeitablauf unmöglich gemacht wird (vgl. VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 – 3 A 1865/19 HGW – juris Rn. 25; VG München, U.v. 7.7.2020 – M 2 K 19.51274 – juris Rn. 15). Eine derartige Konstellation betraf im Übrigen auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – BVerwGE 164, 165), als dort die Vollziehung der Abschiebungsanordnung bis zu einer Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde bzw. den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht betreffend eine ablehnende Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgesetzt wurde. Für eine derartige Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO spricht zudem seine systematische Stellung innerhalb der Dublin III-VO im dortigen Abschnitt IV – Verfahrensgarantien unter der Überschrift „Rechtsmittel“ (vgl. OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 10; VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 – 3 A 1865/19 HGW – juris Rn. 26). Zu berücksichtigen bei der Auslegung sind ferner die Grundsätze und Systematik des „Dublin-Systems“ an sich (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – NVwZ 2016, 1157 – juris Rn. 35 m.w.N.). Dieses ist unter anderem geprägt duech den Beschleunigungsgrundsatz (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO), welcher in einem Spannungsverhältnis mit dem Prinzip der Gewährung effektiven Rechtsschutzes steht. Insoweit sind nicht alleine die mitgliedsstaatlichen Interessen an der Überstellung, sondern auch die Interessen der AsylKläger zu berücksichtigen, schon um eine von der Dublin III-VO nicht gewollte „refugee in orbit“-Situation zu vermeiden, in der ein Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes inhaltlich für längere Zeit ungeprüft bleibt. Die Fristenregelungen der Dublin III-VO entfalten Individualschutz im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems sowie den Schutz der Antragsteller, deren Asylbegehren möglichst rasch durch den zuständigen Mitgliedsstaat geprüft werden soll (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – NVwZ 2016, 1157 – juris Rn. 52; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 124).
Entgegen der Ansicht der Beklagte sind nicht jedwede sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägungen – wie etwa die Vollzugsschwierigkeiten aufgrund der COVID-19-Pandemie oder auch der Gesundheitsschutz der zu überstellenden Personen – dazu geeignet, eine Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO zu stützen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 – A 9 K 343/20 – juris Rn. 31; B.v. 15.9.2020 – A 9 K 4825/19 – juris Rn. 22 m.w.N. auch zur Gegenmeinung), da zum einen auch das Bundesverwaltungsgericht eine solche auch nur vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes ausdrücklich als zulässig erachtet hat und sich zum anderen wie dargestellt aus Wortlaut und Systematik des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht ergibt, dass eine Aussetzung der Abschiebungsanordnung mit der Folge der Unterbrechung der Überstellungsfrist in unionsrechtskonformer Weise auch dann erfolgen kann, wenn diese alleine aufgrund einer vorübergehenden und von den Adressaten der Überstellungsentscheidung nicht zu vertretenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung ausgesprochen wird (vgl. insbesondere auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 15 ff.; VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 – A 9 K 343/20 – juris Rn. 22; VG Bremen, U.v. 18.9.2020 – 2 K 1112/19 – juris Rn. 47). Diese Auffassung wird wiederum gestützt durch den Leitfaden der Europäischen Kommission „COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung“ vom 17. April 2020 (2020/C-126/02). Dort heißt es unter Punkt 1.2 Dublin-Überstellungen ausdrücklich, dass keine Bestimmung der Dublin III-VO es erlaubt, in einer Situation wie sie sich aus der Corona-Pandemie ergibt, von der grundsätzlichen Regelung des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO abzuweichen, wonach, wenn die Überstellung nicht innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist erfolgt, ein Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedsstaat erfolgt.
Ein weiteres Indiz ist, dass die Beklagte die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern auf Widerruf und damit – wie hier – länger als bis zur Ermöglichung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes erklärt hat. Sie dient damit nicht dem effektiven Rechtsschutz des Klägers, sondern anderen Gründen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 – A 9 K 343/20 – juris Rn. 35; B.v. 15.9.2020 – A 9 K 4825/19 – juris Rn. 26; SH VG, U.v. 14.9.2020 – 5 A 57/20 – juris Rn. 21).
Dementsprechend ist vorliegend keine derartige Konstellation gegeben, die zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist führen würde, da die Aussetzung durch die Beklagte letztlich mit Vollzugsschwierigkeiten aufgrund von Einreisebeschränkungen sowie allgemeinen Erwägungen hinsichtlich des europaweiten Infektionsgeschehens im Zuge der COVID-19-Pandemie begründet wurde. Erfolgt die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung – wie hier – allein aufgrund einer etwaigen tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung, hält sich diese nicht im oben näher ausgeführten (unions-)rechtlichen Rahmen und vermag die Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht zu unterbrechen (vgl. insbesondere OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 8).
Diese Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO fügt sich im Übrigen auch in die bislang in Zusammenhang mit einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO ergangene obergerichtliche Rechtsprechung ein (etwa OVG NRW, B.v. 8.12.2017 – 11 A 1966/15.A – juris Rn. 8 f.; VGH BW, U.v. 13.10.2016 – A 11 S 1596/16 – juris Rn. 49; NdsOVG, B.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 60 ff.), wonach es im Falle einer im maßgeblichen Beurteilungszeitraums hinreichend sicher feststehenden tatsächliche Unmöglichkeit einer fristgerechten Überstellung, der angesprochene Beschleunigungsgedanke der Dublin III-VO gebietet, bereits zu diesem Zeitpunkt von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) auszugehen. Auch wenn diese Rechtsprechung nicht zu Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ergangen ist, sondern zu einer Ermessensreduzierung im Rahmen des Selbsteintritts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, lässt sich ihr jedenfalls entnehmen, dass alleine die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung nicht geeignet ist, den Grundsatz der Beschleunigung, wie er in der Dublin III-VO enthalten ist, einzuschränken (so auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 18).
Hinzu kommt, dass Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit der Überstellung von der Frage der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung trennt und sich aus dem Wortlaut ergibt, dass unabhängig von der praktischen Möglichkeit der Überstellung die Überstellungsfrist spätestens sechs Monate nach Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über eine rechtliche Prüfung, die aufschiebende Wirkung hat, endet (vgl. VG Bremen, U.v. 18.9.2020 – 2 K 1112/19 – juris Rn. 47).
Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden hat, dass der überstellende Mitgliedstaat über eine Frist von sechs Monaten verfügen sollte, um die Überstellung zu bewerkstelligen (EuGH, U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – NVwZ 2009, 639 – juris Rn. 43), steht dies dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Diese Vorabentscheidung, die noch zur Auslegung der sogenannten Dublin II-VO (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist) ergangen ist, enthält keine Aussage darüber, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen die Überstellung aus tatsächlichen Gründen vorübergehend unmöglich ist. Sie betrifft eine Fallkonstellation, in der die Frage nach der Unterbrechung der Überstellungsfrist in Zusammenhang mit einem gerichtlich anhängigen Hauptsache-Rechtsbehelf aufkam. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat insoweit entschieden, dass, wenn die Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats vorsehen, dass ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, die Überstellungsfrist zur Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – NVwZ 2009, 639 – juris Rn. 44 ff.). Da insoweit auch diese Entscheidung in Zusammenhang mit einem mitgliedstaatlichen Rechtsbehelfsverfahren stand, kann sie nicht auf solche Fälle übertragen werden, in denen der Anlass für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist allein ein tatsächlicher ist, der nicht der Gewährung effektiven Rechtsschutzes dient.
Die Stellungnahme der Beklagte vom 9. Oktober 2020 und die darin zitierte Rechtsprechung führt zu keiner anderen Beurteilung. Wenn darin auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2016 (1 C 6/16 – BVerwGE 156, 9 – juris Rn. 18) Bezug genommen wird, stellt dies keine mit dem hiesigen Fall vergleichbare Konstellation dar. Denn in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall war wiederum die Aussetzung der Abschiebungsanordnung bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache nach Zulassung der Berufung Gegenstand. Dass ein solcher Fall von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO umfasst ist, ergibt sich bereits – wie vom Bundesverwaltungsgericht dargestellt – aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst. Das Urteil des EuGH vom 13. September 2017 (C-60/16 – Khir Amayry – NVwZ 2018, 46) hat ebenfalls die Aussetzung einer Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens zum Gegenstand. Der Grundsatz, dass eine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, gilt wie ausgeführt nicht absolut (vgl. im Übrigen auch schon VG Würzburg, U.v. 11.8.2020 – W 8 K 19.50795 – juris).
Nach alledem ist die Zuständigkeit der Niederlande entfallen und ein Asylverfahren in nationaler Zuständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Infolgedessen hat der Kläger einen Verpflichtungsanspruch auf Aufhebung des rechtswidrig (gewordenen) Bescheides vom 24. Februar 2020.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.


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