Europarecht

Einreiseverweigerung wegen Einreise aus sicherem Drittstaat

Aktenzeichen  10 CE 17.1235

Datum:
3.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 15 Abs. 1
AsylG AsylG § 18 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 26a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit g, Art. 7 Abs. 3, Art. 9

 

Leitsatz

1 Ein (volljähriger) Bruder ist kein Familienangehöriger iSv Art. 2 lit. g Dublin III-VO.   (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Anspruch auf gemeinsame Bearbeitung und kohärente Entscheidung der Anträge auf internationalen Schutz für alle betroffenen Familienangehörigen besteht nicht, wenn das Verfahren für ein Familienmitglied bereits abgeschlossen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 24 E 17.2217 2017-06-06 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag, der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, ihm bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 10.000 Euro die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorläufig zu gestatten, weiter.
Der Antragsteller, ein am 10. März 1994 geborener syrischer Staatsangehöriger, wurde am 27. April 2017 in einem aus Österreich kommenden Zug aufgegriffen. Sein syrischer Reisepass ist am 10. Februar 2017 abgelaufen. Ein Visum, das ihn zur Einreise in die Bundesrepublik berechtigte, besaß er nicht. Er ist in Italien wohnhaft.
Bei der Befragung zum Anlass der Einreise nach Deutschland gab der Antragsteller gegenüber der Bundespolizeiinspektion an, dass er wegen des Krieges Syrien verlassen habe. Er sei geflüchtet, weil er keinen Wehrdienst leisten wolle. Er werde nicht wegen seiner Rasse, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verfolgt.
Mit Verfügung vom 27. April 2017 verweigerte die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Einreise, weil er ohne gültige Reisedokumente und ohne gültiges Visum habe einreisen wollen. Hiergegen legte er mit Schreiben vom 18. Mai 2017 Widerspruch ein. Parallel dazu beantragte er beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihm die Einreise in die Bundesrepublik vorläufig zu gestatten.
Mit Beschluss vom 6. Juni 2017 lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht München den Antrag ab. Nach § 15 Abs. 1 AufenthG werde ein Ausländer, der unerlaubt einreisen wolle, an der Grenze zurückgewiesen. Gemäß § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG werde ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt habe, nicht zurückgewiesen, solange ihm ein Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes gestattet sei. Es sei zweifelhaft, ob im Vorbringen des Antragstellers im Rahmen der Befragung zum Anlass der Einreise bereits die Äußerung eines Asylbegehrens zu sehen sei. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre auch nach § 18 AsylG die Einreise zu verweigern, weil er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) eingereist sei. Von der Einreiseverweigerung im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat sei dann abzusehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sei (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG). Es sei nicht geltend und glaubhaft gemacht worden, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den Vorschriften der Dublin III-Verordnung für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sei. Eine vorrangige Zuständigkeit ergebe sich jedenfalls nicht daraus, dass der Zwillingsbruder des Antragstellers in Deutschland lebe und hier subsidiären Schutz erhalten habe. Geschwister seien nach der Definition des Art. 2 Buchst. g der Dublin III-Verordnung schon begrifflich keine Familienangehörigen. Die Zuständigkeitsregelungen der Art. 8 bis 11 Dublin III-Verordnung seien nicht einschlägig, weil der Antragsteller und sein Zwillingsbruder volljährig seien. Bezüglich des Ordnungsgeldes werde auf § 172 VwGO verwiesen.
Im Beschwerdeverfahren beantragt der Antragsteller,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 6. Juni 2017 aufzuheben und der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufzugeben, ihm bei Vermeidung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 10.000 Euro die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland vorläufig zu gestatten.
Seine Äußerungen im Rahmen der Befragung zum Anlass der Einreise ließen eindeutig erkennen, dass er einen Asylantrag gestellt habe. Zutreffend sei, dass er aus einem sicheren Drittstaat habe einreisen wollen. Von der nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG berechtigten Einreiseverweigerung hätte abgesehen werden müssen, da die Bundesrepublik für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig sei. Zu beachten sei Art. 7 Abs. 3 Dublin III-Verordnung, in der auch Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung erwähnt würden.
Ergänzend wird auf die vorgelegten Behördenakten und Gerichtsakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Die vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung fristgemäß dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO), rechtfertigen die Aufhebung bzw. Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts vom 6. Juni 2017 und den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht.
Er hat weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund dargelegt und glaubhaft gemacht.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Einreise in das Bundesgebiet am 27. April 2017 zu Recht verweigert. Er durfte an der Grenze zurückgewiesen werden, weil er unerlaubt einreisen wollte (§ 15 Abs. 1 AufenthG). Er besaß weder einen gültigen Pass noch den nach § 4 erforderlichen Aufenthaltstitel (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG).
Es kann offen bleiben, ob der Antragsteller bei seiner Einreise um Asyl nachgesucht hat. Das Vorbringen des Antragstellers im Rahmen seiner Befragung zum Anlass der Einreise nach Deutschland genügt wohl schon nicht den Anforderungen des § 13 Abs. 1 AsylG, weil er eine Verfolgung nach § 3 Abs. 1 AsylG ausdrücklich ausgeschlossen hat und sein Vorbringen, er wolle keinen Wehrdienst leisten und werde bei seiner Rückkehr verhaftet und gezwungen, Militärdienst zu leisten, wohl auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG nicht erfüllt.
Selbst wenn das Vorbringen des Antragstellers im Rahmen der Befragung ein Nachsuchen um Asyl darstellte (§ 18 Abs. 1 AsylG), so war ihm die Einreise zu verweigern, weil er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) eingereist ist (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Die Ausnahmevorschrift des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG greift nicht ein, weil er nicht dargelegt und glaubhaft gemacht hat, dass die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist. Laut Auskunft der italienischen Behörden ist der Antragsteller dort wegen unerlaubter Einreise (Feststellung v. 20.4.2017) polizeilich vorgemerkt. Er ist auch in Italien wohnhaft, so dass gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung Italien für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig wäre. Auf die Vorschriften der Art. 8 bis 11 Dublin III-Verordnung kann sich der Antragsteller nicht berufen. In Betracht käme in seinem Fall allenfalls Art. 9 Dublin III-Verordnung – unterstellt, dass die nicht glaubhaft gemachten Angaben, sein Zwillingsbruder sei als subsidiär Schutzberechtigter in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt, zutreffen. Der Zwillingsbruder des Antragstellers ist aber nicht Familienangehöriger im Sinne dieser Vorschrift, wie sich aus der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. g Dublin III-Verordnung ergibt. Auf Art. 7 Abs. 3 Dublin III-Verordnung kann er sich nicht berufen, weil diese Vorschrift nicht auf Art. 9 Dublin III-Verordnung nicht verweist. Dies hat seinen Grund darin, dass das Erfordernis einer gemeinsamen Bearbeitung und kohärenten Entscheidung der Anträge auf internationalen Schutz (vgl. Nr. 15 der Erwägungsgründe) für alle betroffenen Familienmitglieder i.S.d. Art. 7 Abs. 3 Dublin III-Verordnung dann nicht mehr besteht, wenn das Verfahren für einen Familienangehörigen bereits abgeschlossen ist.
Der Antragsteller hat zudem einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Ihm entsteht kein Nachteil, wenn er die Entscheidung über den Widerspruch gegen die Einreiseverweigerung der Antragsgegnerin vom 27. April 2017 in Italien abwartet. Zudem hat er die Möglichkeit, in Italien einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz zu stellen und zu beantragen, dass Italien die Bundesrepublik ersucht, ihn aufzunehmen. Ein Recht des jeweiligen Schutzsuchenden, sich ohne förmliches Verfahren in den glaublich für die Durchführung des Verfahrens auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat zu begeben, gewähren die Vorschriften des Kapitel III der Dublin III-Verordnung nicht. Erforderlich ist – unabhängig von den sonstigen Voraussetzungen – stets, dass „die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun“.
Der Antrag, der Antragsgegnerin ein „Ordnungsgeld“ von bis zu 10.000,- Euro anzudrohen, bleibt schon deshalb erfolglos, weil kein Anspruch auf vorläufige Gestattung der Einreise besteht. Zudem setzt § 172 VwGO voraus, dass die Behörde der in einer einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt. Eine prophylaktische Androhung eines Zwangsgeldes sieht diese Regelung nicht vor.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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