Europarecht

Entfallen der Bindungswirkung der konstitutiven asylrechtlichen Statusentscheidung erst mit Eintritt der Bestandskraft der Widerrufsentscheidung

Aktenzeichen  10 B 13.1446

Datum:
23.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 43619
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 6, § 73 Abs. 1

 

Leitsatz

Die Bindungswirkung der konstitutiven asylrechtlichen Statusentscheidung (§ 6 AsylG) entfällt erst mit Eintritt der Bestandskraft der Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG. Es genügt nicht bereits die Vollziehbarkeit der Widerrufsentscheidung (entgegen VG München BeckRS 2006, 32005). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 10.1876 2011-07-05 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Das Berufungsverfahren wird ausgesetzt, bis (rechts- bzw. bestandskräftig) feststeht, ob der Kläger Flüchtling im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) ist.

Gründe

Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen ist. Demnach setzt § 94 VwGO voraus, dass die in einem anderen Gerichts- oder Verwaltungsverfahren ausstehende Entscheidung vorgreiflich ist, also ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand hat, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung im anhängigen Verfahren abhängt.
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Aussetzung des vorliegenden Verfahrens geboten. Wie in der mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2016 erörtert, ist insbesondere im Hinblick auf die nach § 53 Abs. 3 AufenthG erhöhten (nationalen) Anforderungen an die Ausweisung eines Ausländers, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt, gegebenenfalls noch unionsrechtlich modifiziert durch Art. 21 und Art. 24 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QRL, ABl Nr. L 337, S. 9), im vorliegenden Fall von entscheidender Bedeutung, ob der Kläger noch den Flüchtlingsstatus nach § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) besitzt, der ihm durch den Bescheid des Bundesamtes vom 26. Juli 2000 zuerkannt worden ist. Diese Feststellung hat das Bundesamt zwar mit Bescheid vom 10. Mai 2007 widerrufen. Der Widerruf ist jedoch noch nicht bestandskräftig geworden, weil die hiergegen erhobene Klage des Klägers zwar durch das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 15. Oktober 2007 abgewiesen, über die gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung des Klägers (Az. 13a B 15.30018) aber noch nicht entschieden worden ist.
Ob die Bindungswirkung der konstitutiven asylrechtlichen Statusentscheidung (§ 6 AsylG) erst mit Eintritt der Bestandskraft der Widerrufsentscheidung nach § 73 Abs. 1 AsylG entfällt (vgl. Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, AsylVfG § 4 Rn. 10 und § 73 Rn. 26; Preisner in Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand: 1.5.2015, AsylG § 6 Rn. 10; Hocks in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG/AsylG § 6 Rn. 14; Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar AsylVfG, Stand: Januar 2014, II – § 6 Rn. 22) oder ob insoweit – wie der Beklagte unter Berufung auf § 75 Abs. 1 AsylG und § 80b VwGO geltend macht – bereits die Vollziehbarkeit der Widerrufsentscheidung zur Beseitigung der Rechtsstellung genügt (vgl. z. B. VG München, U.v. 11.7.2006 – M 4 K 05.3011 – juris Rn. 152; insoweit nicht eindeutig: VGH BW, U.v. 13.3.2001 – 11 S 2374/99 – juris Rn. 27 f. sowie Marx, AsylVfG, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 6 Rn. 5 m. w. N.), ist – soweit ersichtlich – gerade im Hinblick auf die Regelung des § 80b VwGO bisher obergerichtlich nicht entschieden. Der Senat neigt allerdings auch mit Blick auf § 73 Abs. 6 AsylG ersterer Auffassung zu.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof liegen zur Überzeugung des Senats (s. § 108 Abs. 1 VwGO) die Voraussetzungen für die Ausweisung des Klägers nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vor. Denn dem in seinem Fall bestehenden besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stehen keine entsprechend gewichtigen Interessen am weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet gegenüber. Bei der gebotenen Abwägung dieser gegenläufigen Interessen gerade auch unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände überwiegt daher das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers. Im Fall des Klägers liegen nämlich entgegen der Auffassung des Erstgerichts hinreichende Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger mit der Ansar al-Islam (AAI) eine Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt, selbst unterstützt hat. Zur Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs hat (auch) der Kläger zu dem Freundes- und Bekanntenkreis des M. im Umfeld der Salahaddin-Moschee gehört, von denen dieser regelmäßig Geld zur Unterstützung der Kerngruppe der Ansar al-Islam/Ansar al-Sunna im Irak eingesammelt oder eingetrieben hat. Auch dem Kläger (wie den anderen Spendern) war hinreichend klar, dass diese Gelder letztlich zur finanziellen Unterstützung der Ansar al-Islam/Ansar al-Sunna und für die „Brüder im Irak“ bestimmt waren (vgl. dazu eingehend BayVGH, U.v. 25.9.2013 – 10 B 10.1999 – juris). Der gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzten (aktuellen) Gefährdungslage steht auch nicht entgegen, dass die Unterstützungstätigkeit des Klägers schon längere Zeit zurückliegt und dass nach den Angaben des Vertreters des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz in der mündlichen Verhandlung die AAI-Tätigkeit in Augsburg und Deutschland aufgrund der Ausweisungspraxis und des (auch strafrechtlichen) Verfolgungsdrucks inzwischen weitestgehend zum Erliegen gekommen ist. Denn der Senat geht davon aus, dass der Kläger, der von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln bis heute nicht erkennbar und glaubhaft Abstand genommen hat (s. § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), bei der festgestellten Einbindung in das unmittelbare Umfeld der Ansar al-Islam/Ansar al-Sunna auch unter Berücksichtigung seiner Einstellung diese terroristische Organisation künftig weiter unterstützen und als Anlaufstelle und Kontaktperson der Organisation benutzt werden wird. Der Senat hat insbesondere keinerlei Anhaltspunkte, aus denen geschlossen werden könnte, dass der Kläger seine innere Einstellung dauerhaft verändert hat.
Demgegenüber hat der Senat ernstliche Zweifel, ob beim Kläger auch die nach § 53 Abs. 3 AufenthG erhöhten (nationalen) Anforderungen an die Ausweisung und insbesondere die unionsrechtlichen Anforderungen an die „Beendigung eines Aufenthaltstitels“ (durch Ausweisung) nach Art. 24 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie vorliegen. Zwar bildet die Unterstützung einer terroristischen Organisation nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U.v. 24.6.2015, Rs. C-373/13 – H.T. – juris) grundsätzlich einen Umstand, der belegen kann, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmeregelung von Art. 24 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind. Jedoch kann allein der Umstand, dass die betreffende Person diese Organisation unterstützt hat, nicht die automatische Aufhebung ihres Aufenthaltstitels gemäß dieser Vorschrift zur Folge haben (EuGH a. a. O. Rn. 82 und 87). Vielmehr muss das (nationale) Gericht die Rolle prüfen, die der Betroffene im Rahmen seiner Unterstützung dieser Organisation tatsächlich gespielt hat, um zu klären, ob in Anbetracht der Art der von ihm begangenen Handlungen „zwingende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie vorliegen (EuGH a. a. O. Rn. 90 ff.). Dass beim Kläger die danach erforderliche erhöhte Gefahrenschwelle überschritten ist und entsprechend gewichtige Gründe für eine Aufenthaltsbeendigung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie vorliegen, wird auch vom Beklagten letztlich nicht geltend gemacht (so jedenfalls die vorläufige Einschätzung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung, Bl. 16 der Sitzungsniederschrift).
Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers hängt somit maßgeblich davon ab, ob der Widerrufsbescheid des Bundesamts einer gerichtlichen Überprüfung auch im Berufungsverfahren standhält und damit rechts- und bestandskräftig wird.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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