Europarecht

Erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug

Aktenzeichen  M 12 K 20.3792

Datum:
21.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42219
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1
ARB 2/76 Art. 7

 

Leitsatz

1. Welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 S. 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird, weshalb nicht der Besitz irgendeines, sondern nur des für den jeweiligen konkreten Aufenthaltszweck notwendigen Visums genügt; unerheblich ist daher, ob nach einem Besuchsaufenthalt ein sog. „Nachentschluss“ zum Zweckwechsel vorliegt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 AufenthG erfordert eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, bei der die legitimen Interessen des Ausländers gegen das öffentliche Interesse – einschließlich generalpräventiver Aspekte – an der Einhaltung des Visumverfahrens abzuwägen sind. (Rn. 29 – 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 oder § 36 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegatten- bzw. Familiennachzug scheitert an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Auf enthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht.
Der Kläger ist als türkischer Staatsangehöriger vorliegend weder durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit noch hat er aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 ein unmittelbares Aufenthaltsrecht. Der Kläger gehört weder als Arbeitnehmer seit mindestens einem Jahr dem regulären Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik an noch hat er als Familienangehöriger die Genehmigung zum Nachzug zu seiner Ehefrau erhalten. Die Befugnis, die erstmalige Zulassung der Einreise des Familienangehörigen zu regeln, unterliegt dem nationalen Recht des Aufnahmemitgliedstaates (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 7 ARB 1/80).
Der Kläger bedurfte somit eines Visums für den von ihm beabsichtigten Aufenthaltszweck. Denn welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (BVerwG, U.v. 16.11.2010 – 1 C 17/09 – juris). Es genügt somit nicht der Besitz irgendeines, sondern nur des für den jeweiligen konkreten Aufenthaltszweck notwendigen Visums (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 AufenthG Rn. 90); unerheblich ist daher, ob nach einem Besuchsaufenthalt ein sog. „Nachentschluss“ zum Zweckwechsel vorliegt (Maor in BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2021, § 5 AufenthG Rn. 22).
Der Kläger war lediglich im Besitz eines sog. Schengen-Visums gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG für Aufenthalte von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte jedoch ein nationales Visum für das Bundesgebiet erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Der beabsichtigte Aufenthalt des Klägers stellt einen längerfristigen Aufenthalt i.S.v. § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dar, da er auf Dauer die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet führen möchte. Ein nationales Visum zum Zweck des Ehegatten- bzw. Familiennachzugs hat der Kläger vor der Einreise nicht eingeholt.
Von der Einreise mit dem erforderlichen Visum zum Zweck des Ehegatten- bzw. Familiennachzugs kann auch nicht gem. § 39 AufenthV abgesehen werden. Zwar kann ein Ausländer, der ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte besitzt, einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind. Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen jedoch nicht vor, da sowohl die Eheschließung des Klägers als auch die Geburt seiner Kinder zeitlich vor der Einreise in das Bundesgebiet am 6. April 2019 lagen.
Die generelle Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, die durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782) mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführt wurde, verstößt entgegen der Rechtsauffassung des Klägers auch nicht gegen das „Stillhaltegebot“ des Art. 7 ARB 2/76. Die Visumpflicht zur Familienzusammenführung fällt als neue Beschränkung zwar in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76. Sie ist aber aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationskontrolle gerechtfertigt und geht mit Blick auf die Möglichkeit, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen, bei unionsrechtskonformer Auslegung insbesondere nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus (BVerwG, U.v. 25.6.2019 – 1 C 40/18 – juris).
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seinem Urteil vom 7. August 2018 (C-123/17 [Yön] – juris) entschieden, dass die Einführung des Visumzwangs mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 2/76 fällt und eine neue Beschränkung für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen bewirkt, weil sie die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärft (vgl. auch EuGH, U.v. 29.3.2017 – C-652/15 [Tekdemir] – juris).
Dies führt entgegen der Auffassung des Klägers jedoch nicht zur Anwendbarkeit der §§ 5 ff. AuslG 1965. Vielmehr hat der EuGH in seinem Urteil auch seine gefestigte Rechtsprechung bekräftigt, dass eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 7 ARB 2/76 zulässig sein kann, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten und nicht über das dafür Erforderliche hinausgeht. Dies ist hier der Fall.
Die Einführung des Visumzwanges für türkische Staatsangehörige war im Interesse einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme und damit aus auch unionsrechtlich anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (EuGH, U.v. 7.8.2018 – C-123/17 – juris) geeignet und erforderlich (BVerwG, B.v. 26.1.2017 – 1 C 1.16 – juris; U.v. 25.6.2019 – 1 C 40/18 – juris). Das für die Einreise zum Ehegatten- bzw. Familiennachzug erforderliche Visum soll gewährleisten, dass die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug bereits vor der Einreise geprüft werden (EuGH, U.v. 7.8.2018 – C-123/17 – juris).
Die Visumpflicht geht auch nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus und ist in diesem Sinne auch verhältnismäßig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen und familiären Zusammenlebens bewirkt (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris). Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit auch im Einzelfall ermöglicht das nationale Recht in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mittels einer Härtefallklausel, durch die besonderen Umständen des Einzelfalls, die die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar machen, Rechnung getragen werden kann. Die Einreise ohne das erforderliche Visum führt danach nicht automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr ist vor einer derartigen Ablehnung in jedem Einzelfall zu prüfen, ob auf eine Nachholung des Visumverfahrens aufgrund besonderer Umstände zu verzichten ist. Bei dieser Entscheidung sind auch die Grundrechte der Betroffenen – namentlich das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GrCh – zu berücksichtigen. Um einer nicht mehr verhältnismäßigen nachträglichen Beschränkung der Nachzugsvoraussetzungen entgegenzuwirken, ist § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in diesen Fällen unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Unzumutbarkeit, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen, das der Behörde eingeräumte Ermessen auf null reduziert ist (BVerwG, U.v. 25.6.2019 – 1 C 40/18 – juris).
b) Eine Nachholung des Visumverfahrens ist im vorliegenden Fall jedoch nicht auf grund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG).
Zwar leben die Ehefrau und die beiden Kinder des Klägers im Bundesgebiet. Es ist jedoch grundsätzlich mit dem Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die vorherige Durchführung eines Visumverfahrens wichtigen öffentlichen Interessen dient. Ein besonderer Umstand gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG liegt erst dann vor, wenn sich der Ausländer in einer Sondersituation befindet, die sich signifikant von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet. Vor diesem Hintergrund erfordert die Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dabei sind die legitimen Interessen des Ausländers gegen das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens abzuwägen (vgl. Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GKAufenthG, Stand: April 2020, § 5 Rn. 138 ff.), wobei die Wirkungen der Grundrechte, insbesondere der Schutz von Bindungen des Ausländers im Inland durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK als höherrangigem Recht beachtet werden müssen. Dem ausreisepflichtigen Familienmitglied kann danach ein auch nur vorübergehendes Verlassen des Bundesgebietes nicht zuzumuten sein, wenn einer der Angehörigen aufgrund individueller Besonderheiten mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist. Sind kleine Kinder von der Ausreise des Ausländers betroffen, kann auch eine kurzfristige Trennung unzumutbar sein, da kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren. Unzumutbarkeit ist anzunehmen, wenn die Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, dem Kind daher ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht angedient werden kann und das Kind auf Grund seines Alters eine Trennung von dem Elternteil nicht wird verstehen können. In diesen Fällen drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (HessVGH, B.v. 24.7.2020 – 3 D 1437/20 – juris).
Im vorliegenden Fall sind sowohl die Ehefrau als auch die Kinder des Klägers türkische Staatsangehörige. Somit liegt schon keine Fallgestaltung vor, in der die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet gelebt werden kann. Die Kinder des Klägers sind zudem mittlerweile über acht bzw. viereinhalb Jahre alt und damit nicht mehr in einem Alter, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter einer Trennung nicht verstehen könnten. Die räumliche Trennung vom Kläger ist auch weder für dessen Ehefrau noch für seine Kinder etwas Neues. Vielmehr war für die Ehefrau und die Kinder des Klägers eine – auch längerfristige – Trennung vom Kläger lange Zeit gelebte Realität, so dass auch ein längerer Auslandsaufenthalt, ggf. unterbrochen durch Besuchsaufenthalte, keine grundlegende Umwälzung ihrer gewohnten bisherigen Lebensbedingungen bewirkt. Die Ehe des Klägers wurde bereits vor nahezu zehn Jahren geschlossen; bis zur Einreise des Klägers am 6. April 2019 führten die Eheleute eine Fernbeziehung, da der Kläger in der Türkei wohnhaft blieb. Seine Ehefrau und seine im Jahr 2012 geborene Tochter hat der Kläger zuvor im Bundesgebiet lediglich wenige Male besucht, seine im Jahr 2016 geborene Tochter hatte erstmals im Alter von knapp drei Jahren im Bundesgebiet Kontakt zu ihm. Erst seit dem 6. April 2019 hält sich der Kläger durchgehend im Bundesgebiet auf.
Zwar ist es möglich, dass der Kläger infolge der Nachholung des Visumverfahrens in der Türkei seiner Verpflichtung zur Wehrdienstleistung nachkommen muss und es daher zu einer Trennung von sechs bis zwölf Monaten kommt. Die Wehrpflicht wurde durch das im Juni 2019 in Kraft getretene neue Wehrgesetz von zwölf auf sechs Monate reduziert, wobei die Möglichkeit besteht, sich nach einer einmonatigen militärischen Ausbildung von den restlichen fünf Monaten freizukaufen. Zwar sind Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen von der neuen Regelung ausgeschlossen. Ob dies nur für die Freikaufsregelung oder auch für die Länge des Wehrdienstes gilt, kann dahinstehen. Denn selbst wenn der Kläger zwölf Monate Wehrdienst leisten müsste, stellt eine mögliche Trennungszeit von dieser Dauer zwar einen nicht unerheblichen Eingriff in die durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützte eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft dar, der Eingriff ist jedoch nicht unverhältnismäßig. Denn der Kläger kommt mit der Wehrdienstleistung einer staatsbürgerlichen Pflicht nach, die auch bei Führung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft im Heimatland zu einer entsprechenden Trennung der Familienangehörigen führen kann (vgl. BVerwG, B.v. 29.12.2014 – 2 B 409/14 – juris). Dies gilt umso mehr angesichts der vom Kläger und seiner Familie in der Vergangenheit praktizierten ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft, die hauptsächlich von der Abwesenheit des in der Türkei wohnhaften Klägers geprägt war (s.o.). In dem Zeitraum von bis zu zwölf Monaten ist trotz der ggf. längeren Terminwartezeiten und Bearbeitungsfristen aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie zudem auch mit einem Abschluss des Visumverfahrens zu rechnen, nachdem Anträge auf nationale Visa zur Familienzusammenführung nach wie vor uneingeschränkt möglich sind (vgl. https://tuerkei.diplo.de/trde) und der Beklagte zur Erteilung einer Vorabzustimmung bereit ist. Während der Zeit des Wehrdienstes und des Visumverfahrens kann der Kontakt sowohl zur Ehefrau als auch zu den Kindern überdies durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden.
Dass die Kinder des Klägers durch die Trennung aufgrund der Nachholung des Visumverfahrens gesundheitliche Schäden davontragen würden, ist schon nicht durch ein ärztliches Attest glaubhaft gemacht worden.
Eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens ergibt sich ferner auch nicht daraus, dass die Ehefrau des Klägers im Fall der Nachholung des Visumverfahrens wegen der erforderlichen Betreuung der Kinder ihre Arbeit aufgeben müsste. Ein derartiger Kausalzusammenhang ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist es der Ehefrau des Klägers wie zahlreichen anderen Alleinerziehenden möglich und zumutbar, eine Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder während ihrer Arbeitszeiten zu organisieren, sei es durch Kindergarten oder Tagesheim, Tagesmütter oder – wie bereits in der Vergangenheit – durch im Bundesgebiet lebende Verwandte.
Die Nachholung des Visumverfahrens ist dem Kläger auch nicht aufgrund der in der Türkei zu erwartenden Einziehung zum Wehrdienst oder einer möglichen Geldstrafe wegen Entziehung vom Wehrdienst unzumutbar. Die Ableistung des Wehrdienstes stellt eine übliche staatsbürgerliche Pflicht dar, deren Ahndung bei Nichterfüllung durch eine Geldstrafe nicht zur Unzumutbarkeit der Rückkehr ins Heimatland führt.
Ferner ergibt sich auch keine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens aufgrund der gesundheitlichen Gefahren der Corona-Pandemie. Diese ist weltweit verbreitet. Die Türkei hat bei ungefähr gleicher Einwohnerzahl wie Deutschland vergleichbare Infektionszahlen wie die Bundesrepublik bei erheblich weniger Todesfällen (vgl. https://covid19.who.int/). Die gesundheitliche Gefährdung des Klägers ist in der Türkei daher nicht höher als in Deutschland einzuschätzen. Abgesehen davon ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich, dass der knapp 30 Jahre alte Kläger einer Risikogruppe angehört, bei der ein schwerwiegender Verlauf einer möglichen Infektion mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten wäre.
Schließlich ist im Rahmen der Güterabwägung auch zu berücksichtigen, dass dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens gerade im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zukommt, da der Kläger zur Überzeugung des Gerichts bewusst mit einem bloßen Schengen-Visum zu Besuchszwecken eingereist ist und damit unter Umgehung des Visumverfahrens vollendete Tatsachen schaffen wollte. Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass der Kläger bereits am 30. Juni 2018 gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Mietvertrag für eine 3 ½ – ZimmerWohnung in …, beginnend ab 1. Juli 2019, unterschrieben hat. Dies zeigt, dass der Kläger bereits bei der Einreise einen dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet angestrebt hat. Dass die Unterzeichnung durch den Kläger lediglich auf Betreiben des Vermieters erfolgt sei, der auf der Unterzeichnung durch den Kläger bestanden habe, ist als Schutzbehauptung zurückzuweisen. Weder ist ersichtlich, welches Interesse der Vermieter an der Unterzeichnung des Mietvertrags durch den zum damaligen Zeitpunkt in der Türkei wohnhaften Kläger gehabt haben sollte, zumal dieser als Student über keine nennenswerten Einnahmen verfügt hat, noch stellt es einen erheblichen Aufwand dar, den Kläger im Falle seines tatsächlichen Einzugs in den Mietvertrag aufzunehmen. Darüber hinaus hat die Ehefrau des Klägers ausweislich des Schreibens vom 15. Juni 2019 zu arbeiten begonnen, um derzeit für den Familiennachzug den Lebensunterhalt sichern zu können. Auch dies zeigt, dass bei Einreise des Klägers ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland beabsichtigt war. Zudem wollte der Kläger offensichtlich auch dem in der Türkei drohenden Wehrdienst durch eine dauerhafte Verlagerung seines Wohnsitzes ins Bundesgebiet entgehen. So ist dem Kläger nach Angaben seiner Ehefrau eine Rückstellung vom Wehrdienst lediglich bis Mai 2019 gewährt worden. Einen Monat zuvor ist der Kläger mit einem Schengen-Visum in das Bundesgebiet eingereist. Bei der Visumbeantragung hat er dabei ein Rückflugticket für den 29. Juni 2019 und damit für einen Zeitpunkt vorgelegt, zu dem die Rückstellung vom Wehrdienst bereits abgelaufen war und der Kläger sich wegen Wehrdienstentziehung (bakaya) strafbar gemacht hat. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass der Kläger niemals die Absicht gehabt hat, den gebuchten Rückflug tatsächlich anzutreten. Dementsprechend hat er auch beim Beklagten kein Rückflugticket vorgelegt.
Unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls liegt nach alledem eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens gem. § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG, bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wege der Ermessensreduzierung auf null vom Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum abgesehen werden müsste, nicht vor. Zwar kann von der Nachholung des Visumverfahrens auch dann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind. Ein Anspruch ergibt sich vorliegend zwar nicht aus § 36 Abs. 1 AufenthG, da mit der Mutter bereits ein personensorgeberechtigter Elternteil der Töchter des Klägers im Bundesgebiet lebt; § 36 Abs. 2 AufenthG begründet schon keinen Anspruch, sondern stellt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in das Ermessen der Behörde. Ein Anspruch ergibt sich jedoch aus § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Ehegattennachzug.
Die Ermessensentscheidung des Beklagten, von der Nachholung des Visumverfahrens im konkreten Einzelfall nicht abzusehen, ist rechtlich allerdings nicht zu beanstanden. Das Gericht kann die Entscheidung des Beklagten insoweit nur daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des durch § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens eingehalten sind und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 114 Satz 1 VwGO).
Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hat sämtliche relevanten öffentlichen und privaten Interessen in seine Abwägung eingestellt und zutreffend gewichtet. Insbesondere hat er die Bedeutung des Visumverfahrens als Steuerungsinstrument der Zuwanderung und die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet zu seiner Ehefrau und seinen Kindern mit dem entsprechenden Gewicht berücksichtigt. Relevant ist bei der Interessenabwägung insbesondere, ob an einem nicht durch ein Visumverfahren unterbrochenen Aufenthalt des Ausländers ein öffentliches oder grundrechtlich geschütztes privates Interesse besteht und ob im konkreten Einzelfall das Nachholen des Visumverfahrens mit dem dahinterstehenden Grundgedanken noch vereinbar ist oder umgekehrt ohne Schaden von ihm abgewichen werden kann (BayVGH, B.v. 9.9.2013 – 10 CS 13.1448 – juris Rn. 11). Gegen ein Absehen vom Visumerfordernis sprechen hier insbesondere Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Kläger durch die Einreise mit einem Schengen-Visum zu Besuchszwecken vollendete Tatsachen schaffen wollte (s.o.). Soll das Visumverfahren als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung seine Funktion wirksam erfüllen können, dürfen in die Interessenabwägung auch generalpräventive Aspekte einfließen (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23/09 – juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 9.9.2013 – 10 CS 13.144 – juris; BayVGH, B.v. 28.05.2015 – 10 CE 14.2123 – juris). Demgegenüber wiegen die privaten Interessen des Klägers nicht so schwer. Er hat bis April 2019 in seinem Heimatland Türkei gelebt, obwohl er mit seiner Ehefrau bereits seit dem Jahr 2010 verheiratet ist und seine Kinder bereits im Jahr 2012 bzw. 2016 im Bundesgebiet geboren wurden. Der Schutz von Ehe und Familie sowie des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wird nicht in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt, wenn der Antragsteller zum Zwecke der Durchführung des Visumverfahrens in sein Heimatland zurückkehrt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. B.v. 25.4.2014 – 10 CE 14.650 – juris) davon aus, dass weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK einen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewähren und dass es mit den in den genannten Bestimmungen enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznormen grundsätzlich vereinbar ist, Ausländer, die nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sind, auf die Einholung dieses Visums zu verweisen. Nur wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen. Derartige Gesichtspunkte liegen hier nicht vor. Der Kläger kann in sein Heimatland, in dem er bisher ohne seine Ehefrau und seine Kinder gelebt hat, zurückkehren, zumal dies nur für den Zeitraum erforderlich ist, der benötigt wird, um ordnungsgemäß das Visumverfahren zu durchlaufen bzw. ggf. die staatsbürgerliche Verpflichtung zum Wehrdienst zu erfüllen. Die im Bundesgebiet lebende Ehefrau und die Kinder des Klägers sind nicht auf eine Betreuung durch den Kläger angewiesen (s.o.). Auch ist ihnen eine Trennung von sechs bis zwölf Monaten zumutbar, zumal die Kinder in einem Alter sind, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter der Trennung verstehen können (s.o.).
Dass der Beklagte im Rahmen der Abwägung angesichts der Bedeutung des Visumverfahrens und insbesondere der generalpräventiven Aspekte aufgrund der bewussten Umgehung des Visumverfahrens durch den Kläger zu dem Ergebnis gekommen ist, dass auf eine Nachholung des Visumverfahrens im konkreten Einzelfall nicht verzichtet wird, ist nach alledem nicht zu beanstanden.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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