Europarecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag des BAMF bzgl. Rückführung einer Familie mit zwei Kindern nach Italien

Aktenzeichen  13a ZB 18.30891

Datum:
19.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30404
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 78 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Die Zusicherung einer altersgerechten und die Familieneinheit wahrenden Unterbringung ist geeignet, die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung auszuschließen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach BVerfG ist nicht hinreichend ersichtlich, wo und wie die italienischen Behörden eine kind- und familiengerechte Unterbringung ermöglichen könnten und es kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass sofort nach Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft besteht (BVerfG BeckRS 2019, 25217 Rn. 23). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 8 K 17.33886 2018-03-07 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. März 2018 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
Die Beklagte hat ihren Zulassungsantrag mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) begründet und folgende Tatsachen- und Rechtsfragen aufgeworfen:
– „ob für [Familien mit minderjährigen Kindern, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt wurde], bei Rückkehr die reale Gefahr besteht, hinsichtlich Unterkunft und Auskommen in eine entsprechend prekäre Situation zu geraten“.
– „ob der italienische Staat dem in einer Weise gleichgültig gegenübersteht, dass ohne Zusicherung einer altersgerechten und die Familieneinheit wahrenden Unterbringung eine mit Art. 3 EMRK nicht vereinbare Situation zu befürchten ist.“
– „ob die Einholung einer solchen Zusicherung in die Zuständigkeit des Bundesamtes oder die der eine Rückführung vollziehenden Ausländerbehörde fällt“.
– „ob das Vorliegen einer solchen Zusicherung im Rahmen der Prognose zielstaatsbezogener Gefahrenlagen einzubeziehen ist.“
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Die erste und zweite Frage wurden spätestens mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2019 (2 BvR 1380/19 – juris Rn. 20 ff.) geklärt und sind damit nicht (mehr) klärungsbedürftig. Unter wörtlicher Zitierung seiner Entscheidung vom 17. September 2014 (2 BvR 732/14 – juris Rn. 15 f.) und der Darstellung der Genese der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der Reaktion der italienischen Behörden hierauf, kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass nicht hinreichend ersichtlich sei, wo und wie die italienischen Behörden eine kind- und familiengerechte Unterbringung ermöglichen könnten und nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden könne, dass sofort nach Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft bestehe (B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23). Zunächst hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 4. November 2014 (Tarakhel v. Swizerland, Nr. 29217/12, Rn. 122) in Dublin-Verfahren vor einer Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern die Einholung einer konkret-individuellen Zusicherung zur kind- und familiengerechten Unterbringung ohne Zeitverzug verlangt. Nach den in Reaktion hierauf erfolgten Zusicherungen der italienischen Behörden vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015 zur Unterbringung von Familien in sog. SPRAR-Unterkünften (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati), hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil vom 4. Oktober 2016 (Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, Rn. 34) vom Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung der italienischen Behörden wieder abgesehen. Die Situation in Italien habe sich seit dem Erlass des sog. Salvini-Dekrets Ende 2018 jedoch erneut in entscheidungserheblicher Weise verändert, da die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug genommenen SPRAR-Unterkünfte Asylsuchenden mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger seit Erlass des Salvini-Dekrets nicht mehr zur Verfügung stünden (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 unter Hinweis auf Schweizerische Flüchtlingshilfe – SFH, Bericht vom 8.5.2019 und Danish Refugee Council/Swiss Refugee Council, Bericht vom 12.12.2018). Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (Centri di accoglienza straordinari = CAS und Centri di accoglienza per richiedenti asilo = CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisteten, könne nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Auch unter Berücksichtigung der neuerlichen allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 – nach Erlass des sog. Salvini-Dekrets – sei nicht mehr hinreichend ersichtlich, wo und wie die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation eines (Klein-) Kindes angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen könnten. Weiter könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass Familien mit Kindern sofort nach ihrer Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft hätten und sei damit das Risiko einer vorübergehenden Obdachlosigkeit einer Familie – insbesondere vor dem Hintergrund der im italienischen Verwaltungsverfahren bestehenden hohen Hürden – nachvollziehbar (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23). Auch die Anfragebeantwortung von ACCORD vom 18. September 2020 zur Rücknahme und Unterstützung von Personen mit in Italien zuerkanntem internationalen Schutzstatus, insbesondere von Familien mit Kindern, kommt zu dem Schluss, dass im Hinblick auf die staatliche Unterstützung von Personen mit internationalem Schutz es nur wenige Plätze in staatlichen Unterkünften gebe, die generell nur temporär seien (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Beweisbeschluss des HessVGH v. 23.4.2020 – 3 A 539/20.A – S. 8 f. unter Anführung von SFH, Aufnahmebedingungen in Italien. Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, in Italien v. 1.1.2020, S. 62). Es erscheint daher nach wie vor höchst wahrscheinlich, dass ohne individuelle und konkrete Zusicherung von Seiten der italienischen Behörden eine nach Italien zurückgeführte Familie jedenfalls nach ihrer Ankunft zunächst obdachlos sein wird. Weitergehende oder auch nur den aktuellen Stand der Verhandlungen der Beklagten mit den italienischen Behörden wiedergebende Informationen hat die Beklagte seit der Stellung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung entgegen ihrer allgemeinen Prozessförderungspflicht (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 86 Rn. 11) bzw. er sie trotz der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht treffenden Mitwirkungslast (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 86 Rn. 45) nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO nicht mitgeteilt, so dass insoweit im Rahmen des Zulassungsverfahrens im Rahmen der Amtsermittlung die Heranziehung möglichst aktueller und zugänglicher Erkenntnismittel ausreichend erscheint. Der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht zu einem sog. Dublin-Verfahren entschieden hat (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 a AsylG), es sich vorliegend aber um ein Verfahren der sog. Sekundärmigration handelt (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), steht einer Heranziehung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deshalb nicht entgegen, da Personen im Dublin-Verfahren weitergehende rechtliche (gemeinschaftsrechtliche) Garantien genießen, so dass für den Fall, dass für Dublin-Verfahren eine individuell-konkrete Zusicherung erforderlich ist, dies erst recht für Fälle anerkannter Schutzsuchender zu gelten hat (zum umgekehrten Fall der notwendigen Berücksichtigung der zu erwartenden Lebensumstände für den Fall einer späteren Zuerkennung internationalen Schutzes bereits im Dublin-Verfahren vgl. BVerfG, B.v. 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 – NVwZ 2020, 475 = juris Rn. 19 ff. unter Hinweis auf EuGH, 19.3.2019 – C-163/17 – Jawo sowie VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5).
Auch die dritte Frage ist nicht klärungsbedürftig, da das Bundesverfassungsgericht hierzu bereits im Jahr 2014 entschieden hat, dass für den Fall, dass aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen oder des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer im sicheren Drittstaat bestehen, die auf deutscher Seite für die Abschiebung zuständige Behörde dem angemessen Rechnung zu tragen und bei Vorliegen einer solchen Auskunftslage das zuständige Bundesamt angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen hat, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 15 f.). Dass diese Grundsätze auch aktuell fortgelten, zeigt die wortwörtliche Zitierung dieser Passage im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2019 (2 BvR 1380/19 – juris Rn. 20). Auch die seither erfolgten Änderungen im Asyl(Verfahrens) gesetz und im Aufenthaltsgesetz betreffen nicht die hier in Frage stehende Zuständigkeit des Bundesamts.
Schließlich bedarf auch die vierte von der Beklagten aufgeworfene Frage, ob das Vorliegen einer solchen Zusicherung im Rahmen der Prognose zielstaatsbezogener Gefahrenlagen einzubeziehen ist, keiner Klärung in einem Berufungsverfahren, da sich ihre Beantwortung ohne weiteres aus der gesetzlichen Rechtslage und der hierzu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung ergibt. Eine derartige Zusicherung vermag die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung bzw. Rückführung im Sinn von Art. 3 EMRK, § 60 Abs. 5 AufenthG und damit im Ergebnis eine die Würde der Kläger entgegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG verletzenden Behandlung im Zielstaat, die die Beklagte durch das hierfür zuständige Bundesamt nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zu verhindern hat, auszuschließen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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