Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Abschiebungsbescheid wegen Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 10 K 15.50415

Datum:
15.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 71a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, muss die Folgen tragen (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid der Beklagten – … – vom 2. April 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Über die Klage kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO schriftlich entschieden werden. Der Bevollmächtigte des Klägers hat sich hiermit unter dem 15. Februar 2016 einverstanden erklärt; die Beklagte hat mit Schreiben vom 29. Juni 2015 allgemein für erstinstanzliche Asylstreitverfahren auf mündliche Verhandlung verzichtet.
2. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 2. April 2015 ist im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); die Überstellungsfrist nach Bulgarien im Rahmen des Dublin-Verfahrens ist zwischenzeitlich abgelaufen.
a) Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf das am 24. November 2014 gestellte Schutzgesuch des Klägers.
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag des Klägers im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung am 2. April 2015 unzulässig war und seine Abschiebung nach Bulgarien angeordnet werden durfte, ist die Bundesrepublik jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedsstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B. v. 11.05.2015 ‒ 13a ZB 15.50006 ‒ Rn. 4 f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedsstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Rechtskraft des Beschluss vom 25. Juni 2015, den Beteiligten jeweils zugestellt am 9. Juli 2015, mit dem das Gericht den unter dem Az. M 10 S 14.50416 geführten Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage unanfechtbar (§ 80 AsylG) abgelehnt hat.
Auch sind keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ersichtlich. Ob aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger zumindest zeitweise im „Kirchenasyl“ in der Pfarrei St. … in … befand, eine Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO möglich gewesen wäre, kann insoweit dahin stehen. Denn nach Art. 29 Abs. 4 Dublin-III-VO i. V. m. Art. 9 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 i. d. F. der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 vom 30. Januar 2014 hätte das Bundesamt die bulgarischen Behörden über die Fristverlängerung vor Ablauf der Sechsmonatsfrist informieren müssen (vgl. VG München, B. v. 11.3.2015 – M 11 S7 15.50189 – juris Rn. 10). Dass dies geschehen ist, geht aus den Akten nicht hervor und wurde vom Bundesamt auch nicht behauptet. Dem Bundesamt wurde mit gerichtlichem Schreiben vom 14. Januar 2016 das Schreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 11. Januar 2016 zugeleitet, mit dem der Ablauf der Überstellungsfrist geltend gemacht wurde; das Gericht stellte dem Bundesamt anheim, den streitgegenständlichen Bescheid vom 2. April 2015 aufzuheben. Das Bundesamt hat darauf bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht reagiert. Es kann daher nicht angenommen werden, dass es die bulgarischen Stellen rechtzeitig informiert hat.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass eine Umdeutung des „Dublin-Bescheids“ vom 2. April 2015 in eine ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylVfG aus prozessualen und materiellen Gründen nicht in Betracht kommt (BayVGH, B. v.18.05.2015 ‒ 11 ZB 14.50053 ‒ juris Rn. 15 ff.).
b) Der Kläger ist durch den Bescheid vom 2. April 2015 (nunmehr) auch in seinen Rechten verletzt. Zwar begründen die Bestimmungen der Dublin-III-VO grundsätzlich keine subjektiven Rechten des Schutzsuchenden. Sie dienen allein der internen Verteilung der Lasten und Verantwortung unter den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Wenn allerdings die Überstellungsfrist abgelaufen und der ursprünglich zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Übernahme bereit ist, besteht allein die Zuständigkeit der Beklagten. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens kann dann als notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend gemacht werden (vgl. VG Düsseldorf, U. v. 05.05.2015 ‒ 22 K 2179/15.A ‒ juris Rn. 15).
3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG stattzugeben.
4. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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