Europarecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  W 3 S 17.50035

Datum:
23.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 10, Art. 13 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1
GG GG Art. 6
EMRK EMRK Art. 3, Art. 8

 

Leitsatz

1 In grundrechtlich überlagerten Konstellationen ist ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nicht von vornherein ausgeschlossen. Hierzu können insbesondere der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und das Recht auf Wahrung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK zählen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es kann ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geben.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei Schwangeren als besonders schutzbedürftigen Personen ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen, wenn zuvor eine individuelle Garantie eingeholt wurde, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist äthiopische Staatsangehörige. Sie reiste im August 2016 nach eigenen Angaben von Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 25. August 2016 einen Asylantrag. Am 6. Oktober 2016 wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ein Übernahmeersuchen an Italien gerichtet, auf das die italienischen Behörden nicht reagierten.
Mit Bescheid vom 16. Januar 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 erfolgte eine Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes.
Auf die Begründung des Bescheides, der am 18. Januar 2017 zugestellt wurde, wird Bezug genommen.
Am 25. Januar 2017 ließ die Antragstellerin Klage erheben (W 3 K 17.50034) Gleichzeitig stellte sie den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Antragstellerin sei schwanger. Außerdem lebe die Antragstellerin mit ihrem religiös angetrauten Ehemann in ehelicher Lebensgemeinschaft in … … Im Asylverfahren des Ehemannes sei noch keine Entscheidung ergangen. Eine Abschiebung der Antragstellerin würde zu einer Verletzung der Rechte aus Art. 10 Dublin III-VO sowie der Rechte der Antragstellerin als auch der ihres Ehemannes aus Art. 8 EMRK, Art. 6 GG führen. Die Antragstellerin habe daher einen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO und auf den Verzicht einer Überstellung nach Italien. Die Abschiebung der Antragstellerin nach Italien würde zu einer dauerhaften Trennung des noch ungeborenen Kindes von seinem Vater führen. Es bestehe daher zumindest ein inländisches Abschiebungshindernis.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Auf Anfrage des Gerichts teilte das Bundesamt mit, eine Abhilfe komme nicht in Betracht. Die familiäre Beziehung habe vermutlich im Heimatland noch nicht bestanden und es gebe aktuell die Anweisung, an der Überstellung von Schwangeren nach Italien festzuhalten. Auf Schwangere sei die Tarakhel -Rechtsprechung nicht anzuwenden, sondern es sei allein auf die Mutterschutzfristen abzustellen. Außerdem sei wie in allen Fällen die Reisefähigkeit zu prüfen und eine Information über die Schwangerschaft an den Mitgliedsstaat zu übersenden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die dem Gericht in elektronischer Form vorliegende Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
Der Antrag ist begründet, da bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes vom 16. Januar 2017 bestehen. Daher überwiegt das Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse.
Im Einzelnen gilt dazu Folgendes:
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin IIIVO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Italien ist gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin IIIVO der zuständige Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine Überstellung eines Asylbewerbers an einen anderen Mitgliedsstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des (rück-)überstellten Asylsuchenden im Sinne von Art. 4 Grundrechte-Charta (GR-Charta) zur Folge hätte (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – juris). Diese Rechtsprechung hat ihren Niederschlag in Art. 3 Abs. 2 UA 2 der Dublin III-VO gefunden.
Das Gericht geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. Das Gericht folgt den insoweit zutreffenden Ausführungen des angefochtenen Bescheides (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Ungeachtet der Zuständigkeit eines anderen Staates kann jeder Mitgliedsstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgestellten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO). Ein Grund für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts kann insbesondere vorliegen, wenn Familienangehörige in einem Mitgliedsstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, über den noch keine Erstentscheidung ergangen ist (vgl. Art. 10 Dublin III-VO). Bei der Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der das Gericht nach § 114 VwGO auch prüft, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung, oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.
Die Begründung im Bescheid, weshalb das Selbsteintrittsrecht nicht ausgeübt wird, ist zur Überzeugung des Gerichts nicht tragfähig. Das Bundesamt geht davon aus, dass es sich bei dem Lebensgefährten der Antragstellerin nicht um einen Familienangehörigen nach Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO handelt. Dies ist aber nicht zutreffend. Nach dieser Vorschrift sind „Familienangehörige“ insbesondere der Ehegatte der Antragstellerin oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedsstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Bei moslemischen Asylantragstellern aus Äthiopien sind sog. „Imam-Ehen“ weit verbreitet und werden im Regelfall in Deutschland auch als „gültig“ anerkannt. Der Antragstellerin vorzuhalten, dass sie keinen Nachweis über die Eheschließung vorgelegt habe, erscheint vor diesem Hintergrund, sowie der Tatsache, dass die Antragstellerin bereits bei ihrer Asylantragstellung angegeben hat, dass sie verheiratet sei und auch den Namen des Ehemannes genannt hat, ermessensfehlerhaft.
Zwar geht der Europäische Gerichtshof davon aus, dass den Dublin-Zuständigkeitsvorschriften grundsätzlich keine drittschützende Wirkung zukommt (EuGH, U.v. 10.12.2013 – Abdullahi, C-394/12 – NVwZ 2014, 208 ff.) und spricht auch dem Selbsteintrittsrecht (damals Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO) insofern drittschützende Wirkung ab, als er in der Rechtssache Puid bei Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedsstaat aufgrund von systemischen Mängeln einen Anspruch auf Prüfung des Asylantrags auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO verneint (EuGH, U.v. 14.11.2013 – Puid, C-4/11 – NVwZ 2014, 129 f.). Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass auch in grundrechtlich überlagerten Konstellationen ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO von vornherein ausgeschlossen ist (so auch VG Würzburg, Ue.v. 23.5.2014 – W 7 K 14.30072 und W 7 K 14.50041 –). Drittschutz muss zumindest in den Konstellationen anerkannt werden, in denen schützenswerte Belange der Antragstellerin einer Überstellung an einen anderen Mitgliedsstaat entgegenstehen können. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass es ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts geben kann (BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13 aB 13.30295 – juris). Bei der Antragstellerin kommt hier insbesondere der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG und das Recht auf Wahrung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) in Betracht.
Im Hinblick darauf begegnet auch die Feststellung, dass keine Abschiebungshindernisse vorliegen (Ziffer 2 des Bescheides) ernstlichen Zweifel.
Bereits aus vorstehenden Gründen dürfte Ziffer 3 des Bescheides rechtswidrig sein. Jedenfalls ist aber die Abschiebungsanordnung aus folgenden Gründen rechtswidrig:
Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris, Rn. 11; BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris).
Die Antragstellerin hat nachgewiesen, dass sie schwanger ist. Damit gehört sie zu den besonders schutzbedürftigen Personen i.S.d. Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie). Die Mitgliedsstaaten müssen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie z.B. Schwangeren berücksichtigen.
In seiner Entscheidung vom 4. November 2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – hat der EGMR ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens Befürchtungen zulassen, dass im Einzelfall Asylsuchende ohne Unterkunft bleiben bzw. in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (Rn. 114, 115). Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten (Rn. 120, 122). Weder an der Zahl der Flüchtlinge noch an den Aufnahmebedingungen in Italien haben sich nach Kenntnis des Gerichts gegenüber dem Zeitpunkt der Tarakhel – Entscheidung wesentliche Änderungen ergeben.
Das Gericht geht im Hinblick auf diese Ausführungen davon aus, dass auch bei der Antragstellerin als besonders schutzbedürftige Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt würden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind. Solche Garantien liegen nicht vor. Auch aus diesen Gründen überwiegt das Interesse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG stattzugeben.


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