Europarecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Tschechische Republik)

Aktenzeichen  W 8 S 17.50867

Datum:
9.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 387
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
AufenthG § 60a Abs. 2c
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Ohne eine individuelle Garantieerklärung der tschechischen Behörden zur Weiterbehandlung einer begonnenen Tumorthearpie eines minderjährigen Asylbewerbers in einem spezialisierten kinderonkologischen Zentrum besteht dauerhaft eine rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung in die Tschechische Republik. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Dezember 2017 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Den Antragstellern wird sowohl für das vorliegende Sofortverfahren als auch für das Klageverfahren W 8 K 17.50866 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt K., T. Straße 9, 9. W., beigeordnet.

Gründe

I.
Die Antragsteller sind armenische Staatsangehörige. Sie reisten angeblich am 24. September 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 27. September 2017 Asylanträge.
Da nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vorlagen, wurde am 1. Dezember 2017 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an die Tschechische Republik gerichtet. Die tschechischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 15. Dezember 2017 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 2017 lehnte die Antragsgegnerin die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung in die Tschechische Republik wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf drei Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 29. Dezember 2017 ließen die Antragsteller im Verfahren W 8 K 17.50866 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren – neben Prozesskostenhilfe – beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung ließen die Antragsteller unter Vorlage ärztlicher Unterlagen im Wesentlichen vorbringen: Der Antragsteller zu 3) sei nach einer Unterschenkelamputation stationär untergebracht, da eine kontinuierliche Kontrolle der Wunde und Verbände erfolgen müsse. Eine intensive Chemotherapie sei bereits begonnen worden und müsse fortgesetzt werden. Das Kind sei hochgradig infektanfällig. Der Antragsteller zu 3) sei reiseunfähig.
Mit Schriftsatz vom 6. Januar 2018 ließen die Antragsteller auf gerichtliche Nachfrage noch eine Stellungnahme des Universitätsklinikums Würzburg vom 4. Januar 2018 vorlegen. Dort ist im Wesentlichen ausgeführt: Unter laufender Chemotherapie bestehe aufgrund des hohen Infektionsrisikos keine Transportfähigkeit. Aufgrund der medizinisch erforderlichen Tumoroperation bestehe derzeit noch die Notwendigkeit der postoperativen Versorgung. Die Extremitäten seien auch mit Prothese noch nicht belastbar. Unter Voraussetzung der erfolgten Wundheilung, der mechanischen Stabilisation und der durchzuführenden Chemotherapie könne eine Transportfähigkeit voraussichtlich in zwölf Wochen erreicht werden. Die Voraussetzung für eine Überstellung nach Tschechien seien die Transportfähigkeit sowie die garantierte Übernahme in ein kinderonkologisches Zentrum in Tschechien, das die medizinisch weitere Tumorbehandlung bis zum Abschluss des Protokolls weiter protokollgerecht durchführe. Die Behandlung eines Kindes mit einem seltenen Knochentumor sei nur in einem hochspezialisierten kinderonkologischen Zentrum möglich. In der Tschechischen Republik bestehe das einzige dem Gutachter bekannte Zentrum in der Landeshauptstadt Prag. Eine Verlegung müsse gegebenenfalls direkt dorthin erfolgen. Bei nicht rechtzeitig fortgeführter/durchgeführter Therapie (Therapieverzug durch Verlegung) könne es zur Rückfallerkrankung und damit zum sicheren Tod des Patienten kommen. Der Antragsteller zu 3) leide an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, sei minderjährig und unterliege deshalb besonderer medizinischer und juristischer Sorgfaltspflicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50866) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragsteller ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 18. Dezember 2017 begehren.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides – ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Dezember 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten, so dass das private Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Tschechische Republik ist nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller.
Wird ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt, hat das Bundesamt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG weiter festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dabei sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu berücksichtigen. Dies gilt auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen oder Duldungsgründen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – Asylmagazin 2014, 341).
Im Hinblick auf die durch qualifizierte ärztliche Bescheinigungen (§ 60a Abs. 2c AufenthG) belegten Behandlungserfordernisse, den Schweregrad der Erkrankung sowie den Folgen, die sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine Abschiebung des Antragstellers zu 3) nach Tschechien nicht durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG). Denn den vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen (vgl. zuletzt Universitätsklinikum Würzburg vom 4.8.2018 und vom 28.12.2017 sowie die weiteren ärztlichen Unterlagen in der Bundesamtsakte) ist zweifelsfrei folgende Diagnose zu entnehmen: Osteosarkom der linken proximalen Tibia, hohe Aggressivität, histologischer Grad 3, ED 10/2017, keine Fernmetastasierung, Zustand nach pathologischer Fraktur der linken Tibia, Weichteilinfektion des linken Unterschenkels. Die medizinisch notwendige Therapie wird wie folgt beschrieben: Chemotherapie nach EURAMAS-COSS-Protokoll seit dem 10.10.2017, vorgezogene Unterschenkelamputation wegen lokaler Weichteilinfektion.
Des Weiteren ist in der ärztlichen Stellungnahme des Universitätsklinikums Würzburg vom 4. Januar 2018 betreffend Antragsteller zu 3) überzeugend und nachvollziehbar ausdrücklich ausgeführt: Unter laufender Chemotherapie bestehe aufgrund des hohen Infektionsrisikos keine Transportfähigkeit. Aufgrund der medizinisch erforderlichen Tumoroperation bestehe derzeit noch die Notwendigkeit der postoperativen Versorgung. Die Extremitäten seien auch mit Prothese noch nicht belastbar. Unter Voraussetzung der erfolgten Wundheilung, der mechanischen Stabilisation und der durchzuführenden Chemotherapie könne eine Transportfähigkeit voraussichtlich in zwölf Wochen erreicht werden. Die Voraussetzung für eine Überstellung nach Tschechien seien die Transportfähigkeit sowie die garantierte Übernahme in ein kinderonkologisches Zentrum in Tschechien, das die medizinisch weitere Tumorbehandlung bis zum Abschluss des Protokolls weiter protokollgerecht durchführe. Die Behandlung eines Kindes mit einem seltenen Knochentumor sei nur in einem hochspezialisierten kinderonkologischen Zentrum möglich. In der Tschechischen Republik bestehe das einzige dem Gutachter bekannte Zentrum in der Landeshauptstadt Prag. Eine Verlegung müsse gegebenenfalls direkt dorthin erfolgen. Bei nicht rechtzeitig fortgeführter/durchgeführter Therapie (Therapieverzug durch Verlegung) könne es zur Rückfallerkrankung und damit zum sicheren Tod des Patienten kommen. Der Antragsteller zu 3) leide an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, sei minderjährig und unterliege deshalb besonderer medizinischer und juristischer Sorgfaltspflicht.
Infolgedessen besteht für den Antragsteller zu 3) zumindest eine vorübergehende Reise- und Transportunfähigkeit und damit ein entsprechendes Abschiebungshindernis.
Darüber hinaus bestünde nach den vorliegenden ärztlichen Erkenntnissen nur dann kein dauerhaftes Abschiebungshindernis, wenn bei einer Überführung nach Tschechien eine garantierte Übernahme in ein spezialisiertes kinderonkologisches Zentrum erfolgen würde, das die medizinisch weitere Tumorbehandlung (Chemotherapie in fünf weiteren Zyklen) bis zum Abschluss des Protokolls protokollgerecht durchführe, insbesondere des bekannten Zentrums in der Landeshauptstadt Prag. Ohne eine entsprechende dahingehende individuelle Garantieerklärung, also eine konkrete und einzelfallbezogene Garantieerklärung seitens der tschechischen Behörden zur Weiterbehandlung des Antragstellers zu 3) in einem spezialisierten kinderonkologisches Zentrum, besteht hingegen dauerhaft eine rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung in die Tschechische Republik.
Im Hinblick auf Art. 1, 2 und 3 GG resultiert aus der zumindest vorübergehenden Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 3) ein ebenfalls zumindest temporäres Abschiebungshindernis für alle Antragsteller, so dass auch insoweit eine Abschiebung zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt nicht durchgeführt werden kann. Eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemäß dem in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Ehe und Familie unzulässig, zumal der Antragsteller zu 3) angesichts seiner schweren Krankheit und der damit verbundenen Umstände auf die Unterstützung durch seine Eltern angewiesen ist.
Nach alledem war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Schließlich war – nach den vorstehenden Ausführungen – wegen der gegebenen Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten stattzugeben (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 und § 121 Abs. 2 ZPO). Dies gilt sowohl für das vorliegende Antragsverfahren als auch für das Klageverfahren W 8 K 17.50866. Nach der vorgelegten Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragsteller sind diese nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung zu tragen.


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