Europarecht

Fremdrentenrecht – Spätaussiedler – Zusammentreffen von eigener Rente mit Hinterbliebenenrente – Begrenzung der Entgeltpunkte – rückwirkende Rechtsänderung – Diskriminierungsverbot – Verfassungsmäßigkeit

Aktenzeichen  B 13 R 49/10 R

Datum:
20.7.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2011:200711UB13R4910R0
Normen:
§ 14a FRG
§ 22b Abs 1 S 1 FRG vom 21.07.2004
§ 22b Abs 1 S 1 FRG vom 25.09.1996
§ 22b Abs 1 S 3 FRG
Art 6 § 4 Abs 4a FANG
§ 1 BVFG
§ 4 BVFG
Art 15 Abs 3 RVNG
§ 46 SGB 6
§ 117 SGB 6
§ 250 SGB 6
§ 31 Abs 2 BVerfGG
Art 14 Abs 1 GG
Art 51 Abs 1 EUGrdRCh
Art 14 MRK
Art 1 Nr 1 MRKZProt
Spruchkörper:
13. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Berlin, 28. Juli 2003, Az: S 3 RA 5529/02, Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin, 17. September 2004, Az: L 5 RA 74/03, Urteil

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. September 2004 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über die Zahlung einer Witwenrente.
2
Die Klägerin ist die Witwe ihres im Jahre 1976 in der Sowjetunion verstorbenen Ehemanns G. S. (nachfolgend: S.). Die Eheleute legten sämtliche Beschäftigungszeiten in der Sowjetunion zurück. Die Klägerin reiste am 17.12.2000 in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde als Spätaussiedlerin anerkannt.
3
Seit dem Tag ihrer Einreise bezieht die Klägerin eine Altersrente für Frauen unter Berücksichtigung von anrechenbaren Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG), wobei die Beklagte (unter ihrer damaligen Bezeichnung Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) die ermittelten Entgeltpunkte (EP) gemäß § 22b Abs 1 Satz 1 FRG idF des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25.9.1996 (BGBl I 1461; im Folgenden: aF) auf den Höchstwert von 25 EP begrenzte (Bescheide vom 8.11.2001 und 25.4.2002). Mit Bescheid vom 6.12.2001 erkannte die Beklagte zudem einen Anspruch der Klägerin auf große Witwenrente ab 17.12.2000 dem Grunde nach an, begrenzte die für diese Rente ermittelten 28,4223 EP gemäß § 22b Abs 1 Satz 1 FRG aF auf 25 EP und lehnte ebenfalls unter Hinweis auf diese Bestimmung die Zahlung ab, weil der Höchstwert von 25 EP für anrechenbare Zeiten nach dem FRG bereits vorrangig bei ihrer Altersrente berücksichtigt worden sei. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.7.2002).
4
Das SG hat ihre Klage auf Auszahlung der Witwenrente abgewiesen (Urteil vom 28.7.2003). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 17.9.2004). Nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischer Interpretation sowie nach Sinn und Zweck der Regelung des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG aF habe die Klägerin kein abgeleitetes Recht auf Hinterbliebenenrente, da in ihrer Altersrente aus eigener Versicherung bereits 25 EP für Zeiten nach dem FRG berücksichtigt seien. Das ergebe sich zudem aus der Vorschrift des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG idF des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes (RVNG – vom 21.7.2004, BGBl I 1791; im Folgenden: FRG nF). Diese klarstellende Neufassung sei ohne Verfassungsverstoß hier anzuwenden, auch wenn sie erst nach Erlass der angefochtenen Bescheide verkündet worden sei.
5
Die Klägerin bezieht sich mit ihrer vom LSG wegen Divergenz zugelassenen Revision auf die Entscheidungen des BSG vom 30.8.2001 (B 4 RA 118/00 R – BSGE 88, 288 = SozR 3-5050 § 22b Nr 2) und vom 11.3.2004 (B 13 RJ 44/03 R – BSGE 92, 248 = SozR 4-5050 § 22b Nr 1). Es sei kein Grund dafür ersichtlich, weshalb Vertriebene oder Spätaussiedler anders behandelt werden dürften als die übrigen Deutschen iS des Art 116 Abs 1 GG. Eine Diskriminierung Vertriebener dürfe nicht stattfinden, solange die Witwenrente nicht ganz abgeschafft sei. Die Nichtzahlung der mit rechtsverbindlichem Feststellungsverwaltungsakt bewilligten Witwenrente verstoße zudem gegen Art 14 GG. Außerdem ergebe sich bereits aus der “Formulierung des Gesetzestextes” und der “Systematik der Vorschrift”, dass Hinterbliebenenrenten, die keine Fremdrenten seien, “von § 22 FRG nicht erfasst werden”. Die Bemühungen des “Verwaltungsgerichts”, den Begriff des “Berechtigten” heranzuziehen, seien nicht zu hören, weil es sich bei der Witwe nicht um einen “Berechtigten” im Sinne des FRG handele; ein Spätaussiedler hätte auch eine Nichtspätaussiedlerin heiraten und vor dieser versterben können.
6
           
Die Klägerin beantragt,
        
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 17. September 2004 und des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 6. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 2002 zu verurteilen, ihr die dem Grunde nach anerkannte Witwenrente zu zahlen.
7
           
Die Beklagte beantragt,
        
die Revision zurückzuweisen.
8
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
9
Der vormals für das Verfahren zuständige 4. Senat des BSG hat mit Beschluss vom 27.4.2006 das Revisionsverfahren in entsprechender Anwendung von § 114 Abs 2 Satz 1 SGG ausgesetzt, da die zu erwartende Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 22b FRG nF vorgreiflich sei. Mit Beschluss vom 19.4.2011 hat der – nunmehr zuständig gewordene – erkennende Senat im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des BVerfG vom 21.7.2010 (BVerfGE 126, 369 = SozR 4-5050 § 22b Nr 9) die Aussetzung aufgehoben.
10
Die Klägerin sieht trotz der Entscheidung des BVerfG weiteren Klärungsbedarf und trägt dazu ergänzend vor: Bislang sei nicht berücksichtigt worden, ob § 250 SGB VI dazu führe, dass für sie Ersatzzeiten bis 1992 anzuerkennen seien und deshalb unabhängig von FRG-Zeiten zumindest eine Teilgewährung von Witwenrente zu erfolgen habe. Unabhängig von der Problematik einer rückwirkenden Inkraftsetzung des § 22b FRG nF sei jedenfalls Art 3 GG verletzt, weil sie aufgrund ihres besonderen Vertreibungsschicksals schlechter gestellt werde als Deutsche, die dieses Schicksal nicht erlitten hätten. Die Witwenrente sei eine Unterhaltsersatzleistung; deshalb könne eine verwitwete Spätaussiedlerin beanspruchen, ohne Diskriminierung mit allen anderen Witwen gleich behandelt zu werden. Mit diesem Aspekt hätten sich das BVerfG und das BSG bislang nicht befasst. Außerdem verstoße der Entzug der Witwenrente unter Hinweis auf einen Anspruch auf eigene Rente nach dem FRG sowohl gegen die Gleichbehandlung aufgrund der Europäischen Grundrechtscharta (GRCh) als auch gegen Art 1 des Protokolls Nr 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).


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