Europarecht

Kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für einen drittstaatsangehörigen Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers

Aktenzeichen  10 BV 18.281

Datum:
25.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15913
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AEUV Art. 20, Art. 21 Abs. 1
RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 2 lit. d
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 5 Abs. 1 S. 1, § 11
AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, § 25 Abs. 5

 

Leitsatz

Zur wirksamen Ausübung des Freizügigkeitsrechts ist ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten eines drittstaatsangehörigen, die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteils nicht erforderlich, wenn diesem ein nationaler Aufenthaltstitel erteilt wurde bzw. auf Antrag erteilt werden würde. (Rn. 33)
Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten des drittstaatsangehörigen „Familienangehörigen“ eines Unionsbürgers besteht zudem grds. nur dann, wenn es erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben kann. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 17.1538 2017-12-20 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. Dezember 2017 wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg hat der Klage mit Urteil vom 20. Dezember 2017 zu Unrecht stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltskarte analog § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU auszustellen. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Senats hierauf keinen Anspruch.
Streitgegenstand ist nach der Klarstellung des Klageantrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (nur) noch die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (analog).
§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU normiert die den drittstaatsangehörigen Familienangehörigen auszustellende Aufenthaltskarte. Die Aufenthaltskarte ist eine Aufenthaltsbescheinigung, kein Aufenthaltstitel, welche für den Familienangehörigen die Ausübung der durch das Unionsrecht zuerkannten Freizügigkeit feststellt. Sie ist, da bereits nach dem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht für Familienangehörige besteht, deklaratorischer Natur (vgl. EuGH, U.v. 12.3.2014 – O. u. B., C-456/12 – juris Rn. 60; U.v. 21.6.2011 – Dias, C-325/09 – juris Rn. 49; Brinkmann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 5 FreizügG/EU Rn. 4; Geyer in NK-Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 FreizügG/EU Rn. 3). Die Regelung des § 5 FreizügG/EU richtet sich nach den Vorgaben der sog. Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG – RL 2004/38/EG) und setzt diese in nationales Recht um. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38/EG sieht die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vor und normiert in Absatz 2 die Dokumente, deren Vorlage die Mitgliedstaaten hierfür verlangen.
I.
Ein Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in unmittelbarer Anwendung scheidet schon deswegen aus, weil der Kläger kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU bzw. Art. 3 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38/EG ist. Er ist weder Ehegatte der Kindesmutter (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, Art. 2 Nr. 2 Buchst. a RL 2004/38/EG) noch ein Verwandter in gerader aufsteigender Linie eines Unionsbürgers (hier: seines Kindes), dem von diesem Unterhalt gewährt wird (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich die Eigenschaft des Familienangehörigen, dem der aufenthaltsberechtigte Unionsbürger „Unterhalt gewährt“, aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird, so dass sich bei Vorliegen der umgekehrten Situation, in der – wie hier – dem aufenthaltsberechtigten Unionsbürgerkind vom Staatsangehörigen eines Drittstaats Unterhalt (hier: vom Kläger) gewährt wird bzw. bis zur Untersagung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit wurde, der Drittstaatsangehörige nicht auf die Eigenschaft als Verwandter in aufsteigender Linie, dem der Aufenthaltsberechtigte „Unterhalt gewährt“, im Sinne des Art. 2 Nr. 2 Buchst. d RL 2004/38/EG berufen kann, um in den Genuss eines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zu gelangen (vgl. EuGH, U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris -Lsu. Rn. 55; U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 25).
II.
Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU analog auf der Grundlage eines aus Art. 21 (1.) oder Art. 20 AEUV (2.) hergeleiteten Rechts auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat.
1. Vorliegend ist der Anwendungsbereich von Art. 21 AEUV eröffnet, denn ein grenzüberschreitender Sachverhalt ist auch dann gegeben, wenn ein Unionsbürger von Geburt an in einem anderen Mitgliedstaat lebt (vgl. EuGH, U.v. 2.10.2003 – Garcia Avello, C-148/02 – juris Rn. 28; Magiera in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 21 Rn. 25 m.w.N.).
Nachdem – wie oben dargelegt (I.) – die Richtlinie 2004/38/EG hier kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten des drittstaatsangehörigen, sorgeberechtigten und die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteils eines Unionsbürgerkindes gewährt, ist nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs zu klären, ob ein solches Aufenthaltsrecht dennoch aus den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft hergeleitet werden kann, insbesondere aus Art. 21 Abs. 1 AEUV, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Der Gerichtshof hat nämlich in bestimmten Fällen anerkannt, dass drittstaatsangehörigen „Familienangehörigen“ eines Unionsbürgers, die zwar aus der Richtlinie 2004/38/EG kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, herleiten können, dennoch auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines Rechts erreichen können (vgl. EuGH, U.v. 12.3.2014 – O. und B., C-456/12 – juris Rn. 44 ff.; U.v. 10.5.2017 – Chavez-Vilchez u.a., C-133/15 – juris Rn. 54; U.v. 14.11.2017 – Lounes, C-165/16 – juris Rn. 45 ff.; U.v. 5.6.2018 – Coman, C-673/16 – juris Rn. 23 f.; U.v. 27.6.2018 – Altiner u. Ravn, C-230/17 – juris Rn. 27 m.w.N.). Diese Bestimmung gewährt dem drittstaatsangehörigen, für einen Unionsbürger sorgenden Elternteil aber kein eigenständiges, sondern nur ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Denn der Zweck und die Rechtfertigung eines solchen abgeleiteten Rechts beruht darauf, dass seine Nichtanerkennung den Unionsbürger (hier: das Kind des Klägers) in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. EuGH, U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 68; U.v. 8.5.2013 – Ymeraga und Ymeraga-Tafarshiku, C-87/12 – juris Rn. 35; U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 22; U.v. 12.3.2014 – O. und B., C-456/12 – juris Rn. 45). Damit würde dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers jede praktische Wirksamkeit genommen, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein minderjähriges Kind notwendigerweise voraussetzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei ihm aufhalten darf und dass es demgemäß dieser Person ermöglicht wird, während des Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (vgl. EuGH, U.v. 19.10.2004 – Zhu und Chen, C-200/02 – juris Rn. 45; U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 28; U.v. 13.9.2016 – Rendon Marin, C-165/14 – juris Rn. 51).
Dabei dürfen, wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, die Voraussetzungen für die Gewährung dieses abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht strenger sein als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38/EG für einen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Diese Richtlinie ist insofern entsprechend anzuwenden (vgl. EuGH, U.v. 12.3.2014 – O. und B., C-456/12 – juris Rn. 50 und 61; U.v. 10.5.2017 – Chavez-Vilchez u. a., C-133/15 – juris Rn. 54 f.; U.v. 14.11.2017 – Lounes, C-165/16 – juris Rn. 61; U.v. 5.6.2018 – Coman, C-673/16 – juris Rn. 25).
Vorliegend leitet das Unionsbürgerkind des Klägers, welches Referenzperson dafür ist, dass einem drittstaatsangehörigen „Familienangehörigen“ (hier: seinem Vater) ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2018 – Altiner u. Ravn, C-230/17 – juris Rn. 27), sein Aufenthaltsrecht von seiner Mutter ab. Diese ist Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, da sie ausweislich der im Berufungsverfahren vorgelegten Unterlagen seit Mai 2018 (wieder) eine Beschäftigung, d.h. eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt. Die Arbeitnehmereigenschaft ist auch bei einer geringfügig entlohnten Beschäftigung nach § 7 Abs. 1 SGB V mit einem monatlichen Arbeitsentgelt von maximal 450 Euro gegeben (vgl. EuGH, U.v. 3.7.1986 – Lawrie-Blum, C-66/85 – juris Rn. 21; U.v. 21.2.2013 – L.N., C-46/12 – juris Rn. 39 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2019, Bd. IV, § 2 FreizügG/EU Rn. 28 m.w.N.). Ein Rechtsverlust infolge der aktuell schwangerschaftsbedingten Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit ist nicht eingetreten. Auch ansonsten ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses der Kindesmutter.
Das Unionsbürgerkind ist als Verwandter in gerader absteigender Linie, das das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, Familienangehöriger im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 bzw. des Art. 2 Nr. 2 Buchst. c RL 2004/38/EG, welcher ein Recht auf Aufenthalt hat, weil er einen Unionsbürger, der die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht (s. Art. 7 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/38/EG; § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Dabei ist der Begriff „begleiten oder ihm nachziehen“ dahingehend auszulegen, dass er sowohl die Familienangehörigen eines Unionsbürgers umfasst, die mit diesem in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind, als auch diejenigen, die sich mit ihm dort aufhalten, ohne dass im letztgenannten Fall danach zu unterscheiden wäre, ob die Drittstaatsangehörigen vor oder nach dem Unionsbürger oder bevor oder nachdem sie dessen Familienangehörige wurden, in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind (vgl. EuGH, U.v. 25.7.2008 – Metock, C-127/08 – juris -Ls-; zum Begriff des „Begleitens“ vgl. auch BVerwG, U.v. 28.3.2019 – 1 C 9.18 – juris Rn. 20 ff.). Demzufolge ist von einem „Nachziehen“ im Sinne der vorgenannten Vorschriften auch im Falle der Geburt eines Familienangehörigen in dem Aufnahmemitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt und arbeitet, auszugehen (vgl. 6. Erwägungsgrund zur „Einheit der Familie“).
Die Familienangehörigen sind – unabhängig von ausreichenden Existenzmitteln und Krankenversicherungsschutz, wie sich im Umkehrschluss zu § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU ergibt – solange freizügigkeitsberechtigt, wie der abhängig beschäftigte Unionsbürger nicht aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist (vgl. OVG Saarl, B.v. 5.10.2016 – 2 D 148/16 – juris Rn. 12; Oberhäuser in NK-Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3 FreizügG/EU Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2019, Bd. IV, § 3 FreizügG/EU Rn. 4 ff.). Anhaltspunkte für eine Beendigung des aktuellen Beschäftigungsverhältnisses der Kindesmutter liegen – wie oben dargelegt – nicht vor und sind auch nicht vorgetragen.
Ist aber die Referenzperson, von der der Kläger als drittstaatsangehöriger und die tatsächliche Sorge ausübender Elternteil ein Aufenthaltsrecht ableiten möchte, selbst (akzessorisch) und unabhängig von ausreichenden Existenzmitteln und Krankenversicherungsschutz freizügigkeitsberechtigt, so kann es – entgegen der Auffassung des Erstgerichts – folglich weder entscheidend darauf ankommen, ob jene durch den drittstaatsangehörigen und tatsächlich sorgenden Elternteil über die erforderlichen Mittel verfügt, noch welche weiteren Anforderungen an deren „Herkunft“ gestellt werden können (siehe hierzu: EuGH, U.v. 19.10.2004 – Zhu u. Chen, C-200/02 – juris Rn. 30 f.; U.v. 16.7.2015 – Singh u.a., C-218/14 – juris Rn. 74 f. zu Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG). Die insofern vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs betreffen andere Sachverhaltskonstellationen, weil dort das Kind, für den ein drittstaatsangehöriger Elternteil die tatsächliche Sorge wahrnimmt, selbst keine von dem anderen Elternteil abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung hat und demgemäß nur vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, insbesondere der unter Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG aufgestellten Voraussetzungen, dem drittstaatsangehörigen Elternteil ein abgeleitetes Recht aus Art. 21 AEUV vermitteln kann (vgl. EuGH, U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 28 ff.; U.v. 30.6.2016 – NA, C-115/15 – juris Rn. 76 – 79; U.v. 13.9.2016 – Rendon Marin, C-165/14 – juris Rn. 51 f.). In all diesen Fällen war der jeweils andere, nicht drittstaatsangehörige Elternteil unbekannten Aufenthalts (EuGH, U.v. 13.9.2016 – Rendon Marin, C-165/14 – juris Rn. 15), hatte kein Sorgerecht mehr für das Unionsbürgerkind (EuGH, U.v. 30.6.2016 – NA, C-115/15 – juris Rn. 20) bzw. nie ein gemeinsames Familienleben mit diesem geführt (EuGH, U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 15 und 18).
Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten des drittstaatsangehörigen „Familienangehörigen“ eines Unionsbürgers besteht zudem grundsätzlich nur dann, wenn es erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben kann. Zu diesen Rechten gehört auch jenes, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen, in dem sie dort mit ihren „Familienangehörigen“ zusammenleben (vgl. EuGH, U.v. 14.11.2017 – Lounes, C-165/16 – juris Rn. 48 und 52; U.v. 5.6.2018 – Coman, C-673/16 – juris Rn. 24 und 32 jew. m.w.N.). Aus Gründen der „praktischen Wirksamkeit der Rechte des Unionsbürgers aus Art. 21 AEUV“ (hier: des Kindes) ist ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen, die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteil aber dann nicht geboten, wenn das Führen eines „normalen Familienlebens“ auch durch Gewährung eines nationalen Aufenthaltsrechts erreicht werden kann. Die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels zugunsten des Klägers würde das Recht des Unionsbürgerkindes auf Führen eines „normalen Familienlebens im Aufnahmemitgliedstaat“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gewährleisten, mithin die praktische Wirksamkeit („effet utile“, s. hierzu: EuGH, U.v. 6.10.1970 – Grad, C-9/70 – juris; U.v. 4.12.1974 – van Duyn, C-41/74 – juris; Potacs, EuR, 2009, 465 ff.) des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgerkindes nicht beinträchtigen.
Als Aufenthaltsrecht kommt in der vorliegenden Konstellation insbesondere eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Danach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. In der Rechtsprechung wird der Begriff der „rechtlichen Unmöglichkeit“ auch für die Wertungen des in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Schutzauftrages zugänglich gemacht, sodass bei der Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG entsprechend dem Gewicht der familiären Bindungen diese zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 29.9.2005 – 10 CE 05.2067 – juris Rn. 5; B.v. 3.7.2007 – 24 ZB 07.434 – juris Rn. 10; B.v. 20.11.2012 – 10 C 12.491 – juris Rn. 8; B.v. 6.11.2013 – 10 C 12.2355 – juris Rn. 5 ff.; U.v. 11.3.2014 – 10 B 11.978 – juris Rn. 30 ff.; B.v. 30.8.2018 – 10 C 18.1497 – juris Rn. 25 f.). Zwar hat der Kläger (derzeit) keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Auch wurde im Rahmen der nachträglichen Verkürzung der dem Kläger zuletzt erteilten Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 22. Februar 2017 ein Anspruch auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltsrechts (noch) verneint. Allerdings hat sich die Sachlage mit Geburt des (ersten) Kindes grundlegend geändert. So spricht nunmehr für den Erhalt eines solchen Aufenthaltstitels zum einen schon, dass der Beklagte spätestens mit Erteilung (und Verlängerung) der Duldung für den Kläger ab dem 11. Juli 2018 die Unmöglichkeit seiner Abschiebung aus rechtlichen Gründen – wenn auch auf andere Weise – dokumentiert hat. Hieran dürfte sich schon im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Geburt eines weiteren gemeinsamen Kindes des Klägers und seiner Lebensgefährtin nichts ändern. Zum anderen hat der Beklagte die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG in der mündlichen Verhandlung in Aussicht gestellt bzw. zugesagt (s. Sitzungsprotokoll v. 24.6.2019, S. 4 und 6). Auch dürften der Erteilung eines Aufenthaltsrechts aus humanitären Gründen nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG entgegenstehen. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG sieht eine Dispensierung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG von den Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nach Ermessen der Ausländerbehörde vor. Im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann bzw. muss die Unmöglichkeit der Ausreise im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG Berücksichtigung finden (vgl. BayVGH, B.v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – Rn. 24; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Januar 2019, § 25 Rn. 150 m.w.N.). Insbesondere dürften die vom Kläger zwischen 2004 im 2015 begangenen Straftaten kein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mehr begründen, weil diese im Hinblick auf die früheren ausländerrechtlichen Entscheidungen, hier die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 16. April 2016, (wohl) als verbraucht anzusehen sind.
Für die Gewährleistung der „praktischen Wirksamkeit“ des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgerkindes bedarf es nach Auffassung des Senats auch nicht eines, wie dies der Kläger wohl begehrte, rückwirkend erteilten nationalen Aufenthaltstitels (s. hierzu Sitzungsprotokoll v. 24.6.2019, S. 4 a.E.). Der Kläger hat bislang aber die Erteilung eines nationalen Aufenthaltsrechts nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht beantragt, weshalb er nicht das Fehlen eines Aufenthaltsrechts bzw. -titels einwenden kann.
Demzufolge führt vorliegend die Nichtanerkennung eines aus Art. 21 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts für den Kläger aufgrund der möglichen Gewährung eines nationalen Aufenthaltstitels nicht dazu, dass dies den Unionsbürger (hier: das Kind des Klägers) in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen würde, weil es ihn nicht davon abhalten würde, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Das Recht auf Führen eines „normalen Familienlebens“ im Aufnahmemitgliedstaat aus Art. 21 AEUV würde auch mit Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels sichergestellt, so dass sich mangels Vorliegens eines Kollisionsfalls die Frage des sog. Anwendungsvorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts (siehe hierzu: EuGH, U.v. 15.7.1964 – Costa/ENEL, C-6/64 – Slg. 10, 1251/1269 f.; U.v. 26.2.2013 – Melloni, C-399/11 – juris Rn. 59 m.w.N.) hier erst gar nicht stellt (vgl. BVerfG, B.v. 13.8.2009 – 2 BvR 471/09 – juris Rn. 9).
2. Der Kläger hat schließlich auch keinen Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung analog § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 20 AEUV.
Wie das Verwaltungsgericht zutreffend zum Bestehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts gemäß Art. 20 AEUV ausgeführt hat, verleiht diese Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, den Status eines Unionsbürger und damit das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. EuGH, U.v. 7.10.2010 – Lassal, C-162/09 – juris Rn. 29, U.v. 16.10.2012 – Ungarn/Slowakei, C-364/10 – Rn. 43; U.v. 30.6.2016 – NA, C-115/15 – juris Rn. 70 m.w.N.; U.v. 13.9.2016 – Rendon Marin, C-165/14 – juris Rn. 69 f.). Art. 20 AEUV steht nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (EuGH, U.v. 8.3.2011 – Ruiz Zambrano, C-34/09 – juris -Lsu. Rn. 42 m.w.N.; U.v. 10.5.2017 – Chavez-Vilchez u. 8 andere, C-113/15 – juris Rn. 61). Die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft verleihen Drittstaatsangehörigen dagegen keine eigenständigen Rechte (EuGH, U.v. 8.11.2012 – Iida, C-40/11 – juris Rn. 66; U.v. 8.5.2013 – Ymeraga und Ymeraga-Tafarshiku, C-87/12 – juris Rn. 35).
Insoweit dürfte, wie das Erstgericht zutreffend dargelegt hat, dem Kläger im Falle einer Verweigerung eines abgeleiteten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein Recht zustehen, sein Kind und die Kindesmutter in deren Herkunftsstaat (hier: Ungarn) zu begleiten. Es ist auch im Berufungsverfahren nichts dafür vorgetragen worden oder sonst ersichtlich, weshalb dies dem Kläger unmöglich oder unzumutbar sein könnte. Jedenfalls würde die Versagung eines abgeleiteten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts grundsätzlich nicht zu Folge haben, dass sein Kind, von dem er sein Aufenthaltsrecht ableiten möchte, de facto gezwungen wäre, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger er ist, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Seinem Kind würde damit auch nicht die Möglichkeit genommen, den Kernbestand der aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH, U.v. 10.10.2013 – Alokpa, C-86/12 – juris Rn. 34 f.; U.v. 30.6.2016 – NA, C-115/15 – juris Rn. 72; U.v. 10.5.2017 – Chavez-Vilchez u. 8 andere, C-113/15 – juris Rn. 69, 78 f.), wobei vorliegend hinzukommt, dass aufgrund der Möglichkeit der Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels (s.o.) im Falle der Versagung eines abgeleiteten unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts weder eine Verpflichtung zum Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates noch der Union als Ganzes im Raume steht.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff., § 711 ZPO.
IV.
Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil der Frage grundsätzliche Bedeutung zukommt, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen, die tatsächliche Sorge wahrnehmenden Elternteil eines Unionsbürgers ausscheidet, wenn die praktische Wirksamkeit des Freizügigkeits- bzw. der Kernbestand des Unionsbürgerschaftsrechts aus Art. 21 Abs. 1 bzw. 20 AEUV durch die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels – etwa nach § 25 Abs. 5 AufenthG – gewährleistet wird.


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