Europarecht

Kein Anspruch der sich in Griechenland aufhaltenden Familie eines in Deutschland lebenden 17-jährigen Minderjährigen auf Zustimmung zur Durchführung ihres Asylverfahrens in Deutschland nach der Dublin III-VO

Aktenzeichen  AN 17 E 21.50114

Datum:
18.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16829
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 7 Abs. 2, Art. 9, Art. 10, Art. 17 Abs. 2
VwGO § 123

 

Leitsatz

Eine im Rahmen der Ermessensklausel zu berücksichtigende Härte ist im Verhältnis von jüngeren minderjährigen Kindern zu ihren Eltern anzunehmen, bis zu einem Alter von zwölf Jahren ist auch regelmäßig von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, weil Kinder in diesem Alter in aller Regel auf die Fürsorge nicht nur irgendeines Erwachsen, sondern gerade ihrer Eltern angewiesen sind.  (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Anträge nach § 123 VwGO werden abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Die Anträge auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin … für das Eilverfahren werden abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren von Griechenland aus die Zustimmung zur Durchführung ihres Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO) als Nachzug zu ihrem in Deutschland lebenden minderjährigen Sohn bzw. Bruder.
Der 1972 geborene Antragsteller zu 1) ist der Vater, die 1980 geborene Antragstellerin zu 2) die Mutter, die 2007, 2017 und 2021 geborenen Antragsteller zu 3) bis 5) sind die Geschwister des sich seit März 2019 in Deutschland aufhaltenden Minderjährigen A. … …, als geboren registriert am … 2004 bzw. nach eigenen Angaben geboren am … 2004 und des sich seit 2016 in Deutschland befindlichen N. … …, geb. …2001. Alle Familienangehörigen sind afghanische Staatsangehörige.
A. …, zu dem der Nachzug begehrt wird ist am 28. März 2019 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Er wurde vom Jugendamt in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht und hat am 19. Februar 2020 über seinen Vormund einen Asylantrag gestellt, auf den hin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 6. August 2020 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan festgestellt hat. Eine Eurodac-Datenbank-Abfrage hatte für A. … eine vorherige Asylantragstellung in Griechenland am 25. Juni 2018 ergeben. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt nach § 25 AsylG am 5. August 2020 hat A. … angegeben, Afghanistan mit seinen Eltern im Alter von einem Jahr verlassen zu haben und mit seiner Familie, bis er ca. 13 Jahre alt gewesen sei, im Iran gelebt zu haben. Den Iran habe er dann alleine und vor seiner Familie verlassen. Seine Familie habe er seit dem nicht mehr gesehen, außer seinen Bruder N. …, der den Iran ca. zwei Jahr vor ihm verlassen habe und mit dem er jetzt in Deutschland in einer Unterkunft für Jugendliche lebe. Vom Iran aus sei er ca. 2018 nach Griechenland und von dort aus am 28. März 2019 nach Deutschland zu seinem Bruder gereist. Ausreisegrund der Familie aus Afghanistan sei gewesen, dass sein Vater Probleme mit den Mudschahedin gehabt habe. Sein Vater habe alles gemacht, was man von ihm verlangt habe, habe seine Arbeit aber nicht gemocht. Sein Auftrag sei gewesen, zu rauben und zu töten, was er nicht gewollt habe. Auf dem rechten Auge könne A. … nicht gut sehen, außerdem habe er Knieprobleme, die von seiner Arbeit auf dem Bau im Iran herrührten, und Probleme mit dem kleinen Finger an der rechten Hand. Zu seiner Familie habe er ab und zu Kontakt über Internet.
N. … hat nach dessen Angaben in seinem Asylverfahren seine Familie im Iran Mitte 2015 verlassen, sei von Griechenland aus mit seiner Tante, die nach wie vor in Deutschland lebe, Ende 2015 nach Deutschland eingereist. Er hat in Deutschland im November 2017 einen Asylantrag gestellt, woraufhin für ihn das Bundesamt mit Bescheid vom 1. Dezember 2017 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt hat.
Am 11. März 2020 richtete die griechische Dublin-Einheit für die Antragsteller ein Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin nach Art. 9 Dublin III-VO zum Nachzug zu A. … und gab dabei an, dass die Antragsteller in Griechenland am 11. Dezember 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hätten. Ein beigefügter tabellarischer Ausdruck aus der griechischen Behördenakte (in griechischer Schrift und Sprache) weist für sie einen Eurodac-Treffer der Kategorie 2 für den 11. Dezember 2019 und einen Treffer der Kategorie 2 vom 21. Januar 2020 aus.
Die Antragsgegnerin lehnte das Übernahmeersuchen mit Schreiben vom 1. April 2020 unter Verweis auf Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO mit der Begründung ab, dass im Zeitpunkt der Asylantragstellung der Antragsteller in Griechenland A. … in Deutschland noch keinen Asylantrag gestellt hatte. Die griechischen Behörden wendeten sich unter Vorlage ärztlicher Unterlagen für den Antragsteller zu 1), die – soweit verständlich – Atemschwierigkeiten, Asthma und starken Gewichtsverlust für diesen ausweisen, hiergegen mit Remonstrationsschreiben vom 16. April 2020 und 11. Mai 2020 und erbaten die Prüfung nach Art. 10 und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Insbesondere aufgrund der beidseitigen gesundheitlichen Probleme sei ein Nachzug nach Deutschland für alle Beteiligten wichtig. A. … mache sich Sorgen um seinen Vater. Er habe täglichen Kontakt mit seinen Eltern über Mobiltelefon. Aufgrund des sehr jungen Alters von A. … von 15 Jahren und wegen seines Gesundheitszustandes aufgrund von Augenproblemen und schwachem Gesamtzustandes sei der Nachzug notwendig. Die Familienbindung sei sehr eng. Das Ersuchen lehnte Bundesamt mit Schreiben vom 20. April 2020 erneut ab, weil humanitäre Gründe aufgrund des Familienkontextes nicht vorlägen. Die Anfrage vom 11. Mai 2020 wurde nicht mehr beantwortet. Am 28. Januar 2021 fragten die griechischen Behörden bei der Antragsgegnerin nach. In der Folge wurde ein Abstammungsgutachten der Charité Berlin vom 15. April 2021 vorgelegt, wonach das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen A. … und dem Antragsteller zu 1) praktisch erwiesen sei. Ihre Ablehnung bestätigte die Antragsgegnerin gegenüber Griechenland am 20. April 2021.
Mit am 15. Mai 2021 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten erhoben die Antragsteller Klage und stellten einen Antrag nach § 123 VwGO. Sie beantragen im Eilverfahren,
1.die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen der wiederholten Übernahmegesuche durch das Griechische Migrationsministeriums – Nationales Dublin-Referat – für die Asylverfahren der Antragsteller für zuständig zu erklären,
2.hilfsweise für den Fall einer erneuten Ablehnung im laufenden Verfahren auch diese aufzuheben und sich für zuständig zu erklären,
3.hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, durch den Liaisonbeamten des Bundesamts für Migration und Flüchtling in der Hellenischen Republik oder auf anderem Wege darauf hinzuwirken, dass das griechische Dublin-Referat ein erneutes Aufnahmegesuch stellt und diesem stattzugeben.
4.der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen und
5.den Antragstellern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 18. Mai 2021,
die Anträge abzulehnen.
Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2021 begründete die Antragstellerseite die Anträge im Wesentlichen wie zuvor das griechische Migrationsministerium im Behördenverfahren. Ergänzend wurde mitgeteilt, dass A. … seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland deutlich gemacht habe, hier internationalen Schutz zu begehren, seine Vormundin sich aber zunächst entschieden habe, keinen formellen Asylantrag zu stellen. Nach einer vorgelegten E-Mail der Vormundin habe die physische Gesundheit, insbesondere die Augenarzttermine mit A. … eine wesentliche Rolle gespielt, einen Asylantrag nicht gleich zu stellen. In Griechenland habe, weil die Anfrage vom 11. Mai 2020 vom Bundesamt nicht beantwortet worden sei, noch keine Anhörung der Antragsteller stattgefunden. Die Antragsteller hätten unter katastrophalen Bedingungen zunächst in einem Campingzelt im Lager Moria auf Lesbos, dann zwangsweise im neuen Lager Kara Tepe gelebt und seien sodann, weil die Antragstellerin zu 5) geboren worden sei, nach Athen und Tripolis verbracht worden. Die Gesundheitsversorgung in Griechenland und die humanitäre Lage dort für Flüchtlinge sei schlecht. Der Antragsteller zu 1) leide unter einer Pneumonie, Asthma und einem Nierenstein. Ein Jugendamts-Bericht vom 11. Mai 2020 mit Ergänzung vom 27. Oktober 2020 für A. … wurde vorgelegt. Hiernach mache sich A. … Sorgen und Vorwürfe wegen der schwierigen Lebensbedingungen seiner Familie in Griechenland, was seine psychische und physische Entwicklung in hohem Maße beeinträchtige, zum zentralen Thema für ihn werde und seinen Tagesablauf bestimme. Nach einem Kurzbericht der Klassenlehrerin vom 27. Mai 2021 werfe die Trennung von seinen Eltern A. … in seiner Lernprogression stark zurück. Es mache sich, wie auch in anderen vergleichbaren Fällen bemerkbar, dass ihm die primäre Bezugsperson in seinem Leben fehle. Trotz seiner aufgeschlossenen Art habe Abdollah keinen so ausgeprägten Reifegrad, der es ihm erlauben würde, folgenlos ohne seine Eltern zurechtzufinden. Mit weiterem Schriftsatz vom 15. Juni 2021 wurde ein Kurzbericht zur therapeutischen Begleitung von A. … des Caritasverbands … vom 14. Juni 2021 vorgelegt. Danach zeige A. … viel Resilienz, es verbleibe aber unveränderlich bei der Alltagsbelastung der Trennung von seiner Familie, zu der er eine enge Beziehung habe.
Die Antragsgegnerin nahm mit Schriftsatz vom 2. und 15. Juni 2021 weiter Stellung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der Antrag Nr. 1 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel der Zustimmung der Beklagten zum Nachzug der Antragsteller ist zwar zulässig (2), aber unbegründet (3) und deshalb abzulehnen. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1). Über den Antrag Nr. 2 ist, da die Bedingung, für die diese Anträge gestellt sind, nicht eingetreten ist, nicht zu entscheiden (4).
1. Da sich die Antragsteller in Griechenland aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 3 Satz 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zuständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. Als solches kommt jedenfalls die humanitäre Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, auf die sich alle von der Trennung betroffenen Familienangehörigen berufen können, auch wenn die Trennung in erster Linie einen Familienangehörigen belastet, der nicht als Antragsteller im Gerichtsverfahren auftritt (hier A. …*), da eine Gesamtermessensabwägung aller Belange aller Familienangehörigen vorzunehmen ist und eine getrennte Betrachtung nicht möglich ist (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris). Ein Berufen auf familiäre Umstände berücksichtigende Normen der Dublin III-VO vom Ausland aus wie Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ist anzuerkennen. Der Wortlaut der Dublin III-VO schließt dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (so ständige Rechtsprechung der Kammer vgl. etwa B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris, ebenso VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21). Ein Verfahren vor griechischen Gerichten mit dem Ziel der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Übernahme der Antragsteller ist nicht möglich und damit auch nicht vorrangig (vgl. insoweit VG Ansbach, B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – juris Rn. 20).
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet, da jedenfalls kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden ist.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert wird (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile der Antragsteller unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Antragsteller haben weder einen Nachzugsanspruch nach Art. 9 Dublin III-VO (a) oder nach Art. 10 Dublin III-VO (b) noch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (c) glaubhaft gemacht.
a) Nach Art. 9 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat zuständig für einen Asylantragsteller, in dem dessen Familienangehöriger internationalen Schutz erlangt hat, sofern beide Personen den Nachzugswunsch schriftlich kundtun. Familienangehöriger ist nach Art. 2 Buchst. g) zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO das minderjährige Kind im Verhältnis zu seinen Eltern. Allerdings ist A. … nicht Begünstigter internationalen Schutzes. Unter internationalem Schutz fällt, wie aus Art. 2 Buchst. b) bis f) Dublin III-VO erkennbar, der Inhaber des Flüchtlingsstatus oder der subsidiären Schutzberechtigung nach Art. Art. 2 Buchst. a) i.V.m. Buchst. e) und f) der RL 2011/95/EU. Nicht hierunter fällt aber, wer infolge eines nationalen (deutschen) Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG in Deutschland einen Aufenthaltsstatus nach § 25 Abs. 3 AufenthG innehat (vgl. VG Ansbach, B.v. 1.7.2020 – AN 17 E 20.50211 – juris Rn. 25), wobei eine derartige Aufenthaltserlaubnis für A. … nicht einmal glaubhaft gemacht ist, sondern sich aus der Bundesamtsakte für ihn lediglich eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (gültig bis 24.11.2020) ergibt.
Hinzu kommt, worauf sich die Antragsgegnerin zu Recht beruft, dass es für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 9 Dublin III-VO nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO i.V.m. Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem die Antragsteller erstmals einen Asylantrag im Bereich der Mitgliedstaaten gestellt haben. Dies ist – insoweit kann dies offengelassen werden – entweder der 11. Dezember 2019 (vermutlich informelles oder mündliches Asylgesuch in Griechenland) oder der 21. Januar 2020 (förmliche Antragstellung in Griechenland). Zu diesem Zeitpunkt war für A. … als Referenzperson, zu der der Zuzug beantragt wird, auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG noch nicht festgestellt. Der Bescheid erging erst am 20. August 2020.
Auch im Hinblick auf den weiteren Sohn N. … ergibt sich aus Art. 9 Dublin III-VO kein Nachzugs- bzw. Zustimmungsanspruch. Für diesen wurde ebenfalls nur ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. Er war im Zeitpunkt der Asylantragstellung der Antragsteller in Griechenland (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO) auch schon nicht mehr minderjährig und war zu diesem Zeitpunkt deshalb kein Familienangehöriger (mehr) zu den Antragstellern i.S.v. Art. 2 Buchst. g) zweiter Spiegelstrich Dublin III-VO.
b) Auch Art. 10 Dublin III-VO greift zugunsten der Antragsteller nicht ein. Im auch hier nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung der Antragsteller in Griechenland lag für A. … in Deutschland zwar, wie nach Art. 10 Dublin III-VO nötig, noch keine Entscheidung über seinen Asylantrag vor, für ihn lag aber zu diesem Zeitpunkt auch noch gar kein Asylantrag vor. Dieser wurde vielmehr erst am 19. Februar 2020 gestellt und damit auf jeden Fall nach der Asylantragstellung der Antragsteller in Griechenland, egal ob man dabei auf den 11. Dezember 2019 oder den 21. Januar 2020 abzustellen hat. Für A. … ist für die Zeit vor dem 19. Februar 2020 auch keinerlei nichtförmliches Ersuchen bei einer hierfür zuständigen Stelle glaubhaft gemacht macht worden. Es ist im Gegenteil durch den Vortrag der Antragstellerbevollmächtigten bzw. der Stellungnahme der Vormundin sogar bestätigt worden, dass es selbst zu einem solchen informellen Ersuchen auf internationalen Schutz zuvor nicht gekommen ist. Dies wurde von Vormundsseite damit begründet, dass vorrangig die gesundheitlichen Belange, insbesondere die augenärztliche Versorgung von A. … geklärt werden sollten. Voraussetzung von Art. 10 Dublin III-VO ist aber, dass für die Referenzperson die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für dessen Asylantrag bereits feststeht (vgl. Thomann in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bade/Kothe, 7. Ed. 1.1.2021, Art. 10 Dublin III-VO, Rn.1 und 4, dem folgend VG Ansbach, VG Ansbach, B.v. 26.5.2021 – AN 17 E 21.50085 – juris Rn. 27 ff.), was vor einer Asylantragstellung in der Bundesrepublik und bis dahin allein existierendem Asylantrag in Griechenland nicht der Fall war und sein konnte.
c) Eine Zustimmung ist für die Antragsteller hier auch nicht nach der humanitären Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO glaubhaft gemacht worden. Danach kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO.
Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Im Kontext der Dublin III-VO ist dabei zwar eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt. Die Formulierung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nimmt die familiären Gründe auch selbst ausdrücklich auf. Die Anknüpfung an familiäre Gründe stellt dabei aber auch eine Einschränkung der Klausel dar. Der Nachzug ist bereits auf Tatbestandsseite auf humanitäre Gründe aus familiären Kontext beschränkt. Daraus ergibt sich, dass die allgemeine humanitäre Lage, die für Asylbewerber in Griechenland herrscht, und etwaige gesundheitliche Probleme des Antragsstellers zu 1); worauf sich die Antragstellerseite vorrangig beruft, nicht ausreichend sind im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Wäre dies der Fall könnten sich im Ergebnis Asylbewerber aus Ländern mit prekären Lebensverhältnissen in den Mitgliedstaat ihrer Wahl einklagen, was der Zielsetzung der Dublin III-VO gerade widerspricht. Auch umgekehrt besteht für den angefragten Mitgliedstaat, solange der Asylbewerber sich dort nicht aufhält, grundsätzlich keine rechtliche Verantwortung für dessen Wohl und Wehe. Die allgemeine Lage für Flüchtlinge in Griechenland begründet einen Nachzugsanspruch deshalb nicht.
Die tatbestandliche Einschränkung auf Gründe aus familiären Kontext ist, wollte man vorliegend diese für die Antragsteller als (noch) gegeben ansehen, weil zwei ihrer Söhne bzw. Brüder sich in Deutschland aufhalten und jedenfalls A. … auch noch minderjährig ist, ist schließlich auch bei dem der Asylbehörde eingeräumten Ermessensspielraum, den Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO eröffnet, weiter berücksichtigen. Ein gerichtliches Verfahren nach § 123 VwGO, hier in Form einer Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, führt nach herrschender Meinung, dem das erkennende Gericht folgt, nicht schon dann zum Erfolg, wenn ein Ermessensfehler der Behörde vorliegt, sondern, erst und nur, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft gemacht wird (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103; B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – jeweils juris; allgemein BayVGH B.v. 3.6.2002 – 7 CE 02.637 – NVwZ-RR 2002, 839; a.A. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, 39. EL Juli 2020, § 123 Rn. 158 ff. m.w.N.). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null ist aber nur anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Familienangehörigen an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen, die jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Das ist nicht schon bei jeder Trennung von Eltern und minderjährigen Kindern der Fall, sondern muss im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände festgestellt werden. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen bei dieser Entscheidung insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu Familienmitgliedern, mit denen es zusammengeführt werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalters sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat, zu werten, wobei der EuGH in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – NVwZ 2006, 1033 Rn. 73-75, allerdings zur Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG).
Nach der Rechtsprechung der Kammer wurde eine solche Härte entsprechend dieser Vorgaben im Verhältnis von jüngeren minderjährigen Kindern zu ihren Eltern angenommen (vgl. VG Ansbach, B.v. 3.12.2020 – AN 17 E 20.50375 – 7- und 8-jährige Kinder; B.v. 5.5.2021 – AN 17 E 21.50066 – 10-jähriges Kind; B.v. 24.9.2020 – AN 17 E 20.50307 – 12-jähriges Kind; B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – 13-jähriges Kind – überwiegend juris), wobei das Gericht bis zu einem Alter von zwölf Jahren auch regelmäßig von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgeht (VG Ansbach, B.v. 3.12.2020 – AN 17 E 20.50375 – juris Rn. 44), weil Kinder in diesem Alter in aller Regel auf die Fürsorge nicht nur irgendeines Erwachsen, sondern gerade ihrer Eltern angewiesen sind.
Eine damit vergleichbare Situation besteht zwischen den Antragstellern und dem 17-jährigen A. … aber nicht. Er ist zwar mit 17 Jahren ebenfalls noch minderjährig, aber – je nach dem, ob das registrierte Geburtsdatum oder das von ihm angegebene zugrunde zu legen ist – in einem eine Jahr bzw. einem halben Jahr volljährig und damit sowohl rechtlich, als auch entwicklungspsychologisch und emotional weit weniger auf die eigenen Eltern angewiesen als ein jüngeres Kind. Zudem kommt, dass sich auch sein älterer, erwachsener Bruder in Deutschland, auch in der gleichen Unterkunft, aufhält und er damit auch familiär nicht vollständig alleine dasteht. Auch ins Gewicht fällt, dass A. … bereits seit seinem 13. / 14. Lebensjahr ohne seine Eltern auskommen muss, alleine und ohne seine Eltern die Flucht angetreten hat und seine Eltern seit seiner Ausreise aus dem Iran mit 13 Jahren auch nicht mehr gesehen hat, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sich die tatsächliche Verbindung zwischen A. … und seinen Eltern (und erst recht zu seinen Geschwistern) deutlich gelockert hat. Zwar wird von Antragstellerseite und insbesondere in den Berichten der Caritas 14. Juni 2021 und der Klassenlehrerin vom 27. Mai 2021 vorgebracht, dass die Verbindung zwischen A. … und seinen Eltern nach wie vor eng sei und die Anwesenheit der Eltern die Belastungssituation für A. … deutlich reduzieren würde. Dass eine wirkliche Nähebeziehung zwischen Eltern und Kind noch besteht, dem widersprechen aber die Angaben von A. … in einem Asylverfahren, wo er bei seiner Anhörung am 5. August 2020 angeben hat, mit den Eltern nur „ab und zu“ über Internet Kontakt zu haben. Bei den anderslautenden Angaben der Betreuer handelt es sich wohl eher um wohlwollend unterstützende, aber auch übertriebenen Wertungen bzw. Prognosen aus eher prozesstaktischen Gründen. Dass A. … die gefühlte, von seinen Eltern ihm vielleicht psychologisch sogar aufgebürdete Verantwortung für das Gelingen des Nachzugs seiner Eltern massiv belastet, kann dabei angenommen werden, führt aber keinesfalls zu einer Ermessensreduzierung auf Null bei einem 17jährigen, der im Übrigen nicht weiter vulnerabel ist, nach fachlicher Aussage sogar eine gute Resilienz zeigt und seit über vier Jahren ohne seine Eltern auskommt. Eigene Belange der Antragsteller für den Zuzug zu A. … sind – außer den schlechten humanitären Bedingungen in Griechenland, die für Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht relevant sind – nicht erkennbar. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist damit nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr handelt es sich im vorliegend Fall um eine klassische Situation, deren zweifellose Härte für die Betroffenen – die aber noch nicht als unzumutbar einzustufen ist -, von den Eltern selbst geschaffen wurde.
b) Dahinstehen kann in dieser Situation, ob ein Anordnungsgrund, also eine besondere Eilbedürftigkeit für das Verfahren anzunehmen ist.
4. Über den hilfsweise gestellten Antrag Nr. 2 ist nicht zu befinden, da die Bedingung, unter der dieser gestellt wurde, nämlich eine erneute Ablehnung des Bundesamtes, nicht eingetreten ist. Eine erneute, rechtlich isoliert zu betrachtende Ablehnung der Zustimmung durch die Antragsgegnerin existiert nicht. Sämtliche ablehnenden Antworten des Bundesamts sind ein und demselben Verfahren zuzuordnen und erfordern deshalb auch keinen eigenständigen Prozessantrag.
5. Mangels glaubhaft gemachten Nachzugsanspruchs nach der Dublin III-VO ist der Antrag Nr. 3 unbegründet und deshalb abzulehnen
6. Die Kostenentscheidung des erfolglosen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
7. Unabhängig davon, ob die Antragsteller die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen aufbringen können, ist mangels hinreichender Erfolgsaussichten in dieser Situation auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe abzulehnen, § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO.
8. Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben