Europarecht

Kein rechtmäßiger Aufenthalt bei visumfreier Einreise mit der Absicht des Daueraufenthalts

Aktenzeichen  10 CS 20.1954

Datum:
1.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 26730
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 81 Abs. 3
AufenthV § 39 S. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Strebt ein nach der EU-Visa-VO von der Visumpflicht befreiter Ausländer bereits bei der Einreise einen Daueraufenthalt an, ist sein Aufenthalt mangels Einreise mit dem erforderlichen Visum nicht rechtmäßig. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nur wenn der Ausländer subjektiv die zeitliche Grenze von 90 Tagen bein Einreise nicht überschreiten will, sich aber während des Aufenthalts ein Sinneswandel ergibt und nunmehr ein Daueraufenthalt abgestrebt („Nachentschluss“), kann die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG eintreten. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 S 20.2585 2020-08-03 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antragstellerinnen, bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige, verfolgen mit ihrer Beschwerde ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (M 25 K 20.2584) weiter. Gegenstand der Klage und des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist der Bescheid des Antragsgegners vom 9. Juni 2020, mit dem ihre Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zum Ehemann bzw. Vater abgelehnt und ihnen unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung angedroht wurde.
Die zulässige Beschwerde bleibt erfolglos. Die von den Antragstellerinnen zur Begründung der Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Beschlusses vom 3. August 2020.
Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei unzulässig. Ein solcher Antrag sei nur statthaft, wenn ein Antragsteller durch die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig werde. Im vorliegenden Fall aber sei dem Antrag der Antragstellerinnen vom 26. Juli 2018 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG zugekommen. Ihr Aufenthalt sei nicht rechtmäßig im Sinn des § 81 Abs. 3 AufenthG gewesen. Zwar dürften Staatsangehörige von Bosnien-Herzegowina gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und Anhang II zur Verordnung (EU) 2018/1806 (sog. EU-Visa-VO) visumfrei einreisen, diese Befreiung gelte aber nur für einen Kurzaufenthalt von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen. Nur wenn der Ausländer subjektiv diese zeitliche Grenze nicht überschreiten wolle, sei der nachfolgende Aufenthalt nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ rechtmäßig. Aufgrund der äußeren Umstände spreche vorliegend eine tatsächliche Vermutung dafür, dass die Antragstellerinnen bereits bei ihrer Einreise am 26. Juli 2018 einen längerfristigen Aufenthalt angestrebt hätten. Ihr Bevollmächtigter habe bereits an diesem Tag einen Aufenthaltstitel beantragt, und sie hätten sich am folgenden Tag melderechtlich bei der Gemeinde angemeldet, obwohl das für einen Kurzaufenthalt nicht erforderlich gewesen wäre. Die Antragstellerin zu 1 habe zuvor auch erfolglos ein Visum zum Zweck der Beschäftigung beantragt gehabt. Aus alldem ergebe sich, dass von Anfang an ein längerfristiger, über 90 Tage hinausgehender Aufenthalt geplant gewesen sei, so dass der Aufenthalt der Antragstellerinnen nicht rechtmäßig im Sinn des § 81 Abs. 3 AufenthG gewesen sei.
Der Antrag könne jedoch gemäß § 88 VwGO als Antrag nach § 123 VwGO ausgelegt werden, den Antragsgegner zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels oder auf eine Duldung die Abschiebung einstweilen bis zur gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen. Vorliegend hätten die Antragstellerinnen jedoch weder einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels noch auf Erteilung einer Duldung glaubhaft gemacht. Eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach § 30 bzw. § 32 AufenthG scheitere daran, dass die Antragstellerinnen nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist seien. Sie könnten den Aufenthaltstitel auch nicht nach § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV im Inland beantragen, da sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten; auf die Frage, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erst nach der Einreise entstanden seien, komme es mithin nicht mehr an. Vom Visumerfordernis sei auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzusehen. Die Nachholung des Visumverfahrens sei auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unzumutbar. Die Wartezeit für Visa in Sarajewo betrage derzeit sechs bis sieben Monate; die Antragstellerin zu 2 sei mit 14 Jahren in einem Alter, in dem sie den Grund für die vorübergehende Trennung vom Vater begreifen könne; auch könne sie weiterhin visumfrei für Kurzaufenthalte einreisen. Ferner habe der Antragsgegner bereits seine Bereitschaft gezeigt, das Visumverfahren möglichst familienfreundlich zu gestalten.
Das Vorbringen der Antragstellerinnen ist nicht geeignet, den Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern.
Die Antragstellerinnen werfen dem Verwaltungsgericht zunächst vor, es gehe von falschen Tatsachenannahmen und bloßen Vermutungen aus, wenn es als Einreisedatum den 26. Juli 2018 annehme. Dies sei unzutreffend, die Antragstellerinnen seien bereits im Mai 2018 in das Bundesgebiet eingereist und hätten sich erst danach nach Beratung durch den Bevollmächtigten entschlossen, Anträge auf Aufenthaltserlaubnis zu stellen.
Entgegen dem Vorbringen in der Beschwerdebegründung kann jedoch aus den in der Ausländerakte befindlichen Kopien des Reisepasses der Antragstellerin zu 1 anhand der Ein- und Ausreisestempel eindeutig nachvollzogen werden, dass sie am 26. Juli 2018 aus Bosnien-Herzegowina kommend über den Grenzübergang Slavonski Samac nach Kroatien eingereist und am gleichen Tag über den Übergang Bregana aus- und über den Grenzübergang Obrezje nach Slowenien und damit in das Schengen-Gebiet eingereist ist (Bl. 95 u. 98 der Ausländerakte der Antragstellerin zu 1). Der Annahme, dass die damals 12jährige Antragstellerin zu 2 ihre Mutter begleitet hat, wurde in der Beschwerde nicht entgegengetreten. Wenn der Bevollmächtigte auf seine Vollmachtsurkunde verweist, die dem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis vom 26. Juli 2018 beigefügt war, bestätigt er gerade die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, dass bereits vor und bei der visumfreien Einreise ein Daueraufenthalt geplant war, denn diese nennt als Gegenstand „Aufenthalt, Anmeldung, u.a.“ und ist schon am 18. Juli 2018 in München von der Antragstellerin zu 1 unterzeichnet worden (Bl. 21 der Ausländerakte).
Somit trifft auch die Feststellung des Verwaltungsgerichts zu, dass sich die Antragstellerinnen bei der Beantragung des Aufenthaltstitels nicht im Sinn des § 81 Abs. 3 AufenthG rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Denn strebt ein nach der EU-Visa-VO für vorübergehende Aufenthalte von der Visumpflicht befreiter Ausländer bereits bei der Einreise einen Daueraufenthalt an, ist sein Aufenthalt mangels Einreise mit dem erforderlichen Visum nicht rechtmäßig. Nur wenn der Ausländer subjektiv die zeitliche Grenze von 90 Tagen nicht überschreiten will, dann sich aber während des Aufenthalts ein Sinneswandel ergibt und nunmehr ein Daueraufenthalt abgestrebt wird („Nachentschluss“), führt ein entsprechender Antrag auf die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG (SächsOVG, B.v. 13.8.2020 – 3 B 11/20 – juris Rn. 8 m.w.N.; VGH BW, B.v. 20.9.2018 – 11 S 1973/18 – juris Rn. 14; HessVGH, B.v. 20.10.2016 – 7 B 2174/16 – juris Rn. 26 ff.; BayVGH, B.v. 21.6.2013 – 10 CS 13.1002 – juris Rn. 13; NdsOVG, B.v. 28.8.2008 – 13 ME 131/08 – juris Rn 3).
Damit können die Antragstellerinnen auch nicht – anders als die Beschwerdebegründung meint – gemäß § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug ohne Durchführung eines Visumverfahrens im Bundesgebiet einholen. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, fehlt es bereits an der Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts (vgl. SächsOVG, B.v. 13.8.2020 – 3 B 11/20 – juris Rn. 11). Auf die – vom Verwaltungsgericht offen gelassene – Frage, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erst nach der Einreise der Antragstellerinnen entstanden sind, kommt es somit nicht mehr an. Soweit in der Beschwerdebegründung argumentiert wird, entscheidend sei insoweit die – erst nach der Einreise der Antragstellerinnen erfolgte – Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Ehemann bzw. Vater, ist dem allerdings entgegenzuhalten, dass höchstrichterlich geklärt ist, dass auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in dem das zentrale, den Aufenthaltszweck kennzeichnende Merkmal der jeweiligen Anspruchsnorm erfüllt worden ist, nämlich im Fall eines Ehegattennachzugs der Zeitpunkt der Eheschließung (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris Rn. 26). Maßgeblich ist auch hier der Zeitpunkt der letzten Einreise (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris Rn. 25).
Auf die Erwägungen des Verwaltungsgerichts, dass die Durchführung eines Visumverfahrens nicht im Sinn des § 5 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 AufenthG unzumutbar ist, geht die Beschwerdebegründung nicht ein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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