Europarecht

Kein Zuständigkeitsfortfall nach der Dublin II-VO des mit dem Erstantrag befassten Mitgliedstaates bei nicht nachgewiesenem dreimonatigen Aufenthalt des Asylbewerbers im EU-Ausland

Aktenzeichen  M 1 S 17.52262

Datum:
1.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2800
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 31 Abs. 3, § 34a Abs. 1, Abs. 2 S. 1, § 75 Abs. 1, § 80
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c, Abs. 2d
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 17, Art. 18, Art. 19, Art. 25
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5, § 154 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Nach Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO erlöschen die Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 lit. c oder d Dublin III-VO, um dessen/deren Aufnahme oder Wiederaufnahme er ersucht wurde, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen, dass in einem solchen Sachverhalt der Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen ein Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO geltend machen kann. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der keine Unterlagen zu seiner Identität vorgelegt hat, ist nach seinen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und am 9.7.2017 nach Deutschland eingereist. Er stellte am …7.2017 Asylantrag.
Nachdem eine EURODAC – Abfrage ergab, dass der Antragsteller zuvor in Dänemark einen Asylantrag gestellt hatte, richtete das Bundesamt für … (Bundesamt) gemäß der Dublin III-VO am 26.7.2017 ein Übernahmeersuchen an Dänemark, welchem am 4.8.2017 auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO entsprochen wurde.
Mit Bescheid vom 15. August 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheides) und ordnete die Abschiebung nach Dänemark an (Nr. 3 des Bescheides). In Nr. 4 des Bescheides wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 3 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
Der Antragsteller erhob durch seine Bevollmächtigte am …8.2017 Klage gegen den vorgenannten Bescheid (Az. M 1 K 17.52261). Die Bevollmächtigte beantragt zugleich im vorliegenden Verfahren,
die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO.
Zur Begründung führt der Bevollmächtigte aus, dass die ursprüngliche Zuständigkeit Dänemarks nach der Dublin III-VO gemäß Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO entfallen sei, weil der Antragsteller vor seiner Einreise nach Deutschland das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten mindestens drei Monate verlassen gehabt hätte. Der Antragsteller habe im März 2017 freiwillig Dänemark verlassen und sei in den Iran ausgereist. Ende März 2017 sei er aus dem Iran nach Afghanistan abgeschoben worden. Anfang April 2017 sei er wieder in den Iran eingereist. Erst Anfang Juli 2017 sei er über die Türkei nach Griechenland eingereist. Von dort sei er mit dem Flugzeug nach Österreich eingereist, und von dort mit dem Zug nach Deutschland. Zum Beleg für das Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten legte die Bevollmächtigte zwei ärztliche Rezepte im Original und in deutscher Übersetzung, ausgestellt am 10.4.2017 und am 20.5.2017 im Iran, vor.
Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug verwiesen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige Antrag ist unbegründet.
Die Klage entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG. Das Gericht der Hauptsache kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundlage der Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung des Gerichts zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG rechtmäßig ist. Nach § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Das Bundesamt hat zu Recht seine Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nicht angenommen und gemäß § 29 Abs. 1 AsylG den Asylantrag als unzulässig abgelehnt (1.) sowie auch zu Recht gemäß § 31 Abs. 3 AsylG das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG oder Abschiebungshindernissen verneint (2.).
1. Dänemark hat dem fristgerecht gestellten Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin auf der Grundlage seiner Verpflichtung nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entsprochen. Dänemark ist damit der für den Asylantrag des Antragstellers zuständige Mitgliedstaat.
a. Die Verpflichtung Dänemarks nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO ist nicht nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO entfallen.
Nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO erlöschen die Pflichten nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO, wenn der zuständige Mitgliedstaat nachweisen kann, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c oder d Dublin III-VO, um dessen/deren Aufnahme oder Wiederaufnahme er ersucht wurde, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, die betreffende Person ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels. Nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gilt ein nach der Periode der Abwesenheit im Sinne des Unterabsatzes 1 gestellter Antrag als neuer Antrag, der ein neues Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auslöst.
Die Voraussetzungen des Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO liegen hier nicht vor.
aa. Nach dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO erlischt die Pflicht nur, wenn gerade der zuständige Mitgliedstaat das mindestens dreimonatige Verlassen des Hoheitsgebietes der Mitgliedstaaten durch den Betreffenden nachzuweisen vermag. Die Vorschrift begründet also ihrem Wortlaut nach lediglich ein Recht des zuständigen Mitgliedstaates – hier Dänemarks –, sich auf den Fortfall seiner Zuständigkeit im Falle dieses Verlassens zu berufen. Solche Einwendungen hat Dänemark vorliegend nicht erhoben. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO dahin ausgelegt, dass diese Bestimmung, insbesondere ihr Unterabs. 2, auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, der nach Stellung eines ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat den Nachweis erbringt, dass er das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, bevor er einen neuen Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt hat (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-155/15 – Karim – juris; siehe auch EuGH, u.v. 7.6.2016 – C-63/15 – Ghezelbash – juris); in diesem Urteil hat der EuGH auch entschieden, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass in einem solchen Sachverhalt der Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen ein Entscheidung über seine Überstellung einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO geltend machen kann. Folgt man dieser – vom Wortlaut der Norm her nicht unmittelbar einleuchtenden – Rechtsprechung des EuGH, so genügt vorliegend für den Fortfall der Zuständigkeit Dänemarks der durch den Antragsteller geführte Nachweis des mindestens dreimonatigen Verlassens des Hoheitsgebietes der Mitgliedstaaten.
bb. Diesen Nachweis hat der Antragsteller indes nicht erbracht.
Über seine bloße Behauptung hinaus, vor Einreise nach Deutschland das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten mindestens drei Monate verlassen zu haben, hat der Antragsteller lediglich die beiden im Iran am 10.4.2017 und am 20.5.2017 ausgestellten Rezepte vorgelegt. In diesen Rezepten ist ein Patientenname genannt. Ob diese Person mit dem Kläger identisch ist, kann wegen der fehlenden Nachweise zur Identität des Antragstellers nicht verifiziert werden. Davon abgesehen besagen die beiden Rezepte allenfalls nur, dass sich der Patient an den Ausstellungsdaten im Iran aufgehalten hat, nichts aber zu der hier maßgeblichen Frage, ob er sich beständig für mindestens drei Monate außerhalb der EU aufgehalten hat, bevor er nach Deutschland eingereist ist. Diese Beweislage genügt bei Weitem nicht, um die Zuständigkeit Dänemarks nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO entfallen zu lassen (zu den Anforderungen an den Nachweis nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO siehe auch VG Cottbus, B.v. 19.9.2017 – 5 L 208/17.A – juris Rn. 12 ff.).
b. Besondere Umstände, die die ausnahmsweise Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO begründen oder nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO rechtfertigen bzw. bedingen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann der Antragsteller seiner Überstellung nach Dänemark nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Dänemark systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen, sodass eine Überstellung nach Italien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO).
Nach dem Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 u.a – juris) und dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m. w. N.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Dazu, dass in Dänemark systemische Mängel des Asylverfahrens vorliegen, hat der Antragsteller nichts vorgetragen; es bestehen hierfür auch keine Anhaltspunkte (so auch VG Gelsenkirchen, U.v. 4.12.2015 – 6a K 430/15.A – juris Rn. 18 und 19).
2. Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids bleibt voraussichtlich auch insoweit ohne Erfolg, als im Rahmen der Anordnung zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote und inlandsbezogene Abschiebungshindernisse und Duldungsgründe zu prüfen sind (zu dieser Prüfungspflicht siehe BayVGH, B.v. 12.3.2014, Az. 10 CE 14.427 – juris).
Die Bevollmächtigte des Antragstellers hat hierzu nichts vorgetragen. Auch aus den beiden zu einem anderen Zweck vorgelegten im Iran ausgestellten ärztlichen Rezepten ergeben sich keine gesundheitlichen Einwendungen gegen die Abschiebungsanordnung. Im Übrigen wird auf die hohen gesetzlichen Anforderungen an die Berücksichtigungsfähigkeit gesundheitlicher Einwendungen, sowohl was die Schwere des Leidens, den Einwand der nicht ausreichenden Behandelbarkeit im Zielland als auch den qualifizierten ärztlichen Nachweis des Leidens betrifft (siehe § 60 Abs. 7 Satz 2 bis 4, § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG), hingewiesen.
3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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