Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in Italien

Aktenzeichen  M 3 S7 17.51291

Datum:
11.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2
EMRK EMRK Art. 3
RL 2011/95/EU Art. 34

 

Leitsatz

Aus der Vorschrift des Art. 34 RL 2011/95/EU (Zugang zu Integrationsmaßnahmen) kann kein über dem Inländerniveau liegendes flüchtlings- und menschenrechtliches Existenzminimum abgeleitet werden. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der am … 1989 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger und reiste seinen Angaben zufolge am 12. Oktober 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 24. Oktober 2016 einen Asylantrag stellte.
Mit Bescheid vom 5. Januar 2017, zugestellt am 13. Januar 2017, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Am 19. Januar 2017 hat der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid vom 5. Januar 2017 erhoben und zugleich beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung vom 5. Januar 2017 anzuordnen. Diesen Antrag lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 10. Februar 2017 (M 3 S. 17.50126) ab.
Mit Schriftsatz vom 8. Mai 2017, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, beantragt der Bevollmächtigte des Antragstellers, unter Abänderung des Beschlusses vom 10. Februar 2017 die aufschiebenWirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde auf einen Vorlagebeschluss des VGH Baden-Württemberg vom 15. März 2017 verwiesen, mit dem der Verwaltungsgerichtshof dem EuGH u.a. die Frage vorlegte, ob eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedsstaat unzulässig sei, wenn er für den Fall der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus dort im Hinblick auf die dann zu erwartenden Lebensumstände einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne des Art. 4 Grundrechtscharta zu erfahren. Der Bevollmächtigte betonte, dass nach Auffassung des VGH diese Frage Relevanz für alle Italien betreffenden Überstellungsverfahren im gesamten Dublin System habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakte in diesem sowie im Antragsverfahren M 3 S. 17.50126 einschließlich des dortigen Beschlusses und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Voraussetzung ist, dass nach einem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren Umstände, also Veränderungen der Sach- und Rechtslage vorgetragen werden, die ein Abweichen von der ursprünglichen Entscheidung rechtfertigen können.
Eine solche Änderung ist vorliegend nicht gegeben. Die Sach- und Rechtslage hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht maßgeblich zugunsten der Antragsteller geändert.
Die zitierte Vorlageentscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15. März 2017 rechtfertigt keine Abänderung des Beschlusses in Hinblick auf die (verneinte) Unmöglichkeit der Überstellung nach Italien wegen systemischer Mängel i.S.d. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-VO und begründet auch kein zielstaats- oder inlandsbezogenes Abschiebungshindernis.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta entspricht. Zur Widerlegung der vorgenannten Vermutung muss sich der Tatrichter daher die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.03.2014 – 10 B 6.14 – juris). An die Feststellung systemischer Mängel sind hohe Anforderungen zu stellen und es kann nur bei strukturellen und landesweiten Missständen davon ausgegangen werden, dass eine individuelle und konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung eines jeden einzelnen oder zumindest einer nennenswerten Anzahl von Asylbewerbern von den nationalen Behörden tatenlos hingenommen wird (vgl. BayVGH, U.v. 19.01.2016 – 11 B 15.50130 – juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat sich das Gericht im Beschluss vom 10. Februar 2017 bereits ausführlich mit der Situation in Italien auseinander gesetzt und unter Auswertung neuerer Erkenntnismittel – wie insbesondere dem vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zitierten Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe von August 2016 – ausgeführt, dass es im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon ausgeht, dass der Antragsteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Der Beschluss geht dabei explizit auch auf die Lage von Personen ein, die in Italien einen internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben. Auch nach dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe (S. 49 f) sind anerkannte Flüchtlinge hinsichtlich der sozialen Rechte einschließlich des Zugangs zu Sozialhilfe und Sozialwohnungen mit italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Aus den Berichten der Schweizer Flüchtlingshilfe wie auch des Europäischen Flüchtlingsrats – ECRE – (Länderbericht für das Projekt AIDA – Asylum Information Database – zu Italien, Update Februar 2017, abrufbar unter http://www…org/…) ergeben sich zwar erhebliche Defizite bei der Unterbringung von Asylbewerbern wie auch Personen mit Schutzstatus. Nach Überzeugung des Gerichts begründen die dargestellten Defizite jedoch keine derartigen strukturellen und landesweiten Missstände, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle und konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung des Antragstellers droht, zumal die italienischen Behörden auf die Defizite reagiert und u.a. zusätzliche Aufnahmezentren geschaffen haben.
Das italienische Sozialhilfesystem mag zwar im Vergleich mit dem in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Sozialleistungssystem regional unterschiedlich und insgesamt sehr schwach ausgestaltet sein, hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass Asylbewerber oder Personen Schutzstatus in Italien Gefahr laufen würden, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. EU-Grundrechtscharta und der EMRK ausgesetzt zu sein. An dieser Auffassung des Gerichts ändert die aktuelle Vorlagefrage des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg nichts.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat wiederholt entschieden, dass Artikel 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, U. v. 18.1.2001 – Nr. 27238/95, Chapman – Rn. 99; U.v. 26.4.2005 – Nr. 53566/99, Müslim – Rn. 85; U.v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. – Rn. 249). Dabei hat der EGMR darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und anständige materielle Bedingungen zu gewähren, namentlich durch die Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. L 180/96) Bestandteil des positiven Rechts geworden ist und sich daraus Mindeststandards für die Aufnahme von Asylbewerbern ergeben (vgl. EGMR U.v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. – Rn. 250). Dies betrifft Asylbewerber während des laufenden Asylverfahrens (vgl. Art. 3 der Aufnahmerichtlinie).
Die vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vorgelegte Frage betrifft demgegenüber die Situation von Personen, deren Asylverfahren mit einer positiven Entscheidung abgeschlossen wurde. In diesem Fall sind Mindeststandards in der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 S. 9) geregelt. Aus diesen Vorgaben lässt sich in Bezug auf Sozialhilfeleistungen, den Zugang zur Beschäftigung und Bildung sowie zur medizinischen Versorgung jedoch nur ein Anspruch auf Inländerbehandlung herleiten (vgl. Art. 26 Abs. 2, Art. 27 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1 und 2, Art. 30 Abs. 1 und 2 Qualifikationsrichtlinie). Der über allem stehende Grundsatz der Inländergleichbehandlung wird zudem in Erwägungsgrund 45 der Qualifikationsrichtlinie sehr deutlich. Dort wird die Notwendigkeit der Vermeidung sozialer Härtefälle explizit angesprochen, selbst eine Mindesteinkommensunterstützung wird aber nur gefordert, soweit diese Leistungen nach dem nationalen Recht eigenen Staatsangehörigen gewährt werden. In Bezug auf den Zugang zu Wohnraum findet sogar eine weitere Einschränkung statt, da Art. 32 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie insoweit nur gleichwertige Bedingungen im Vergleich zu anderen, sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen fordert (sodass jedenfalls insoweit auch der Verweis auf ein tragfähiges familiäres Netz der italienischen Hilfsbedürftigen – vgl. Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe, S. 49 – nicht greift).
Dass in allen genannten Bereichen – einschließlich des Zugangs zu Sozialwohnungen (vgl. ECRE-Bericht, S. 111; Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe, S. 50) – eine Inländergleichbehandlung mit italienischen Staatsbürgern dem Grundsatz nach besteht, wird von keiner Seite bezweifelt und insbesondere auch im Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe nicht bestritten. Die Argumentation des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, letztlich allein anknüpfend an die Vorschrift des Art. 34 Qualifikationsrichtlinie (Zugang zu Integrationsmaßnahmen) den Standard eines über dem Inländerniveau liegenden flüchtlings- und menschenrechtlichen Minimums abzuleiten, widerspricht nach Auffassung des Gerichts den europarechtlichen Vorgaben insbesondere der Qualifikationsrichtlinie und vermag daher nicht zu überzeugen.
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen (vgl. EGMR U.v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. – Rn. 251). Im Falle einer Inländergleichbehandlung von Personen mit Schutzstatus kann eine Verletzung des Art. 3 EMRK nach Auffassung des Gerichts jedoch nur unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR begründet werden, wonach Art. 3 EMRK verletzt sein kann, wenn ein Betroffener, in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert wird und sich damit in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not befindet, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist (vgl. EGMR, U.v. 18.6.2009 – Nr. 45603/05, Budina; U.v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. – Rn. 253). Bei besonders schutzbedürftigen Personen kann sich die Verweigerung von staatlicher Hilfeleistung damit zu einer relevanten, existenzbedrohenden Gefahr verdichten (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, U.v. 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 – juris). Dies setzt aber eine spezifische gerade beim Antragsteller im Unterschied zu anderen möglichen Dublin-Rückkehrern gesteigerte Verwundbarkeit voraus. Für den Antragsteller geht das Gericht auf der Grundlage seines Vortrags und der beigezogenen Behördenakte indes nicht davon aus, dass er zu einem Personenkreis gehört, der in diesem Sinne besonders schutzbedürftig ist.
Im Übrigen kann mit Blick auf die von den italienischen Behörden laufend ergriffenen Maßnahmen kaum von behördlicher Gleichgültigkeit ausgegangen werden (vgl. bereits die Ausführungen im Beschluss vom 10. Februar 2017, S. 10 f). In diesem Zusammenhang muss – entgegen der Auffassung des VGH Baden-Württemberg – auch die im Vorlagebeschluss angesprochene geplante Verabschiedung eines Integrationsplans durch die italienischen Behörden Berücksichtigung finden, selbst wenn die Verabschiedung und deren Umsetzung noch weitere Zeit in Anspruch nehmen sollte.
Vollstreckungshindernisse, die über die allgemeinen Verhältnisse für Asylbewerber in Italien hinausgehen, wurden nicht vorgetragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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