Europarecht

Keine systemischen Mängel des niederländischen Asylsystems

Aktenzeichen  W 8 S 20.50077

Datum:
24.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3622
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. d

 

Leitsatz

Das niederländische Asylsystem weist keine systemischer Mängel auf, die mit beachtlicher bzw. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Asylsuchenden im Falle seiner Rückführer befürchten lassen. (Rn. 14 – 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben algerischer Staatsangehöriger. Er reiste am 3. Januar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland, äußerte ein Asylgesuch und stellte am 14. Januar 2020 einen förmlichen Asylantrag.
Nach Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen durch Abgleich der Fingerabdrücke des Antragstellers mit der EURODAC-Datenbank Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates – den Niederlanden – gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor.
Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für … am 3. Februar 2020 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er sei Algerier, habe aber einen Großteil seines Lebens in Marokko verbracht und sei zwischen den beiden Ländern gependelt. Er habe bereits in den Niederlanden Asyl beantragt. Er habe unerlaubt die Flüchtlingsunterkunft verlassen, dann sei sein Asylantrag abgelehnt worden. Er sei zuvor davon ausgegangen, er sei anerkannt worden, weil er in das Camp transferiert und ihm gesagt worden sei er könne hier bleiben. Einen schriftlichen Bescheid habe er nicht erhalten. Er habe kein Problem damit, in die Niederlande zurückzukehren. Ferner habe er Schwierigkeiten mit seinen Augen und dem Herzen. Der Arzt in der Unterkunft habe ihm gesagt, es sei alles in Ordnung, er wisse aber nicht, ob es ein richtiger Arzt gewesen sei. Medikamente nehme er nicht ein.
Auf ein Übernahmeersuchen vom 4. Februar 2020 erklärten die niederländischen Behörden mit Schreiben vom 10. Februar 2020 ihre Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 11. Februar 2020 lehnte das Bundesamt für … den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich den Niederlanden nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung in die Niederlande wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung be-fristet (Nr. 4).
Am 19. Februar 2020 erhob der Antragsteller zu Protokoll der Urkundsbeamtin im Verfahren W 8 K 20.50076 Klage und beantragte im hiesigen Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung verweist er auf die Anhörung beim Bundesamt für … Darüber hinaus trägt er vor, er wolle in Deutschland bleiben und nicht zurück in die Niederlande, da er dort keinen Schlafplatz habe und die medizinische Versorgung schlecht sei. Er habe dort auch keine Arbeit und könne seinen Lebensunterhalt nicht selbstständig bestreiten. In Deutschland wolle er sich eine Zukunft aufbauen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte W 8 K 20.50076) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers (§ 122 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 88 VwGO) ist sein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage dahingehend zu verstehen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 11. Februar 2020 begehrt.
Sein so verstandener Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Bescheid des Bundesamts für … vom 11. Februar 2020 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt mithin das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet bleiben zu dürfen.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Gericht macht sich diese zu Eigen.
Ergänzend ist auszuführen:
1. Die Niederlande sind gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Verordnung Nr. 604/2013/EU – Dublin III-VO). Aufgrund des dort abgelehnten Asylantrags des Antragstellers ergibt sich die Zuständigkeit vorliegend aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO. Die niederländischen Behörden haben ihre dahingehende Zuständigkeit am 10. Februar 2020 explizit erklärt.
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht.
Das gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller defizitärer Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwendigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens stehen deshalb nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
Ausgehend von vorstehenden Grundsätzen bestehen aufgrund der aktuellen Erkenntnislage des Gerichts keine Anhaltspunkte für das Vorliegen derartiger systemischer Mängel im niederländischen Asylsystem.
In den Niederlanden existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylverfahren. Die speziellen Bedürfnisse des Schutzsuchenden werden berücksichtigt. Gemäß Gesetz haben alle mittellosen Asylbewerber ein Recht auf Unterbringung und auf materielle Versorgung ab Antragstellung. Sie erhalten in der Regel eine monatliche Unterstützung/Gutscheine. Sie dürfen 24 Wochen im Jahr auch arbeiten. Asylbewerber sind versichert und haben einen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die allgemeine medizinische Behandlung ist, soweit möglich, dieselbe wie für niederländische Bürger, erweitert um besonderes Augenmerk auf sprachliche und kulturelle Unterschiede, die Lebenssituation für Asylbewerber, das Asylverfahren und deren besondere Bedürfnisse. Asylbewerber haben Zugang zur medizinischen Basisversorgung, darunter Zugang zur Allgemeinmedizin, Krankenhäusern, Psychologen, Zahnmedizin und auf Tagesbasis Zugang zu psychiatrischen Kliniken. Es gibt eine Reihe spezialisierter Institutionen zur Behandlung von Asylbewerbern mit psychischen Problemen. Es ist davon auszugehen, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in den Niederlanden, wie generell in der EU, im ausreichenden Maße verfügbar sind (vgl. zu alledem BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Niederlande, vom 16.2.2018, m.w.N.). Im Ergebnis bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen eine Überstellung in die Niederlande (so auch VG Würzburg, B.v. 2.1.2020 – W 8 S 19.50836; B.v. 26.6.2019 – W 8 S 19.50569 – juris; B.v. 21.6.2018 – W 4 S 18.50299; B.v. 13.3.2018 – W 4 S 18.50093; VG Lüneburg, B.v. 22.2.2019 – 8 B 37/19 – juris; VG München, G.v. 24.10.2018 – M 1 K 17.51216 – juris).
Auch die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers in den Niederlanden, verbunden mit einer ihm möglicherweise drohenden Abschiebung in sein Heimatland, führt nicht zu einer Zuständigkeit der Antragsgegnerin verbunden mit einer nochmaligen Prüfung ihres Schutzbegehrens in Deutschland. Die Antragsgegnerin hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zu Recht darauf hingewiesen, dass es dem Antragsteller freistehe, in den Niederlanden um Rechtschutz nachzusuchen bzw. dort einen Folgeantrag zu stellen. Dass bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber mit ihrer Abschiebung in ihr Heimatland zu rechnen haben, ist kein hier relevanter Mangel des Asylverfahrens und auch im Übrigen nicht menschenrechtswidrig. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in den Niederlanden ein rechtstaatliches Erst- und gegebenenfalls auch Folgeverfahren durchgeführt und auch sonst nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfahren wird. Der Asylbewerber hat nach der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen insbesondere kein Wahlrecht, sich den Mitgliedstaat auszusuchen, in dem er sich bessere Chancen oder angenehmere Aufenthaltsbedingungen erhofft oder nach Ablehnung eines Asylantrags in einen anderen Mitgliedstaat weiter zu reisen, um eine zusätzliche Prüfung seines Asylantrags mit einem für ihn günstigeren Ergebnis zu erreichen. Relevant sind allein die Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach der Dublin III-VO.
Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GRCharta droht dem Antragsteller auch nicht nach der unterstellten Zuerkennung internationalen Schutzes (vgl. BVerfG, B.v. 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 89). Dafür, dass die Lebensbedingungen anerkannt Schutzberechtigter in den Niederlanden generell derartig defizitär wären, gibt es keine Anhaltspunkte (so auch VG Düsseldorf, B.v. 16.12.2019 – 29 L 2681/19.A – juris m.w.N. und BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Niederlande, vom 16.2.2018, S. 10).
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat.
2. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG sind nicht ersichtlich. Auch insoweit nimmt das Gericht auf die Ausführungen in der Begründung des Bescheids Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG) und macht sich diese zu Eigen.
Wenn der Antragsteller vorbringt, er habe in den Niederlanden keinen Schlafplatz und keine Arbeit, mit der er seinen Lebensunterhalt verdienen könne, ist dem entgegenzuhalten, dass er nach den obigen Ausführungen und den Erkenntnismitteln Anspruch auf eine Unterbringung hat und zumindest 24 Wochen im Jahr arbeiten darf. Sein Vorbringen führt deshalb nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, da ihm bei seiner Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung droht. Eine etwaige Abschiebung in sein Heimatland nach bestandskräftiger Ablehnung des Asylantrags stellt nach oben Gesagtem zudem keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar.
Hinsichtlich etwaiger Krankheiten hat der Antragsteller schon nichts Konkretes vorgetragen und im Übrigen keine Atteste vorgelegt. Er muss sich im Bedarfsfalle auf das niederländische Gesundheitssystem verweisen lassen.
Schließlich sind auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte, nicht ersichtlich.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung war daher nach alledem abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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