Europarecht

keine systemischen Mängel im französischen Asylsystem

Aktenzeichen  W 8 S 20.50166

Datum:
15.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 13852
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 88
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5,Abs.7
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 2, Art.17 Abs.1
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2
EMRK Art. 3
EU-GR Art. 4

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller, algerischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 10. Februar 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte ein Asylgesuch und stellte am 13. März 2020 einen förmlichen Asylantrag.
Nach Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates (Frankreich) gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 19. März 2020 erklärten die französischen Behörden mit Schreiben vom 13. Mai 2020 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers gemäß Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 14. Mai 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Frankreich an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 10 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 10. Juni 2020 erhob der Antragsteller im Verfahren W 8 K 20.50165 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte im vorliegenden Verfahren:
Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung nach Frankreich wird die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 K 20.50165) sowie die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Begehrens des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers (§ 88 VwGO i.V.m. § 122 VwGO) ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Frankreich in Nr. 3 des Bundesamtsbescheids vom 14. Mai 2020 begehrt.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet bleiben zu dürfen.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Frankreich ist gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Verordnung Nr. 604/2013/EU – Dublin III-VO). Die Zuständigkeit Frankreichs ergibt sich vorliegend aus Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO. Die französischen Behörden haben ihre Zuständigkeit mit Schreiben vom 13. Mai 2020 ausdrücklich erklärt.
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand auch unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – NVwZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das französische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) ausgesetzt wären.
Das gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 80). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller defizitärer Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12. 2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwendigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens stehen deshalb nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind hoch. Konkretisierend hat der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019 (C-163/17 – juris Rn. 91) ausgeführt, dass systemische Schwachstellen nur dann als Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten seien, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht werde, die von sämtlichen Umständen des Falles abhänge. Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats müsse zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92 f.).
Ausgehend von vorstehenden Grundsätzen bestehen aufgrund der aktuellen Erkenntnislage des Gerichts keine Anhaltspunkte für das Vorliegen derartiger systemischer Mängel im französischen Asylsystem (VG Würzburg, U.v. 15.5.2020 – W 8 K 20.50136; B.v. 2.3.2020 – W 8 S 20.50081 und W 8 S 20.50083 – jeweils juris; ebenso etwa VG Ansbach, B.v. 5.2.2020 – AN 17 S 19.51229 – juris; U.v. 11.11.2019 – AN 17 K 19.50901 – juris; VG Bremen B.v. 13.1.2020 – 4 K 1136/19 – juris; VG Lüneburg, B.v. 14.3.2019 – 8 B 41/19 – juris; VG Karlsruhe, B.v. 11.3.2019 – 1 K 6963/18, A 1 K 6963/18 – juris; jeweils m.w.N.), zumal der Antragsteller nichts Dahingehendes substanziiert vorgebracht hat. In Frankreich existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Anträge von Dublin-Rückkehrern werden wie jeder andere Asylantrag behandelt. Es besteht die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen. Dublin-Rückkehrer haben denselben Zugang zur Unterbringung wie reguläre Asylbewerber. Sie erhalten eine Beihilfe und haben Anspruch auf medizinische Versorgung, welche psychische und psychologische Hilfe miteinschließt. Außerdem haben Asylbewerber Zugang zum Arbeitsmarkt, wenn über ihren Asylantrag nicht innerhalb vom neun Monaten entschieden ist (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Frankreich vom 29.1.2018 m.w.N.).
Auch wenn der Zugang von Asylbewerbern zu Unterbringungen in Einzelfällen problematisch sein kann (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Frankreich vom 29.1.2018, S. 9), wird hierdurch bei summarischer Prüfung nicht die oben dargelegte hohe Eingriffsschwelle hinsichtlich Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh in Bezug auf die Bejahung systemischer Schwachstellen im französischen Asylsystem erreicht. Dies gilt umso mehr, als der französische Staat sich gegenüber diesen Defiziten nicht gleichgültig zeigt, sondern mit entsprechenden Maßnahmen zur Verbesserung der Unterbringungssituation reagiert hat (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Frankreich vom 29.1.2018, S. 9; vgl. auch Aida, Country Report: France, Update 2019 vom 31.12.2019, S. 91 ff.).
Auch unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie ist der französische Staat nicht tatenlos geblieben. So wurden etwa Unterbringungseinrichtungen angewiesen, momentan dort befindliche Bewohner nicht zu entfernen. Notunterkünfte wurden bereitgestellt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, auserwählte Dublin, Balkan und Ukraine, aktuelle Lage in Zusammenhang mit COVID-19 [Corona-Pandemie], vom 18.5.2020).
Das Gericht geht davon aus, dass dem Antragsteller nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in Frankreich das Schicksal unfreiwilliger Obdachlosigkeit trifft. Das Gericht verkennt nicht, dass der Zugang zu staatlicher organisierter Unterbringung in der Praxis schwierig sein kann. Allerdings sind in Frankreich auch private Unterbringungsplätze, etwa von gemeinnützigen Hilfsorganisationen, vorhanden, die Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern während der Wartezeit auf staatliche organisierte Unterkunft Obdach bieten können. Grundsätzlich werden ausreichende Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer in verschiedenen staatlichen Unterkünften sichergestellt. Vulnerable Personen werden in der Regel in Einrichtungen der Cada untergebracht, die es ermöglichen, besonderen Bedürfnissen von schutzbedürftigen Personen zu berücksichtigen. Auch wenn spezifische Bedürfnisse vulnerabler Personen nicht in jedem Fall beachtet werden können und es in Einzelfällen zu vorübergehender Obdachlosigkeit kommen kann, sind diese defizitären Umstände noch nicht als generelle systemische Mängel in Frankreich zu qualifizieren (VG Würzburg, U.v. 15.5.2020 – W 8 K 20.50136; B.v. 2.3.2020 – W 8 S 20.50081 und W 8 S 20.50083 – jeweils juris sowie etwa VG Karlsruhe, B.v. 11.3.2019 – 1 K 6963/18, A 1 K 6963/18 – juris; VG Würzburg, B.v. 7.12.2018 – W 10 S 18.50560 – juris).
Insbesondere ist es dem Antragsteller zumutbar, sich den Anforderungen des französischen Asyl- und Aufnahmeverfahrens – auch zur Vermeidung von Obdachlosigkeit – zu unterwerfen und die ihm dort gebotenen Möglichkeiten, gegebenenfalls auch Rechtsschutzmöglichkeiten, sowie erforderlichenfalls Hilfemöglichkeiten durch Private zu ergreifen und so durch eigenes Zutun und eigene Mitwirkung einer eventuelle drohenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bzw. einer existenziellen Gefahr zu begegnen. Eine etwa erforderliche Eigeninitiative, wie etwa bei der Registrierung bei der zuständigen Stelle, ist zumutbar.
Vorstehendes gilt auch im Falle einer eventuellen Anerkennung eines internationalen Schutzstatutes in Frankreich. Denn Personen, die während des Asylverfahrens untergebracht werden, können nach der Gewährung eines Schutzstatus weitere drei Monate (um 3 Monate verlängerbar) und im Falle der Ablehnung des Asylantrags einen Monat lang weiterhin in der ursprünglichen Unterkunft bleiben. Des Weiteren müssen sie einen Willkommens- und Integrationsvertrag unterschreiben, welcher der Integration in die französische Gesellschaft durch maßgeschneiderte Unterstützung beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Bildung dient. Im Rahmen des Integrationsvertrags besteht die Möglichkeit auf eine temporäre Unterbringung für neun Monate mit einer Verlängerungsmöglichkeit um weitere drei Monate. Nichtregierungsorganisationen bieten weitere Integrationsprogramme, aber auch temporäre Unterkünfte für Schutzberechtigte an. Nach dem Asylverfahren muss die die Gesundheitsbehörde über den gewährten Schutzstatus informiert werden. Schutzberechtigte erhalten dann eine Krankenversicherungskarte und können weiterhin kostenfrei vom Allgemeinen Zusatzkrankenschutz profitieren. International Schutzberechtigte haben auch Zugang zu Sozialleistungen und verschiedenen Beihilfen in Bereichen wie Familie, Wohnraum, Bildung, Behinderung usw. (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Frankreich vom 29.1.2018, S. 12 f.).
Weiter ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat.
Auch eine Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers in Frankreich, verbunden mit einer ihm möglicherweise drohenden Abschiebung in das Heimatland, führt nicht zu einer Zuständigkeit der Antragsgegnerin verbunden mit einer (nochmaligen) Prüfung des Schutzbegehrens in Deutschland. Dem Antragsteller steht es frei, in Frankreich gegebenenfalls um Rechtschutz nachzusuchen bzw. dort einen Folgeantrag zu stellen. Dass bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber mit ihrer Abschiebung in ihr Herkunftsland zu rechnen haben, ist kein hier relevanter Mangel des Asylverfahrens und auch im Übrigen nicht menschenrechtswidrig. Vielmehr ist – wie ausgeführt – davon auszugehen, dass in Frankreich ein rechtstaatliches Erst- und gegebenenfalls auch Folgeverfahren durchgeführt wird. Der Asylbewerber hat nach der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen insbesondere kein Wahlrecht, sich den Mitgliedsstaat auszusuchen, in dem er sich bessere Chancen oder angenehmere Aufenthaltsbedingungen erhofft oder nach Ablehnung eines Asylantrags in einem Mitgliedsstaat in einen anderen Mitgliedsstaat weiterzureisen, um eine weitere Prüfung seines Asylantrags mit einen für ihn günstigen Ergebnis zu erreichen. Relevant sind allein die Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates nach der Dublin III-VO.
Eine andere Beurteilung der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung in Nr. 1 ist insbesondere auch nicht vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Entwicklung im Zuge der COVID-19-Pandemie (Corona-Krise) angezeigt (ebenso VG Würzburg, U.v. 15.5.2020 – W 8 K 20.50136, m.w.N.).
Das Gericht geht nicht davon aus, dass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG die Verhältnisse in Frankreich mit Blick auf das „Coronavirus“ entgegenstehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn den Klägern in Frankreich aufgrund der voraussichtlichen Lebensverhältnisse in eine Lage extremer Not geraten würden. Dies gilt aber wegen des oben näher erläuterten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nur in Extremfällen (vgl. Heusch/Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand: 1.3.2020, § 29 AsylG Rn. 22-24). Das Gericht hat – auf der Basis des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und auch angesichts der in Frankreich getroffenen Maßnahmen – keine substantiierten Erkenntnisse, die die Annahme eines solchen Extremfalles in der Person der Antragsteller oder allgemein das Vorliegen systemischer Mängel in Frankreich begründen könnten. Im System des gegenseitigen Vertrauens ist für Frankreich vielmehr weiter von einem die Grundrechte sowie die Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden, wahrenden Asylsystem auszugehen.
Dies gilt auch im Hinblick auf die Corona-Situation. Frankreich hat die ausgesetzte Registrierung von Flüchtlingen wiederaufgenommen. Durch die Ausrufung eines medizinischen Notstandes ist die Suspendierung von Beschwerdefristen möglich geworden, so auch für Beschwerden gegen erstinstanzliche Asylbescheide. Die Unterbringungseinrichtungen wurden angewiesen, momentan dort befindliche Bewohner nicht zu entfernen, auch keine negativ entschiedenen Fälle und keine Personen, die einen Schutztitel erhalten hätten. Notunterkünfte seien bereitgestellt worden (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, ausgewählte Dublin, Balkan und Ukraine, aktuelle Lage im Zusammenhang mit COVID-19 [Corona-Pandemie] vom 18.5.2020, S. 5).
Bei dem Antragsteller liegen zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Schließlich sind auch sonst inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte, derzeit nicht ersichtlich.
Insbesondere führt die COVID-19-(sog. Corona-)Pandemie in Frankreich nach dem für das Gericht maßgeblichen gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht zur Feststellung eines solchen zielstaatbezogenen Abschiebungsverbots. Nach der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längsten drei Monate ausgesetzt wird.
Nur wenn eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 2 AufenthG fehlt, kann der Kläger in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn er bei Überstellung aufgrund der herrschenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller nicht vor. Denn nur, wenn im Einzelfall die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, etwa wenn das Fehlen eines Abschiebungsstopps dazu führen würde, dass ein Ausländer im Zielstaat der Abschiebung sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde, wird die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG durchbrochen und es ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (vgl. Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand: 15.8.2016, § 60 Rn. 45 m.w.N.).
Eine derartige Extremgefahr kann für den Antragsteller im Falle ihrer Rückkehr nach Frankreich indes nicht angenommen werden. Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass der Antragsteller, der unter keinen erheblichen Vorerkrankungen leidet, in Frankreich gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wären. Selbst unter Berücksichtigung der Entwicklung der Corona-Pandemie in Frankreich besteht nach dem oben genannten Maßstab – selbst bei unterstellter (nicht zwangsläufiger) Infektion mit „Coronavirus“ SARS-CoV-2 – keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppe, welcher der Antragsteller angehört. Nach den bisherigen Erkenntnissen zu COVID-19 kommt es beim ganz überwiegenden Teil der Erkrankten zu einem milden bis moderaten Verlauf, ein geringer Teil entwickelt eine schwere Erkrankung. Das größte Risiko für einen schweren Verlauf besteht bei Personen im Alter von über 70 Jahren und Personen mit Vorerkrankungen. Bei Kindern sind Erkrankungen seltener und verlaufen in der Regel mild (vgl. Robert-Koch-Institut, Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 [COVID-19], Stand: 12.6.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html, abgerufen am 12.6.2020).
Des Weiteren ist die Versorgungslage für die Bevölkerung in Frankreich auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen nicht derart desolat, dass auch nur annähernd von einer allgemeinen Gefahrenlage im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG gesprochen werden könnte. Insbesondere wurden die innerfranzösischen Einschränkungen seit dem 2. Juni 2020 weitgehend gelockert, teilweise kann noch Maskenpflicht bestehen (Auswärtiges Amt, Frankreich: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand 12.6.2020: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/frankreich-node/frankreichsicherheit/209524; zuletzt abgerufen am 12.6.2020). Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist sichergestellt.
Das Gericht geht weiter nicht davon aus, dass eine Dublin-Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat sonst längerfristig aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich wäre.
Insbesondere stehen der Abschiebungsanordnung aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie und der damit zusammenhängenden – mittlerweile wieder gelockerten – Reisebeschränkungen keine tatsächlichen Vollzugshindernisse entgegen. Denn dies wäre nur der Fall, wenn aufgrund der bestehenden Beschränkungen im Schengenraum die der Beklagten letztlich verbleibende Überstellungsfrist von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO tatsächlich nicht eingehalten werden könnte und es insoweit absehbar zu einem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte kommen würde. Der Prognose, ob der Abschiebungsanordnung tatsächliche Vollzugshindernisse entgegenstehen, ist grundsätzlich dieser Sechs-Monats-Zeitraum für die rechtliche Beurteilung zugrunde zu legen. Der Begriff des Feststehens im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG meint ein relatives Feststehen in dem Sinne, dass nach derzeitigem Verfahrensstand die Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG Rn. 53). Unter Berücksichtigung der in Europa zahlreich getroffenen Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie und insbesondere der in Frankreich getroffenen hohen Schutzvorkehrungen kann – unter Hinweis auf die Situation in China – innerhalb eines Zeitfensters von sechs Monaten mit einer Eindämmung und entsprechender Herabstufung der Sicherheitsmaßnahmen ernsthaft gerechnet werden (VG Würzburg, U.v. 15.5.2020 – W 8 K 20.50136; vgl. in Bezug auf Spanien VG Ansbach, B.v. 18.3.2020 – AN 17 S 20.50116 – juris Rn. 21). Folglich ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nach § 77 Abs. 1 AsylG nicht konkret absehbar, dass es binnen der regelmäßigen Überstellungsfrist tatsächlich nicht zu einer Überstellung des Antragstellers kommen kann, zumal die Reisebeschränkungen im Schengenraum mittlerweile weitgehend gelockert wurden bzw. alsbald gelockert werden sollen.
Nach alledem ist die Abschiebung des Antragstellers nach Frankreich weiterhin rechtlich zulässig und möglich.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung war daher nach alledem abzulehnen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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