Europarecht

Keine systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien

Aktenzeichen  M 1 S 18.52741

Datum:
11.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2575
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2

 

Leitsatz

Im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Dublin-Rückkehrer in Italien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der am … … 1991 geborene Antragsteller ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger. Er stellte in Deutschland am 7. August 2018 ein förmliches Asylgesuch. Eine EURODAC-Recherche ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Italien (IT1…) vom 14. Mai 2014.
Bei seiner Befragung durch das Bundesamt für … (Bundesamt) am 7. August 2018 gab der Antragsteller an, dass er sein Heimatland am 17. Januar 2014 verlassen habe und über Niger, Libyen, Italien und Frankreich nach Deutschland gereist sei. Er sei am 8. April 2014 nach Italien eingereist und habe sich dort vier Jahre lang aufgehalten. Er habe dort einen Aufenthaltstitel erhalten, der ein Jahr und sodann für weitere zwei Jahre gültig gewesen sei.
Das Bundesamt richtete am 8. August 2018 ein Wiederaufnahmegesuch an Italien. In der Behördenakte befindet sich eine Eingangsbestätigung Italiens vom gleichen Tag. Eine Antwort erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 23. August 2018, zugestellt am 31. August 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Nr. 3). In Nr. 4 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Am *. September 2018 erhob der Antragsteller zur Niederschrift der Rechtsantragstelle Klage (M 1 K 18.52740) gegen den vorgenannten Bescheid. Er beantragt zugleich im vorliegenden Verfahren,
hinsichtlich der Abschiebungsanordnung die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung bezog sich der Antragsteller auf seine Ausführungen gegenüber dem Bundesamt. Ferner führte er aus, in Italien habe er weder Hilfe noch eine Unterkunft erhalten. Er befürchte, im Falle einer Rückkehr erneut obdachlos auf der Straße leben zu müssen.
Die Antragsgegnerin legte die Akte vor, stellte jedoch keinen eigenen Antrag.
Zum weiteren Vorbringen und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet.
Die vom Antragsteller eingelegte Klage entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG. Das Gericht der Hauptsache kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundlage der Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtmäßig ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) oder einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Italien ist als Mitgliedsstaat, in dem der Antragsteller ausweislich des EURODAC-Treffers illegal aus einem Drittland in die EU eingereist ist, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Ausgehend von den Eurodac-Daten und dem Vortrag des Antragstellers ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG zuständig.
Dies ergibt sich mangels vorrangiger Zuständigkeitskriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da Italien der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend – ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal – überschritten hat. Es trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Antragstellung und Eurodac-Treffermeldung erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, sodass davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO). Italien ist daher gem. Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller wieder aufzunehmen.
2. Besondere Umstände, die die ausnahmsweise Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO begründen würden, sind nicht ersichtlich.
Insbesondere kann der Antragsteller seiner Überstellung nach Italien nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen, sodass eine Überstellung nach Italien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO).
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938.93 und 2 BvR 2315.93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411.10 und C-493.10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedsstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedsstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedsstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. zur Dublin-II-VO BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9).
Im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller in Italien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96.17 – juris Rn. 39 ff.; OVG NRW, B.v. 16.2.2017 – 13 A 316.17.A – juris Rn. 3 – 5; U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859.14.A – juris Rn. 54 ff.). Eine Überforderung des italienischen Asylsystems ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen nicht anzunehmen (vgl. VG München, B.v. 22.10.2019 – M 19 S 19.51137; B.v. 29.5.2019 – M 3 S 19.50435; B.v. 20.2.2017 – M 9 S 17.50105 – juris; B.v. 29.12.2016 – M 1 S 16.50997 – juris; VG Hamburg, B.v. 8.2.2017 – 9 AE 5887.16 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 18.1.2017 – 12 L 3754.16.A – juris; NdsOVG, U.v. 25.6.2015 – 11 LB 248.14 – juris).
Auch aufgrund der Veränderungen durch das sogenannte Salvini-Gesetz und des aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ergibt sich nichts anderes (so auch OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201.18 – juris Rn. 40; VG München, B.v. 5.3.2019 – M 11 S7 19.50086 – BeckRS 2019, 3550; B.v. 1.3.2019 – M 11 S 19.50094; B.v. 6.2.2019 – M 10 S7 19.50049 – BeckRS 2019, 5145; VG Aachen, B.v. 7.2.2019 – 9 L 84.19.A – juris Rn. 26 f.). Zwar sollen die Unterkünfte in den SPRAR seit Oktober 2018 der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Personen mit internationalem Schutztitel vorbehalten bleiben. Die meisten Asylsuchenden sollen in größeren Auffangzentren untergebracht werden, während anerkannte Flüchtlinge und ledige unbegleitete Minderjährige auf kleinere Unterkünfte der SPRAR verteilt werden sollen. Auch wenn infolgedessen rund 36.000 SPRAR-Plätze für die Unterbringung sonstiger Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer – wie dem Antragsteller – wegfallen, verbleiben noch rund 147.000 Plätze in sonstigen Unterkünften wie etwa in den CARA oder CAS. Ein evidentes Missverhältnis zwischen der Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten und den vorhandenen Unterkunftskapazitäten ist damit nicht feststellbar, zumal die Zahl der Asylgesuche in Italien im Jahr 2018 deutlich zurückgegangen ist (vgl. hierzu: VG Aachen, B.v. 7.2.2019 – 9 L 84.19.A – juris Rn. 26 f.). Diese Erkenntnisse decken sich mit der aktuellen Auskunft der Bundesregierung vom 13. März 2019 (Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drs. 19/7623 – Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2018 – Schwerpunktfragen zu Dublin-Verfahren, 13.3.2019, BT-Drs. 19/8340). Danach stünden in Italien ausreichend Unterbringungsplätze zur Verfügung, da zum einen seit 2017 die Zahl der in Italien ankommenden potentiell Asylsuchenden im Vergleich zu 2016 erheblich zurückgegangen und zum anderen die Unterbringungskapazitäten seit 2015 erhöht worden seien.
3. Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind ebenso wenig ersichtlich wie inlands- oder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse.
4. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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