Europarecht

Keine Überstellung nach Bulgarien im Dublin-Verfahren wegen Fristversäumnis

Aktenzeichen  M 9 S 16.50806

Datum:
29.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 23 Abs. 2, Abs. 3

 

Leitsatz

1 Richtet das Bundesamt ein Wiederaufnahmeersuchen im Rahmen des Dublin-Verfahrens irrtümlich an Italien statt an Bulgarien und wird dadurch die Frist es Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO nicht eingehalten, wird die Bundesrepublik nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO für das Asylverfahren zuständig. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Zwar kann sich nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH BeckRS 2013, 82312) der Betroffene im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht auf die Versäumung von Fristen berufen und diesen Umstand auch nicht gegen eine Überstellung einwenden (VG München BeckRS 2016, 51692). Für bestimmte Sachverhalte räumt der EuGH in seiner jüngsten Rechtsprechung (EuGH BeckRS 2016, 81119) einem Asylbewerber jedoch das Recht ein, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriteriums geltend zu machen. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Ergibt sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland infolge einer Fristversäumnis aus Kapitel VI der Dublin III-VO und hat das Bundesamt überhaupt kein Wiederaufnahmeersuchen an den zuständigen Staat gerichtet, kann sich der Asylbewerber ebenfalls auf die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland berufen (vgl. BVerwG BeckRS 2016, 50727). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … September 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der am … geborene Antragsteller reiste nach eigenen Angaben am … September 2015 aus Bulgarien kommend in das Bundesgebiet ein (Bl. 5 des Behördenakts – i. F.: BA -). Er beantragte am … Mai 2016 Asyl (Bl. 12 des BA). Der Antragsteller ist Staatsangehöriger Afghanistans.
Am … Juli 2016 verschickte die Antragsgegnerin ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO aufgrund von Eurodac-Daten, Eurodac-Nr. … (Bl. 35ff. des BA). Einen Beleg für diesen Eurodac-Treffer enthalten die Behördenakten nicht. Stattdessen findet sich eine Zugangsbestätigung Italiens via DubliNet („dublinit@dlci.dub.it.eu-admin.net“) über den Eingang einer Nachricht zur Sache „… (Bl. 86 des BA). Ebenfalls enthalten die Akten ein Informationsschreiben der Antragsgegnerin an die Ausländerbehörde über ein an Italien gerichtetes Übernahmeersuchen vom … Juli 2016 (Bl. 38 des BA). Ein weiteres Schreiben informiert die italienischen Behörden darüber, dass eine Überstellung wegen Einlegung des Rechtsbehelfs derzeit nicht möglich ist (Bl. 84 des BA).
Mit gegen Postzustellungsurkunde vom … September 2016 zugestelltem Bescheid vom … September 2016, Gz. …, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Bulgarien an (Nr. 3) und befristete das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
Nach den Erkenntnissen des Bundesamts lägen Anhaltspunkte – Abgleich von Fingerabdrücken – für die Zuständigkeit „eines anderen Staates“ im Rahmen des Dublin-Verfahrens vor. Am … Juli 2016 sei deshalb ein Übernahmeersuchen an Bulgarien gerichtet worden. Die bulgarischen Behörden hätten nicht innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO geantwortet, weswegen von der Aufnahmebereitschaft Bulgariens ausgegangen werde. Im Übrigen wird wegen des Bescheidinhalts auf diesen Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Der Antragsteller hat am … Oktober 2016 zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage gegen den Bescheid erhoben. Vorliegend beantragt er,
hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Bulgarien die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichts- sowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung erweist sich als rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat u. a. aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft, v.a. nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach Aktenlage war Bulgarien zwar nach Art. 13 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Diese Zuständigkeit ist aber nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen (1.), worauf sich der Antragsteller auch berufen kann (2.).
1. Ausweislich des Wiederaufnahmegesuchs (Bl. 35ff. des BA) habe ein Eurodac-Treffer, Nr. … (Länderkennung Bulgariens), vorgelegen. Der Antragsteller selbst gab an, über Bulgarien nach Deutschland eingereist zu sein und in Bulgarien auch seine Fingerabdrücke abgegeben zu haben (Bl. 5f. des BA). Die aufgrund dieser Tatbestände einzuhaltende 2- bzw. 3-Monats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO aber wurde versäumt. Das Wiederaufnahmegesuch wurde nämlich an Italien und nicht an das eigentlich zuständige Bulgarien gerichtet. Dies ergibt sich aus der automatischen Bestätigung Italiens („dublinit@dlci.dub.it.eu-admin.net“) über den Eingang des Übernahmeersuchens zur Sache …“ (Bl. 86 des BA), mithin zum Geschäftszeichen des hiesigen Bescheids. Bestätigt wird dies durch das Informationsschreiben der Antragsgegnerin an die Ausländerbehörde über das an Italien gerichtete Übernahmeersuchen vom … Juli 2016 (Bl. 38 des BA) und durch das weitere Informationsschreiben darüber, dass eine Überstellung wegen des eingelegten Rechtsbehelfs derzeit nicht möglich ist (Bl. 84 des BA). Ausweislich der Behördenakten wurde Bulgarien also bis zum Zeitpunkt der hiesigen Entscheidung überhaupt noch nicht um Übernahme des Verfahrens ersucht. Noch nicht vorgelegte Restakten, aus denen sich etwas anderes ergeben könnte, sind ausweislich einer telefonischen Auskunft der Antragsgegnerin vom … Dezember 2016 nicht vorhanden. Ein Übernahmeersuchen an Bulgarien wäre zum jetzigen Zeitpunkt auch verspätet.
2. Der Antragsteller kann sich auf die Zuständigkeit der Antragsgegnerin wegen Verstreichens der Frist des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO auch berufen. Grundsätzlich ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, U. v. 10.12.2013 – C-394/12 – juris; U. v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris; U. v. 14.11.2013 – C-4/11 – juris) zwar davon auszugehen, dass sich der Betroffene im Dublin-Verfahren nicht auf die Versäumung von Fristen berufen und dies nicht gegen eine Überstellung einwenden kann (VG München, U. v. 24.5.2016 – M 7 K 15.50724 – juris). Für bestimmte Sachverhalte aber räumt nunmehr auch der EuGH in seiner jüngsten Rechtsprechung (EuGH, U. v. 7.6.2016 – C-63/15 – juris) einem Asylbewerber das Recht ein, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriteriums geltend zu machen; ursächlich dafür sei auch der Umstand, dass sich die Dublin III-VO hinsichtlich der dem Asylbewerber gewährten Rechte in wesentlichen Punkten von der Dublin-II-VO unterscheide.
Nach Ansicht des Gerichts ist ein derartiger speziell gelagerter Sachverhalt auch vorliegend gegeben unabhängig davon, dass sich die Zuständigkeit der Antragsgegnerin hier aus der Anwendung von Kapitel VI der Dublin III-VO ergibt (vgl. auch VG München, B. v. 30.9.2016 – M 11 S 14.50670 – juris; B. v. 22.11.2016 – M 9 S 16.50779 – BA). Das Aufnahmegesuch wurde nicht etwa (nur) zu spät an das nach Aktenlage tatsächlich zuständige Bulgarien gerichtet, sondern es wurde überhaupt kein Aufnahmegesuch an Bulgarien gerichtet. Es ist mithin kein Fall einer etwa nur marginalen Fristüberschreitung gegeben (vgl. dazu VG München, U. v. 24.5.2016, a. a. O.). Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das für den Fall eines Fristversäumnis bereits für die Dublin II-VO entschieden hatte, dass sich ein Asylbewerber auf die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates berufen könne, wenn die (Wieder-) Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht positiv feststehe (BVerwG, U. v. 9.8.2016 – 1 C 6/16 – juris), ist der streitgegenständliche Bescheid voraussichtlich rechtswidrig. Weder Bulgarien noch Italien hat seine Übernahmebereitschaft positiv erklärt. Italien bestätigte im Oktober 2016 im automatisierten Verfahren nur den Eingang des Aufnahmegesuchs, Bulgarien versandte nicht einmal eine derartige Empfangsbestätigung für den hier zu entscheidenden Einzelfall. Aufgrund der Aktenlage fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass Italien bzw. Bulgarien den Fristablauf und die daraus folgende Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht einwenden.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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