Europarecht

Keine Unzulässigkeit eines Asylantrages bei nicht feststehender Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat

Aktenzeichen  M 21 K 16.31466

Datum:
19.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 10 Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 74 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
Dublin II-VO Dublin II-VO Art. 21 Abs. 1, Abs. 2
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 49 Abs. 2 S. 2
VwGO VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Gegen eine Entscheidung des Bundesamts über die Unzulässigkeit des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart (vgl. BayVGH BeckRS2016, 56090). (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Zeigt ein Asylbewerber durch die Asylsozialberatung einen Unterkunftswechsel dem Bundesamt vor Erlass des ablehnenden Bescheids an und war die neue Anschrift zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch nicht in das Computersystem des Bundesamts eingepflegt, liegt die Zustellung des Bescheids an die alte Anschrift nicht im Verantwortungsbereich des Asylbewerbers und kann ihm nicht zur Last gelegt werden. (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Für die Annahme, dass ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union einem Asylbewerber bereits internationalen Schutz gewährt hat, reicht die bloße Information über die Schutzgewähr und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für subsidiären Schutz nicht aus, insbesondere wenn weder ein Datum des Bewilligungsbescheids noch die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis übermittelt wird. (Rn. 18 – 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Der gesetzliche Weg der Verifizierung der Schutzgewähr in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union liegt in einem sog. “Info-Request” nach Art. 21 Abs. 1, Abs. 2 Dublin II-VO, die nach Art. 49 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO anwendbar ist (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 55023). (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Wirt die Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrags auf eine Anfechtungsklage hin aufgehoben, ist auch die gegebenenfalls ergangene Feststellung, dass Abschiebungshindernissse nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG nicht bestehen, nebst der entsprechenden Abschiebungsandrohung aufzuheben. Denn beide Entscheidungen sind in diesem Fall verfrüht ergangen (vgl. BVerwG BeckRS 2016, 111567). (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Bei der angefochtenen Entscheidung des Bundesamtes handelt es sich in der Sache um eine Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Hiergegen ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart (vgl. eingehend BayVGH, U. v. 13.10.16 – 20 B 15.30008 – juris Rn. 23 ff. m.w.N.)
Überdies hat der Kläger die Klagefrist gewahrt. Gemäß § 74 Abs. 1 AsylG muss die Klage gegen eine Entscheidung nach dem AsylG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes wurde an die frühere Anschrift des Klägers adressiert und konnte dort nicht zugestellt werden, da der Kläger zwischenzeitlich verzogen war. Zwar ist der Kläger gemäß § 10 Abs. 1 AsylG während des Asylverfahrens dazu verpflichtet, jeden Wechsel seiner Anschrift anzuzeigen mit der Folge, dass nicht zustellbare Sendungen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post als zugestellt gelten. Vorliegend hat der Kläger aber durch die zuständige Asylsozialberatung seinen Anschriftswechsel bereits am 10. Mai 2016, und damit noch vor Erlass des ablehnenden Bescheides, dem Bundesamt bekanntgegeben. Vermutlich war die neue Anschrift zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch nicht in das Computersystem des Bundesamtes eingepflegt, weshalb im Bescheid noch die frühere Adresse des Klägers genannt wurde. Dieser Umstand liegt jedoch nicht im Verantwortungsbereich des Klägers und kann diesem daher nicht zur Last gelegt werden. Nach eigenen – unwidersprochenen – Angaben des Klägers wurde ihm der Bescheid am 6. Juni 2016 vom zuständigen Ausländeramt bekanntgegeben. Ein (erneuter, gegebenenfalls früherer) Zustellungsnachweis findet sich in den Verwaltungsakten nicht. Daher ist davon auszugehen, dass die am 9. Juni 2016 erhobene Klage jedenfalls fristgerecht erfolgte.
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 15. Mai 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zu Unrecht hat das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 gewährt hat. Diese Voraussetzungen stehen nach der Überzeugung der erkennenden Kammer im vorliegenden Fall nicht fest.
Das Bundesamt hat seine Entscheidung maßgeblich auf das Schreiben des Ministero dell’Interno gestützt, wonach der Kläger internationalen Schutz und eine Aufenthaltserlaubnis für subsidiären Schutz in Italien erhalten habe. Weder ist dort aber ein Bewilligungsdatum genannt noch wird mitgeteilt, bis wann der Aufenthaltstitel gültig ist. Erst recht wurde dem Bundesamt kein Abdruck des Bewilligungsbescheides bzw. wenigstens der Tenor dieses Bescheides übersandt.
Der gesetzlich vorgesehene Weg der Verifizierung solcher Angaben besteht in einem sogenannten Info-Request nach Art. 21 Abs. 1 und 2 der VO 343/2003 (Dublin-II-VO), die hier nach Art. 49 Abs. 2 Satz 2 der VO 604/2013 (Dublin-III-VO) anwendbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 39 ff.; U.v. 13.10.2016 – 20 B 15.30008 – juris Rn. 42 ff.). Dies wäre dem Bundesamt auch möglich gewesen. Der Kläger hat bereits im Asylverfahren gegenüber dem Bundesamt sein Einverständnis zur Einholung von Erkundigungen über das Asylverfahren in Italien erklärt. Davon hat das Bundesamt abgesehen. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts im verwaltungsgerichtlichen Verfahren von Amts wegen ist bei dieser Sachlage im Hinblick auf eine sachgerechte Begrenzung der Amtsermittlung durch Gesichtspunkte der Prozessökonomie und Gewaltenteilung (BVerwG, U.v. 18.2.2015 – 1 B 2/15 – juris Rn. 4) nicht veranlasst.
Wird eine Unzulässigkeitsentscheidung auf die Anfechtungsklage hin aufgehoben, ist auch eine gegebenenfalls ergangene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst Abschiebungsandrohung aufzuheben. Denn beide Entscheidungen sind dann jedenfalls verfrüht ergangen (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Entsprechendes gilt für die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG.
Die Behandlung des Asylantrags als unzulässig und die daraus resultierende Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens verletzt den Kläger auch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der aus dem Unionsrecht folgende Anspruch auf Prüfung seines Schutzbegehrens durch einen Mitgliedstaat der EU ist verletzt, wenn das Bundesamt – wie hier – als auch nach eigener Auffassung international zuständige Behörde es rechtswidrig ablehnt, ein Asylverfahren durchzuführen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 43).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Volltreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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