Europarecht

Keine Verlängerung der Überstellungsfrist bei nur stundenweiser Abwesenheit des Betroffenen

Aktenzeichen  M 9 S7 19.50622

Datum:
15.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 151
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7 S. 2
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 2
VO (EG) Nr. 1560/2003 Art. 7, Art. 8, Art. 9, Art. 10

 

Leitsatz

1 Flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO ist ein Betroffener nur dann, wenn er die Überstellung durch ein Sich-Entziehen unmöglich macht (Anschluss an EuGH BeckRS 2019, 3600). Das ist nicht der Fall bei einer Abwesenheit während eines Zeitfensters von wenigen Stunden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Wer eine Abschiebung zu gewärtigen hat, hat grundsätzlich weder auf Basis des AufenthG noch des AsylG oder der Dublin III-VO einen Anspruch auf Mitteilung des Abschiebetermins (Anschluss an VGH München BeckRS 2019, 15372). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei (Anschluss an EuGH BeckRS 2019, 3600). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter Abänderung des Beschlusses vom 26. Juli 2018 im Verfahren M 9 S 17.51814 wird die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juli 2017, Gz. 7151359 – 232, erhobenen Klage vom 20. Juli 2017 (M 9 K 17.51813) angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Änderungsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Abänderung eines Eilbeschlusses.
Mit Beschluss vom 26. Juli 2018, Az. M 9 S 17.51814, wurde der Eilantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien im Dublin-Bescheid vom 10. Juli 2017, Gz. 7151359 – 232, abgelehnt.
Der Antragsteller befand sich bei einem Rückführungsversuch am 16. Januar 2019, 16:30 Uhr, nicht in seiner Unterkunft. Die Polizeibeamten trafen ihn aber gegen 22:00 Uhr desselben Tages in der Unterkunft an. Bei einem dabei unternommenen Fluchtversuch verletzte sich der Antragsteller an seiner Hand (ca. 2 cm tiefer Riss zwischen Ringfinger und kleinem Finger). In der Folge wurde von der Abschiebung abgesehen und die Überstellungsfrist auf achtzehn Monate verlängert.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers beantragt nunmehr,
den o. g. Beschluss dahingehend abzuändern, dass die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird.
Die an den Antragsteller ausgegebene Anordnung, sich ab 15:00 Uhr auf seinem Zimmer für die Rückführung bereitzuhalten, sei widersprüchlich gewesen (wird näher ausgeführt). Zudem sei der Antragsteller im Folgenden nur wegen seiner Verletzung (Schnittwunde an der Hand) nicht abgeschoben worden, nicht aber, weil er flüchtig gewesen sei, wie auch aus ersten Mitteilungen der Antragsgegnerin an die Regierung von Oberbayern – ZAB – und die italienischen Behörden vom 17. Januar 2019 hervorgehe. Erst am 18. Januar 2019 sei der Antragsteller dann als flüchtig gemeldet worden. Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die Antragsschrift Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin hat sich weder geäußert noch Anträge gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte, auch in den Verfahren M 9 K 17.51813 und M 9 S 17.51814.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Es liegen, wie von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gefordert, gegenüber der Ausgangsentscheidung neue bzw. veränderte, entscheidungserhebliche Umstände vor.
Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist am 30. Januar 2019 abgelaufen (Empfangsbekenntnis des Bundesamts vom 30. Juli 2019). Eine Rückführung innerhalb der Frist erfolgte nicht. Damit ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf die Antragsgegnerin übergegangen, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, da die Frist nicht verlängert werden konnte.
Die von der Antragsgegnerin dennoch ins Werk gesetzte Verlängerung der Überstellungsfrist auf achtzehn Monate, Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, war/ist rechtswidrig, da der Antragsteller nicht im Sinne der Vorschrift flüchtig war.
Dies bereits deshalb, weil der Termin in der übersetzten Form der sog. Aufforderung zur Selbstgestellung (vgl. dazu Brauer, ZAR 2019, 256, 260 m. w. N.) falsch benannt wurde, wollte man auf die Abwesenheit des Antragstellers am Mittwoch, 16. Januar 2019, 16:30 Uhr abheben. Der Antragsteller sollte sich nach dieser (fettgedruckten) Aufforderung „on Thursday, the 16th of January from 03:00 p. m.“ in seinem Zimmer aufhalten. Dieses Datum gibt es nicht. Gemeint war der Vortag der Abschiebung, mithin Mittwoch, der 16. Januar 2019. Die (fettgedruckte) Terminangabe ist widersprüchlich, was zulasten der Behörde geht; der Antragsteller ist nicht deshalb flüchtig, weil er diesen widersprüchlich bezeichneten Termin versäumte, ob bewusst oder unbewusst. Dass sich der Antragteller den „richtigen“ Termin (Mittwoch, 16. Januar 2019, ab 15:00 Uhr) in der Zusammenschau bzw. im Kontext des gesamten Inhalts des Schreibens hätte erschließen können, ist demgegenüber unbeachtlich.
Unabhängig davon ist eine Fristverlängerung ohnehin nur gerechtfertigt, wenn die Nichtdurchführbarkeit der Überstellung nicht der Behörde zuzurechnen ist. Das ist in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Behörde darauf abhebt, dass der Antragsteller zu einem – angekündigten – Termin nicht habe angetroffen werden können, aber von vorn herein nicht der Fall. Flüchtig ist der Betroffene nämlich nur dann, wenn er die Überstellung durch ein Sich-Entziehen unmöglich macht, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Dublin III-VO (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris; vgl. auch Brauer, ZAR 2019, 256, 260 m. w. N.). Das Verhalten des Antragstellers machte aber bestenfalls die Rückführung am 16. Januar 2019, 16:30 Uhr, unmöglich, weil er sich zu diesem Zeitpunkt nicht in seinem Zimmer aufhielt. Der Antragsgegnerin stand insgesamt jedoch ein 6-Monats-Zeitraum für die Überstellung zur Verfügung, währenddessen der Antragsteller nicht etwa durchgehend oder auch nur phasenweise nicht in seiner Unterkunft anzutreffen, sondern unbekannten Aufenthalts gewesen wäre, womit er sich der Möglichkeit des staatlichen Zugriffs entzogen hätte (vgl. auch VG Berlin, B.v. 10.8.2018 – 34 L 296.18 A – juris). Ob für eine diesbezügliche nähere zeitliche Eingrenzung einer „phasenweisen Vereitelung“ (die Entscheidung des EuGH zur Rs. Jawo, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris, enthält hierzu nichts) bspw. auf den 3-Tages-Zeitraum des § 50 Abs. 4 AufenthG abgestellt werden könnte (so Brauer, a. a. O., S. 262) oder aber auf den in § 66 Abs. 1 AsylG zugrunde gelegten Zeitraum von einer Woche – was dem Gericht für einen Gleichlauf mit § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG und mit Blick auf die zu § 10 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG vertretenen Ansichten (BeckOK AuslR/Preisner, Stand: 24. Ed. 1.11.2019, AsylG § 10 Rn. 10 f.) sinnvoller erscheint -, kann offenbleiben; eine Absenz während eines Zeitfensters von wenigen Stunden genügt weder angesichts des Gesetzeswortlauts noch angesichts der Gesetzessystematik, um daraus eine derartige (phasenweise) Vereitelung des staatlichen Zugriffs und damit ein „Flüchtigsein“ herleiten zu können.
Die Herangehensweise, den ersten angekündigten Rückführungsversuch erst knapp vor Ablauf der Überstellungsfrist zu unternehmen, birgt naturgemäß das Risiko, die Abschiebung nicht mehr fristgerecht durchführen zu können – dieses Risiko aber ist der Sphäre der Antragsgegnerin zuzurechnen. Dies gilt auch eingedenk dessen, dass die Antragsgegnerin selbst die Abschiebungen nicht durchführt, sondern auf die Mitarbeit anderer Stellen angewiesen ist.
Die Antragsgegnerin wäre während des gesamten 6-Monats-Zeitraumes nicht gehindert gewesen, den unangekündigten Aufgriff des Antragstellers zu veranlassen, was mit großer Sicherheit erfolgreich gewesen wäre. Derjenige, der eine Abschiebung zu gewärtigen hat, hat grundsätzlich weder auf Basis des AufenthG noch des AsylG oder der Dublin III-VO einen Anspruch auf Mitteilung des Abschiebetermins (vgl. nur BayVGH, B.v. 19.6.2019 – 19 CE 19.329 – BeckRS 2019, 15372). Sonderregelungen wie § 59 Abs. 5 Satz 2, § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG sind auf die vorliegende Fallkonstellation nicht anzuwenden. § 34a AsylG im Speziellen schreibt ebenso wenig eine zwingende „Vorwarnung“ bezüglich der Abschiebung bzw. eine Terminankündigung vor (ebenso VG Ansbach, U.v. 17.4.2019 – AN 17 K 18.50614 – juris; VG Berlin, a. a. O.). Das Gericht sieht die unangekündigte Abschiebung auch vor dem Hintergrund des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO als das verhältnismäßige Mittel der Wahl an. Dem Betroffenen kann auch bei einem solchen Vorgehen ausreichend Zeit zugestanden werden, sein Hab und Gut zu sammeln usw. Mit der Rückführung selbst muss er seit Ablauf der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG bzw. seit einer (etwaigen) Eilentscheidung des Gerichts jederzeit rechnen, vgl. § 34a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 AsylG. Auch der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit den durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 herbeigeführten Änderungen sind keine Mitteilungspflichten gegenüber dem Abzuschiebenden zu entnehmen; Art. 7-10 der Durchführungsverordnung sehen nur Mitteilungspflichten gegenüber dem zuständigen Staat vor (Ort, Datum und Uhrzeit der Ankunft usw.). Auch Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gebietet nichts anderes (wohl a. A., allerdings ohne tragfähige Begründung: Bergmann u.a., Ausländerrecht, Stand: 12. Auflage 2018, § 29 AsylG Rn. 47), beziehen sich die dort genannten Angaben doch nur auf eine hier nicht gewollte bzw. nicht angestoßene freiwillige Ausreise des Betroffenen (d. h. auf eigene Initiative, vgl. Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Durchführungsverordnung), der im Übrigen auch kein Vorrang gegenüber einer Rückführung unter Verwaltungszwang zukommt (BVerwG, U.v. 17.9.2015 – 1 C 26/1 – NVwZ 2016, 67). Dass auch der unangekündigte Aufgriff in den Fällen des § 34a AsylG möglich und verhältnismäßig ist, muss umso mehr gelten, als von Gesetzes wegen – in begründeten Fällen – sogar die Inhaftnahme zur Durchführung von Abschiebungen möglich wäre, vgl. Art. 28 Dublin III-VO. Ob bspw. § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Anordnung zur Selbstgestellung trägt, was bereits angesichts des Wortlauts mehr als zweifelhaft ist, kann nach alledem dahinstehen, da so ohnehin nur die Möglichkeit einer derartigen Anordnung begründet, nicht aber die Verpflichtung zu ihrem Erlass hergeleitet werden könnte.
Schließlich wird darauf hingewiesen, dass vorliegend auch auf den „aktiven“ Fluchtversuch nicht abgestellt werden kann. Das Gesetz sanktioniert nicht derartige Handlungen, sondern knüpft Folgen an die Undurchführbarkeit der Überstellung aufgrund (eingetretenen) „Flüchtigseins“.
Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO ist schließlich auch dahin auszulegen, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Sie betrifft nur die Kosten des Abänderungsverfahrens (vgl. BVerwG, B.v. 26.4.2006 – 4 VR 1001/06 – BeckRS 2006, 23042).
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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