Europarecht

Neuer Lauf der Überstellungsfrist nach Beendigung des Flüchtigseins

Aktenzeichen  W 1 K 17.50166

Datum:
29.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1021
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
Dublin II-VO Art. 18 Abs. 1b, Abs. 1d, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4

 

Leitsatz

1 Ein Untertauchen beinhaltet stets ein unentschuldigtes und mindestens bedingt vorsätzliches Entziehen einer Überstellung. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Information des aufnehmenden Mitgliedstaates über die Flucht des Klägers und die Benennung der neuen Frist ist formal ausreichend, um eine Fristverlängerung gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-Verordnung herbeizuführen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3 Meldet sich der Betroffene vor Ablauf der Maximalfrist von 18 Monaten bei den zuständigen Behörden, ist er nicht mehr flüchtig. Dies berechtigt zu einer Fristverlängerung auf zunächst sechs Monate, berechnet vom Zeitpunkt des Wiederauftauchens an. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
4 Ein Aufenthalt des Klägers im Kirchenasyl erfüllt nicht die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung auf 18 Monate, da der Kläger hierbei nicht flüchtig iSd Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung ist. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. März 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem die Beteiligten hierzu beiderseitig ihr Einverständnis erteilt haben, § 101 Abs. 2 VwGO. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 21. März 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass er aufzuheben war.
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig, da im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AsylG, Schweden nicht mehr nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist. Mit dem Wiederauftauchen des Klägers im Kirchenasyl und der Bekanntgabe seines Aufenthaltsortes gegenüber der Beklagten am 10. Juli 2017 wird eine neue 6-Monatsfrist in Lauf gesetzt. Dadurch ist die Zuständigkeit mit Ablauf des 10. Januar 2018 auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, da die Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung verstrichen ist, ohne dass der Kläger nach Schweden überstellt wurde. Mit Ablauf der Überstellungsfrist geht die Zuständigkeit ohne weitere Voraussetzungen auf die Beklagte über, und zwar ohne dass hierfür erforderlich wäre, dass der zuständige Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Schweden) die Verpflichtung zur Wiederaufnahme der betreffenden Person nunmehr ausdrücklich ablehnt. Dies ergibt sich bereits hinreichend deutlich aus dem Wortlaut der Dublin-III-Verordnung und steht zudem mit dem Ziel der Verordnung, der zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz, in Einklang. Überdies verletzt die objektive Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides den Kläger auch in seinen Rechten. Bei der Einhaltung der genannten Frist handelt es sich nämlich um ein subjektives Recht des Klägers, auf das dieser sich berufen kann (vgl. EuGH, U.v. 25.10.2017 – C-201/16 – juris). Mit Ablauf der (rechtlich korrekten) Überstellungsfrist am 10. Januar 2018 ist der Bescheid des Bundesamtes vom 21. März 2017 gegenstandslos geworden (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2015 – 21 ZB 15.50137 – juris).
Gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-Verordnung begann die Überstellungsfrist zunächst mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Schweden am 20. März 2017. Durch die rechtzeitige Erhebung eines Antrags auf aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 21. März 2017 wurde die in Lauf gesetzte 6-Monatsfrist unterbrochen (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris) und mit der Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung über diesen Rechtsbehelf, dem gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung, § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG aufschiebende Wirkung zukommt, neu in Lauf gesetzt. Der das Verfahren abschließende Beschluss des Gerichts vom 3. April 2017 wurde der Beklagten am 6. April 2017 zugestellt, sodass eine neue 6-Monatsfrist mit dem 7. April 2017 in Lauf gesetzt wurde.
Nachdem der Kläger – wie sich aus den durch die Beklagte vorgelegten Unterlagen zur Überzeugung des Gerichts ergibt – ab dem 21. Mai 2017 untergetaucht war, war es der Beklagten möglich, die Frist (zunächst) gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-Verordnung aufgrund des „Flüchtig-Seins“ des Klägers zu verlängern. Überwiegend wird in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass unter „flüchtig“ ein planvolles und vorsätzliches unentschuldigtes Vorgehen zu verstehen ist, wenn auch ein Untertauchen im engeren Sinne nicht erforderlich ist (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand April 2017, § 29 Rn. 251 m.w.N.). Die letztlich nicht abschließend geklärte Frage, ob ein „Flüchtig-Sein“ erfordert, dass der Betreffende sich gezielt und bewusst dem Zugriff für die Durchführung der Überstellung entzieht oder es genügt, wenn er sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der zugewiesenen Wohnung aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert (vgl. insoweit VGH Baden-Württemberg, Vorlagebeschluss vom 15.3.2017, A 11 S 2151/16 – juris), kann jedoch vorliegend dahinstehen, da der Kläger im Schriftsatz vom 9. November 2017 selbst konzediert hat, dass er untergetaucht gewesen sei und sein „Flüchtig-Sein“ auch nicht in Abrede gestellt hat. Ein Untertauchen beinhaltet nach Überzeugung des Gerichts stets ein unentschuldigtes und mindestens bedingt vorsätzliches Entziehen einer Überstellung.
Die Beklagte hat daraufhin mit Schreiben vom 20. Juni 2017 die schwedische Dublin-Unit über das „Flüchtig-Sein“ des Klägers informiert und darauf hingewiesen, dass eine Überstellung nunmehr bis spätestens 3. Oktober 2018 erfolgen werde. Dieses Vorgehen genügt den formalen Anforderungen des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-Verordnung. Insoweit ist umstritten, ob es einer einvernehmlichen Regelung des überstellenden und des aufnehmenden Mitgliedstaats hinsichtlich einer Fristverlängerung bedarf oder ob hierfür die rechtzeitige Information des anderen Mitgliedstaats unter Nennung einer konkreten neuen Frist ausreichend ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Vorlagebeschluss vom 15.3.2017 – A 11 S 2151/16 – juris; FunkeKaiser, GK-AsylG, Stand April 2017, § 29 Rn. 251 m.w.N.). Das Gericht schließt sich der Auffassung an, dass die Information des aufnehmenden Mitgliedstaates über die Flucht des Klägers und die Benennung der neuen Frist formal ausreichend ist, um eine Fristverlängerung herbeizuführen. Diese Voraussetzungen wurden vorliegend mit dem oben genannten Schreiben eingehalten; Einwände haben die schwedischen Behörden überdies nicht erhoben. Für die hier vertretene Rechtsauffassung, die mit dem Wortlaut der Vorschrift in Einklang steht, spricht insbesondere, dass die engere Auffassung unpraktikabel wäre und vorhersehbar zur Folge hätte, dass die Norm in vielen Fällen leerliefe, weil sich der ersuchte Mitgliedstaat vielfach weigern würde, an einer einvernehmlichen Vereinbarung mitzuwirken. Hierfür spricht auch Art. 9 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1560/2003, wonach der zuständige Mitgliedstaat bei Überstellungen, die nicht innerhalb der regulären Frist vorgenommen werden können, verpflichtet ist, den Aufnahmestaat darüber vor Ablauf der Frist zu unterrichten (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).
Allerdings ist die vorgenommene Verlängerung der Überstellungsfrist hinsichtlich ihrer konkret festgesetzten Dauer bis zum 3. Oktober 2018 (und damit praktisch bis zur Maximalfrist von 18 Monaten) rechtsfehlerhaft, nachdem der Aufenthaltsort des Klägers im Kirchenasyl der Beklagten seit dem 10. Juli 2017 bekanntgeworden war. Es hätte unter diesen Umständen ab diesem Zeitpunkt lediglich eine Verlängerung um weitere sechs Monate erfolgen dürfen; eine darüberhinausgehende Verlängerung ist unwirksam. Denn Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung regelt nicht, wie in den Fällen zu verfahren ist, in denen der Asylbewerber flüchtig war, aber innerhalb des 18-Monatszeitraums seinen Aufenthaltsort bekannt gibt. Marx (Kommentar zum AsylVfG, 8. Aufl., § 27a Rn. 97 f.) vertritt hierzu die Auffassung, dass die Frist nicht um „weitere“ 18 Monate, sondern auf maximal 18 Monate verlängert wird. Wenn der Betroffene nach Ablauf der Maximalfrist von 18 Monaten auftauche, sei eine Überstellung nicht mehr zulässig. Wenn sich der Betroffene vorher bei den zuständigen Behörden melde, sei er nicht mehr flüchtig und dies berechtige zu einer Fristverlängerung auf zunächst sechs Monate, berechnet vom Zeitpunkt des Wiederauftauchens an. Die Maximalfrist von 18 Monaten deute darauf hin, dass im Fall des Untertauchen eine erste Fristverlängerung auf bis sechs Monate zulässig sei. Dieses Ergebnis erscheint sachgerecht, weshalb das erkennende Gerichts sich dieser Rechtserfassung anschließt (vgl. auch VG Würzburg, U.v. 8.2.2016 – W 7 K 15.5022, vgl. nachgehend BayVGH, B.v. 29.4.2016 – 11 ZB 16.50024 – juris; VG Würzburg, U.v. 31.8.2015 – W 3 K 14.50040 – juris). Dieser Auffassung ist auch deshalb zu folgen, weil dem überstellenden Mitgliedstaat im Rahmen des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung und der darin geregelten Überstellungsfrist stets ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Vorbereitung und Durchführung der Überstellung zur Verfügung stehen soll, um die Überstellung des Ausländers zu bewerkstelligen, wie sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt (vgl. BVerwG, B.v. 27.4.2016 – 1 C 22/15 – juris). Es handelt sich demgegenüber bei der Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-Verordnung nicht um eine „Strafvorschrift“ dahingehend, den Ausländer für seine vorangegangene Flucht durch die Verlängerung der Überstellungsfrist auf deren maximale Dauer zu sanktionieren. Es geht einzig und allein darum, den Kläger in den für sein Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wofür nach dem Regelungsgefüge des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung in den Fällen, in denen der Aufenthaltsort des Ausländers bekannt ist, dem überstellenden Staat eine Frist von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll. Nach dem Wiederauftauchen des Klägers war die zuvor verfügte Verlängerung der Überstellungsfrist bis zum 3. Oktober 2018 rechtlich nicht mehr haltbar; anerkennenswerte Grunde für eine Verlängerung über einen erneuten zusammenhängenden 6-Monatszeitraum hinaus sind nicht ersichtlich.
Daher ist davon auszugehen, dass die erneute Überstellungsfrist von sechs Monaten mit dem Auftauchen des Klägers im Kirchenasyl und der Bekanntgabe der neuen Adresse an die Beklagte zu laufen begann und mit Ablauf des 10. Januar 2018 geendet hat. Die Überstellung des Klägers ist innerhalb dieser Frist nicht durchgeführt worden. Deshalb ist die Zuständigkeit gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-Verordnung auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und der zuvor zuständige Mitgliedstaat Schweden nicht mehr zur Wiederaufnahme des Klägers verpflichtet. Folglich kommt auch eine Anordnung der Abschiebung nach Schweden nach § 34a AsylG nicht mehr in Betracht.
Darüber hinaus erfüllt auch der Aufenthalt des Klägers im Kirchenasyl nicht die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung auf 18 Monate, da der Kläger hierbei nicht flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung ist, worauf sich im Übrigen auch die Beklagte selbst nicht beruft. Zwar wird das Kirchenasyl in der Regel und so auch hier gewählt, um sich einer Abschiebung zu entziehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass dem Bundesamt der Aufenthaltsort des Klägers bekannt ist und dass er deshalb nicht im oben dargestellten Sinne flüchtig ist. Die Möglichkeit der Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-Verordnung soll als Ausnahme von dem den Fristen des Dublin-Systems zugrunde liegenden Beschleunigungsgrundsatz ein längeres Zuwarten bei der Rücküberstellung ermöglichen, weil ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis die Einhaltung der Frist vereitelt. Ein solches Hindernis, das einen vergleichbaren Ausnahmefall rechtfertigen könnte, besteht beim Kirchenasyl gerade nicht. Der Staat ist weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet vielmehr bewusst darauf, das Recht durchzusetzen. Es existiert kein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden. Der Umstand, dass die für die Aufenthaltsbeendigung zuständigen Behörden davor zurückschrecken, die ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten bei Personen im Kirchenasyl auszuschöpfen, also insbesondere auch unmittelbaren Zwang in kirchlichen Räumen anzuwenden, macht die Überstellung nicht unmöglich. Eine in der Sphäre des Klägers liegendes Hindernis für den Vollzug der Rücküberstellung, wie insbesondere im Fall der Flucht, ist nicht gegeben (vgl. auch VG München, B.v. 6.6.2017 – M 9 S. 17.50290 – juris; VG Würzburg, U.v. 31.8.2015 – W 3 K 14.50040 – juris).
Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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