Europarecht

Systemische Mängel des italienischen Asylsystems für psychisch Schwerkranke

Aktenzeichen  W 2 K 18.50343

Datum:
11.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 33431
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 b
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3, Art. 17
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Das Gericht geht jedenfalls dann auch bei psychisch kranken Personen von systemischen Mängeln aus, wenn aufgrund des Erkrankungsbildes typischerweise nicht damit gerechnet werden kann, dass sie sich eigeninitiativ – gegebenenfalls mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen – an die italienischen Behörden wenden und dort die notwendige Unterbringung und medizinische Versorgung erwirken können. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Juni 2018 (Gesch.Z. 7461044-231) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 5. September 2018 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2017 vor.
Die Klage ist zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG maßgeblich Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zulässig.
Der missverständlich als Verpflichtungsantrag formulierte Klageantrag ist gem. § 88 VwGO anhand des tatsächlichen Begehrens als Anfechtungsklage bzgl. des Ablehnungsbescheids vom 26. Juni 2018 auszulegen. Als solche ist die Klage statthaft. Da das Dublin-Verfahren ein dem nationalen Asylverfahren vorgeschaltetes Verfahren darstellt, besteht kein Raum für eine gerichtliche Entscheidung über den Asylantrag in der Sache. Mithin ist alleine die Anfechtungsklage statthaft.
Die Klage ist auch begründet.
Der verfahrensgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
Der Asylantrag der Klägerin ist nicht gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin ist gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, ohne dass es dafür einer Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts gem. Art. 17 Dublin III-VO bedurfte. Gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zuständig, wenn eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist und auch keine Überstellung in einen anderen nachrangig zuständigen Mitgliedstaat nicht durchgeführt werden kann. Die Große Kammer des EGMR hat in ihrem Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12, Tarakhel/Schweiz -, NVwZ 2015, 127, Leitsätze 4 bis 6, in diesem Zusammenhang ausgeführt: „Bei einer Überstellung nach den Dublin-Regeln kann die Vermutung, dass der Aufnahmestaat Art. 3 EMRK beachtet, wirksam widerlegt werden, wenn es nachweislich ernsthafte Gründe gibt anzunehmen, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer gegen diese Vorschrift verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In Italien besteht ein flagrantes Missverhältnis zwischen der Zahl der Asylanträge, die sich nach den Angaben der italienischen Regierung am 15.6.2013 auf 14184 belief, und den 9630 Plätzen in Einrichtungen, die nach dem Vortrag der italienischen Regierung die Beschwerdeführer aufnehmen würden. Danach kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder nur in überbelegten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen.“ Diese Vorgaben gelten unter Berücksichtigung der aktuell zur Situation von Asylsuchenen in Italien verfügbaren Erkenntnismittel über den vom EGMR in dem zitierten Urteil konkret entschiedenen Einzelfall hinaus auch für sonstige vulnerablen Personen, insbesondere für Personen mit schweren psychischen Erkrankungen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund des Urteils des EGMR, Kammer II, vom 30. Juni 2015 – 39.350/13, A. S./Schweiz -, NLMR 2015, 202, 203. Sofern der EGMR in dieser Entscheidung für den Fall einer Rücküberstellung eines Asylbewerbers mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK verneint, vermag das Gericht dem jedenfalls für schwere psychische Errkrankungen nicht zu folgen. Der EGMR stellt in seiner Begründung insoweit zunächst darauf ab, dass nach der Tarakhel-Entscheidung ernsthafte Zweifel an den Kapazitäten des italienischen Asylsystems bestünden. Die Möglichkeit einer rechtswidrigen Unterbringung einer erheblichen Zahl von Asylbewerbern könne daher nicht ausgeschlossen werden. In einem nächsten Schritt kommt der Gerichtshof dann zu dem Schluss, dass sich der Beschwerdeführer allerdings derzeit nicht in einem kritischen Gesundheitszustand befinde. Es fehlten Anzeichen dafür, dass er, wenn er nach Italien zurückgeschickt werde, keine angemessene medizinische Versorgung erhalten würde. Gerade im Hinblick auf die vom EGMR ausdrücklich hervorgehobenen Bedenken hinsichtlich der vorhandenen Kapazitätsengpässen des italienischen Aufnahme- und Unterbringungssystems sieht das erkennende Gericht bei schwer psychisch Kranken auch den tatsächlichen Zugang zu der theoretisch vorhandenen medizinischen Versorgung nicht hinreichend gewährleistet. Dem steht weder entgegen, dass die Klägerin in Italien bereits in ärztlicher Behandlung war, noch dass sie mangels Asylantrags keinen Zugang zu der Asylbewerbern offenstehenden medizinischen Versorgung hatte. Denn angesichts der aktuellen Erkenntnismittel sieht das Gericht auch bei rücküberstellte vulnerablen Asylbewerbern ein reales Risiko von den unstreitig vorhandenen Kapazitätsproblemen betroffen zu sein. Aufgrund des Mangels von Aufnahmekapazitäten ist nach dem AIDA-Report auch bei Dublin-Rückkehrern damit zu rechnen, dass diese Personen sich selbstständig eine Unterkunft suchen müssten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil keine besonderen Unterbringungsmöglichkeiten mehr für diese Personengruppe vorgehalten werden (Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das VG Hannover vom 12.09.2017). Hierfür sprechen auch die Ergebnisse des Monitoring-Projektes des Danish Refugee Council und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe “Is mutual trust enough?“ vom Februar 2017, zu finden über www.fluechtlingshilfe.ch (Monitoring Bericht). Danach konnte in keinem der sechs beobachteten Fälle von den Ende 2016 im Rahmen des Dublin-Verfahrens zurückgenommenen Asylbewerbern den Betroffenen bei ihrer Rückkehr eine SPRAR-Unterkunft zur Verfügung gestellt werden, obgleich es sich ausnahmslos um besonders „vulnerable“ und daher bevorzugt zu behandelnde Personen wie schwangere Frauen und Familien mit Säuglingen handelte (s. auch: VG Braunschweig, Urt. v. 21. April 2017 – 5 A 273/16 -, n. v.). Einer schwangeren Frau wurde am Flughafen in Mailand von Polizisten mitgeteilt, dass sie ihr keine Unterkunft anbieten könnten, sie müsse selbst eine finden. Die Frau musste eine Woche auf der Straße schlafen und wurde durch private Hilfen mit Essen versorgt (Montitoring-Bericht, S. 10 f.). Ein Ehepaar – die Frau erwartete ebenfalls ein Kind -, das einer Abschiebung zuvorkommen wollte und deshalb freiwillig aus der Schweiz nach Italien ausgereist ist, musste dort ebenfalls eine Woche auf der Straße leben. Anschließend bekam zunächst die schwangere Frau und mehrere Tage später auch ihr Mann einen Platz in einer Unterkunft. Auch wenn die Ergebnisse des Monitoring-Berichts aufgrund der geringen Fallzahlen nicht repräsentativ sein mögen, ist der Umstand, dass in zwei von sechs Fällen besonders schutzwürdige Personen auf der Straße leben mussten, ein starkes Indiz für systemische Schwachstellen des italienischen Unterkunftssystems. Bei alleinstehenden Personen oder Personen, die nach Italien überstellt werden, ist in den meisten Fällen festzustellen, dass diese Personen keine Unterstützung von den Organisationen am Flughafen erhalten und sich mindestens die erste Zeit ohne Unterkunft durchschlagen müssen. Dies betrifft auch alleinstehende Frauen (Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an das VG Hannover vom 12.09.2017). Zwar besteht im Asylverfahren ein Anspruch auf staatliche Unterbringung, der erst mit Abschluss einer erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidung bzw. mit Ablauf der Rechtsmittelfrist endet. Jedoch erfolgt der tatsächliche Zugang zur Unterbringung erst mit der formellen Registrierung des Antrags (östrr. Bundesamt, S. 16) bzw. im Dublin-Verfahren mit der Registrierung des Dublin-Rückkehrers bei der zuständigen Questura, die oft weit vom Ankunftsflughafen entfernt liegt (vgl. AIDA, S. 48). So verzeichnet Ärzte ohne Grenzen unter den Obdachlosen in Rom auch einen Anstieg an Dublin-Rückkehrern, die keinen unmittelbaren und automatischen Zugang zu Unterbringungseinrichtungen und medizinischer Versorgung haben (Médecins Sans Frontières,Fuori Campo, Februar 2018, S. 25 zit. nach AIDA, a.a.O. S. 49). Vor diesem Hintergrund geht das Gericht jedenfalls dann auch bei psychisch kranken Personen von systemischen Mängeln aus, wenn aufgrund des Erkrankungsbildes typischerweise nicht damit gerechnet werden kann, dass sie sich eigeninitiativ – gegebenenfalls mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen – an die italienischen Behörden wenden und dort die notwendige Unterbringung und medizinische Versorgung erwirken kann, wie es bei der an einer schweren schizoaffektive Erkrankung leidenden Klägerin offenkundig der Fall ist. Dem steht nicht entgegen, dass mit einer Überstellung der Klägerin zusammen mit ihrer sie betreuenden Mutter, der Klägerin im Verfahren W 2 K 18.50341 zu rechnen wäre. Denn deren Betreuungsleistungen könnten unten den oben dargestellten Aufnahmebedingungen die drohende Verletzung von Art. 3 EMRK nur geringfügig abmildern, keinesfalls jedoch kompensieren.
Eine Zuständigkeit Italiens nach den Regelungen der Dublin III-VO ist jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) gegeben, da eine Überstellung nach Italien wegen dort bestehender systemischer Mängel des italienischen Asylsystems für die Klägerin als vulnerabler Person gem. Art. 3 Abs. 2 UA. 2 Dublin III-VO derzeit nicht möglich ist.
Anhaltspunkte für die vorrangige Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates sind weder vorgetragen noch ersichtlich (vgl. Art. 3 Abs. 2 UA. 2 a.E. Dublin III-VO).
Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist mithin rechtswidrig. Dies erstreckt sich auf die Folgeentscheidungen in Ziffern 2 bis 4 des verfahrensgegenständlichen Bescheides, der mithin insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 VwGO aufzuheben war.

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