Europarecht

Übergang der Zuständigkeit im Asylverfahren durch Fristablauf

Aktenzeichen  M 22 K 15.50570

Datum:
11.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 133597
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 27a, § 34a Abs. 1, § 71a, § 74 Abs. 1
Dublin III-VO Art. 22 Abs. 7 S. 1, Art. 29 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Ist die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und ist eine Überstellung in den ersuchten Mitgliedsstaate nicht mehr möglich, so hat der Antragsteller einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland. (Rn. 15 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Juni 2015 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 1. Juni 2015 ist rechtswidrig (geworden) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er war daher aufzuheben.
1. Die fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids (§ 74 Abs. 1 AsylG) erhobene Klage, die das Gericht als reine Anfechtungsklage auslegt (§ 88 VwGO), ist zulässig. In der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung ist mittlerweile geklärt, dass statthafte Klageart gegen eine Feststellung nach § 27a AsylG – vormals AsylVfG, vgl. Art. 1 Nr. 1 des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20. Oktober 2015, BGBl. I S. 1722, in Kraft getreten am 24. Oktober 2015 – die (isolierte) Anfechtungsklage ist (vgl. z.B. OVG NW, U.v. 16.9.2015 – 13 A 800/15.A – juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 18.5.2015 – 11 ZB 14.50053 – juris m.w.N.; OVG NW, B.v.16.6.2015 – 13 A 221/15.A – juris m.w.N.; vgl. auch VGH BW, U.v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 35 ff., 43). Die vom Bundesamt nach §§ 27a, 34a Abs. 1 AsylG getroffenen Entscheidungen stellen belastende Verwaltungsakte dar, deren Beseitigung zur formellen und materiellen Prüfung des gestellten Asylantrags führt, ohne dass es eines zusätzlichen Verpflichtungsantrags bedarf. Denn das Bundesamt ist nach Aufhebung des Bescheids bereits gesetzlich verpflichtet, das Asylverfahren durchzuführen (§§ 31, 24 AsylG). Das Bundesamt hat sich wegen des Vorliegens der Voraussetzungen des § 27a AsylG bisher lediglich damit befasst, welcher Staat für die Prüfung des Asylbegehrens des Klägers zuständig ist; eine Prüfung des Asylbegehrens ist in der Sache nicht erfolgt. Mit der Aufhebung des Bescheids wird ein Verfahrenshindernis für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens beseitigt. Das Asylverfahren ist in dem Stadium, in dem es beendet worden ist, durch das Bundesamt weiterzuführen.
2. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 2 AsylG) auch als rechtswidrig und den Kläger in seinen Rechten verletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
aa. Denn die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ist mit Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) geregelten Überstellungsfrist wegen des damit verbundenen Übergangs der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat (Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) rechtswidrig geworden.
Die nach der Dublin III-VO einzuhaltende Überstellungsfrist beträgt sechs Monate (Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO). Sie begann vorliegend gemäß Art. 22 Abs. 7 Satz 1 Dublin III-VO mit Ablauf von zwei Monaten nach Stellung des Aufnahmegesuchs an Italien, folglich am 12. April 2015, und endete – da für einen abweichenden Fristablauf gem. Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO vorliegend nichts vorgetragen und auch nichts ersichtlich ist – sechs Monate später mit Ablauf des 19. Oktober 2015, ohne dass der Kläger nach Italien abgeschoben wurde.
Damit endete gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO mit Ablauf des 19. Oktobers 2015 aber auch die Zuständigkeit Italiens und begann die Zuständigkeit der Beklagten für den Asylantrag, mit der Folge, dass der Asylantrag des Klägers nicht mehr nach § 27a AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig ist.
Der Kläger ist dadurch auch in seinen Rechten verletzt. Er kann sich auf den Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung seines Asylantrags auf die Beklagte berufen. Er hat nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt. Dem Kläger kann auch nicht die Aufnahmebereitschaft Italiens entgegengehalten werden. Es steht nicht fest, dass Italien ihn aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird (OVG NRW, B.v. 11.11.2015 – 13 A 1692/15.A – juris Rn. 6).
Der Bescheid des Bundesamtes kann insbesondere auch nicht durch Umdeutung nach § 47 VwVfG als Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71 a AsylG aufrechterhalten werden – wie dies von der Beklagten in ihrem Bescheid vertreten wurde – weil die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind. Insoweit wird auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 19. Januar 2015 (A 11 S 2508/14 – juris) und den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Februar 2015 (13a ZB 14.50081 – juris) Bezug genommen.
bb. Die Abschiebungsanordnung nach Italien gem. § 34a AsylG in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids ist mit Ablauf der Überstellungsfrist ebenfalls rechtswidrig geworden und der streitgegenständliche Bescheid somit aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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