Europarecht

Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien

Aktenzeichen  9 ZB 20.50011

Datum:
9.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24554
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 4 S. 1, Abs. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Der EGMR hat im November 2014 entschieden, dass die Dublin-Staaten vor der Überstellung von Familien mit (Klein-) Kindern nach Italien konkret-individuelle Zusicherungen bei den italienischen Behörden einzuholen hätten, aus denen hervorgehe, dass ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen werde. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden nach Erlass des Salvini-Dekrets ist nicht hinreichend ersichtlich, wo und wie die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation angemessene Unterbringung vulnerabler Personen tatsächlich ermöglichen können (BVerfG BeckRS 2019, 25217). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 7 K 17.51851 2020-05-29 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Klägerin zu 1 ist Staatsangehörige Sierra Leones, die Klägerin zu 2 ist ihre Tochter. Mit Bescheid vom 15. August 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihre Asylanträge als unzulässig ab (I.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (II.), ordnete die Abschiebung nach Italien an (III.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (IV.). Auf Klage der Klägerinnen hob das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 29. Mai 2020 die Ziffern III. und IV. des Bescheids des Bundesamts auf und wies die Klage im Übrigen mit der Maßgabe ab, dass eine Überstellung der Klägerinnen nach Italien nur erfolgen darf, wenn der Beklagten bzw. der vollziehenden Ausländerbehörde vor Beginn der Überstellung eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, dass die Klägerinnen ab dem Tag der Abschiebung unverzüglich in einer – gemäß den in Italien üblichen Standards – familienangemessen, dem Wohl von allein erziehenden Müttern mit ihren Kleinkindern entsprechenden Unterkunft untergebracht werden, sowie die Unterkunft in der Zusicherung konkret zu benennen ist. Hiergegen haben die Klägerinnen jeweils Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
II.
Die Anträge auf Zulassung der Berufung bleiben erfolglos. Es kann offenbleiben, ob die beim Verwaltungsgericht Augsburg eingelegten Anträge auf Zulassung der Berufung, die beim Verwaltungsgericht Regensburg, das das angefochtene Urteil erlassen hat, erst nach Ablauf der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG eingegangen sind, zulässig sind, da die Berufung jedenfalls nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen ist (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 9 ZB 18.30670 – juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
Die Frage, „ob alleinstehenden nigerianischen Müttern mit ihren minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr/Überstellung nach Italien eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta droht, weil der genannte Personenkreis keinen (ausreichenden) Zugang zu Sozialleistungen hat, ihnen keine ausreichenden kompensatorischen Integrationshilfen zur Verfügung gestellt werden und nicht sichergestellt ist, dass sie nach ihrer Ankunft Zugang zu Obdach, Nahrung und sanitären Einrichtungen haben“, ist – unabhängig davon, dass die Klägerinnen aus Sierra Leone stammen – weder klärungsbedürftig noch klärungsfähig.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im November 2014 entschieden, dass die Dublin-Staaten vor der Überstellung von Familien mit (Klein-) Kindern nach Italien konkret-individuelle Zusicherungen bei den italienischen Behörden einzuholen hätten, aus denen hervorgehe, dass ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen werde (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel v. Switzerland, Nr. 29217/12 – Rn. 122). In Reaktion auf diese Entscheidung sicherten die italienischen Behörden mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015 allgemein zu, Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten SPRAR-Unterkünften unterzubringen. Unter Bezugnahme auf diese Zusicherungen und die Annahme, dass Familien mit (Klein-)Kindern grundsätzlich in SPRAR-Unterkünften untergebracht werden sollten, sah der EGMR von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung durch die italienischen Behörden wieder ab (vgl. EGMR, E.v. 4.10.2016 – Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14 – Rn. 34).
Die Situation in Italien hat sich seit dem Erlass des Salvini-Dekrets Ende 2018 jedoch erneut verändert: Die vom EGMR in Bezug genommenen SPRAR-Unterkünfte stehen Asylsuchenden mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger seit Erlass des Salvini-Dekrets nicht mehr zur Verfügung. Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (CAS und CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann nicht ohne Weiteres ausgegangen werden. Auch unter Berücksichtigung der neuerlichen allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 nach Erlass des Salvini-Dekrets ist damit nicht mehr hinreichend ersichtlich, wo und wie die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation angemessene Unterbringung vulnerabler Personen tatsächlich ermöglichen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23).
Eine solche Situation liegt hier jedoch nicht vor. Das Zulassungsvorbringen stellt allein auf die Verschärfungen durch das sog. Salvini-Dekret aus dem Jahr 2018, wonach für Asylsuchende kein Platz mehr in den SPAR-Einrichtungen vorgesehen sei, ab. Hiervon geht auch das Verwaltungsgericht aus und hat die Klagen mit der Maßgabe abgewiesen, dass eine Überstellung der Klägerinnen nach Italien nur erfolgen dürfe, wenn der Beklagten bzw. der vollziehenden Ausländerbehörde vor Beginn der Überstellung eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliege, dass die Klägerinnen ab dem Tag der Abschiebung unverzüglich in einer – gemäß den in Italien üblichen Standards – familienangemessen, dem Wohl von allein erziehenden Müttern mit ihren Kleinkindern entsprechenden Unterkunft untergebracht werden, sowie die Unterkunft in der Zusicherung konkret zu benennen sei. In Bezug auf diese, vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte individuelle Zusicherung lassen sich dem Zulassungsvorbringen keinerlei Ausführungen entnehmen. Soweit das Zulassungsvorbringen dahingehend verstanden werden soll, dass auch im Falle einer individuellen Zusicherung eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta drohe, lässt sich dem allein auf die allgemeine Situation abstellenden Zulassungsvorbringen insoweit nichts Substantielles für eine grundsätzliche Bedeutung entnehmen, so dass die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht eingehalten sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung der Zulassungsanträge wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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