Europarecht

Vereinfachte Auslieferung: Pflicht zu Überprüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsstaat

Aktenzeichen  1 AR 300/18

Datum:
6.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 17663
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IRG § 2, § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1, § 15 Abs. 2, § 17, § 41 Abs. 1, § 80, § 81 Nr. 2, § 83 Abs. 1 Nr. 3
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Die vom Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 25.07.2018 – C-220/18 PPU dargestellten Grundsätze hinsichtlich der Pflicht zur Überprüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedsstaat durch den Vollstreckungsstaat gelten auch dann, wenn sich der Verfolgte mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt. (Rn. 9)
2. Auch bei der vereinfachten Auslieferung wird der Europäische Haftbefehl vollstreckt, seine Vollstreckung darf jedoch nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der auszuliefernden Person führen (EuGH, Urteil vom 05.04.2016 – C 404/15 und C 659/15). (Rn. 9)
3. Erklärt sich der Verfolgte gemäß § 41 Abs. 1 IRG mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden, so willigt er hierdurch nicht gleichsam in Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat ein, die gegen Art. 3 EMRK verstoßen. (Rn. 10)

Tenor

1. Gegen den bulgarischen Staatsangehörigen V. A. Y., geboren am … in …/Bulgarien, wird zur Sicherung der Auslieferung an die bulgarischen Behörden zur Strafvollstreckung Auslieferungshaft angeordnet.
2. Dem Auslieferungshaftbefehl wird der Europäische Haftbefehl der Stadtstaatsanwaltschaft P. vom 08.02.2018, Gz.:…, zugrunde gelegt.

Gründe

I.
Die bulgarischen Behörden haben um vorläufige Festnahme des bulgarischen Staatsangehörigen V. A. Y. zur Sicherung der Auslieferung zur Strafvollstreckung ersucht. Es liegt gegen den Verfolgten der im Tenor unter Ziffer 2. aufgeführte Europäische Haftbefehl vor.
Danach wurde der Verfolgte wegen folgenden Sachverhalts in Bulgarien in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, die noch vollständig zu verbüßen ist: Am 27.12.2015 öffnete der Verfolgte mit einem Bolzenschneider das Schloss der Lagerhalle eines Automobilunternehmens in P. und entwendete aus der Lagerhalle sodann insgesamt 32 Meter Kabel im Wert von insgesamt 25,64 Lewa und einen 12-Volt-Akkumulator. Anschließend verkaufte der Verfolgte diese Gegenstände.
Der Verfolgte wurde am 30.07.2018 in München zur Sicherung der Auslieferung vorläufig festgenommen und befindet sich derzeit in der Justizvollzugsanstalt München. Zu Protokoll des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts München hat sich der Verfolgte am 31.07.2018 mit seiner vereinfachten Auslieferung nach Bulgarien einverstanden erklärt. Auf die Beachtung des Grundsatzes der Spezialität hat er hierbei nicht verzichtet.
II.
Das Oberlandesgericht München ist gemäß § 13 Abs. 1 IRG sachlich und als Gericht des Ergreifungsorts bzw. des ersten ermittelten Aufenthalts auch örtlich gemäß § 14 Abs. 1 IRG zuständig.
Gegen den Verfolgten war auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft München zur Sicherung und Durchführung der Auslieferung an die bulgarischen Behörden zur Strafvollstreckung Auslieferungshaft anzuordnen, §§ 15, 17 IRG. Dem Auslieferungshaftbefehl war der im Tenor unter Ziffer 2. aufgeführte Europäische Haftbefehl zugrunde zu legen.
Der Verfolgte hat gegen seine Auslieferung keine Einwendungen erhoben. Gründe, die die Auslieferung von vornherein als unzulässig erscheinen lassen könnten, sind nicht ersichtlich, § 15 Abs. 2 IRG. Das dem Verfolgten angelastete Verhalten ist auch nach deutschem Recht mit Strafe bedroht gemäß §§ 242, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 des deutschen Strafgesetzbuchs. Die Auslieferungsfähigkeit ergibt sich aus § 81 Nr. 2 IRG. Der Zulässigkeit der Auslieferung stehen keine Hindernisse nach §§ 2 ff, 80, 81, 83 IRG entgegen. Zwar handelt es sich bei dem gegen den Verfolgten ergangenen Urteil um ein Abwesenheitsurteil; ein Auslieferungshindernis gemäß § 83 Abs. 1 Ziffer 3 IRG besteht jedoch nicht aufgrund der von den bulgarischen Behörden unter lit. d) des Europäischen Haftbefehls gemachten Angaben.
Die Haftbedingungen in Bulgarien sind bekanntermaßen problematisch. Der Senat legt seiner Entscheidung daher die Erwartung zu Grunde, dass die Generalstaatsanwaltschaft München bei den bulgarischen Behörden nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europäischen Haftbefehl in Bezug auf die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat, insbesondere nach Maßgabe des jüngsten Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 25.07.2018 – C-220/18 PPU, ergänzende Informationen zu den Haftbedingungen einholt, unter denen der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung in Bulgarien inhaftiert werden würde und die Auslieferung nur dann bewilligt, wenn sichergestellt ist, dass die Haftbedingungen den Europäischen Mindeststandards für die Unterbringung von Gefangenen genügen.
Wie der Europäische Gerichtshof im vorgenannten Urteil vom 25.07.2018 klargestellt hat, besteht beim Vorliegen einer auf gebührend aktuellen Informationen beruhenden echten Gefahr, dass eine auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls auszuliefernde Person bei der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls infolge der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt sein könnte, keine Verpflichtung des ersuchten Staats, die Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedsstaats zu überprüfen, sondern nur die Verpflichtung, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu überprüfen, in die der Verfolgte nach seiner Auslieferung wahrscheinlich aufgenommen wird. Allein der Umstand, dass der Verfolgte später in eine andere Haftanstalt verlegt werden könnte, führt nach der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 25.07.2018 – C-220/18 PPU) nicht zu einer weitergehenden Überprüfung der Haftbedingungen durch den Vollstreckungsstaat (vgl. auch die Senatsentscheidung vom heutigen Tage – 1 AR 296/18, betreffend Rumänien).
Die vorgenannten Grundsätze gelten zur Überzeugung des Senats auch dann, wenn sich der Verfolgte – wie hier – mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt. Denn der Europäische Haftbefehl wird ja auch im Falle der vereinfachten Auslieferung vollstreckt und nicht nur dann, wenn zusätzlich eine gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu erfolgen hat. Insoweit hat der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 25.07.2018 – C-220/18 PPU, unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 05.04.2016 in der Rechtssache Aranyosi und Cäldäraru – C 404/15 und C 659/15, wörtlich ausgeführt: „Die Vollstreckung eines solchen [Europäischen] Haftbefehls darf nämlich nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Person führen.“ Der Senat hält daher an seiner Rechtsprechung fest, dass auch im Falle der vereinfachten Auslieferung die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat zu prüfen sind, falls hierzu Anlass besteht. Nichts anderes gilt zur Überzeugung des Senats aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom ebenfalls 25.07.2018 – C-216/18 PPU, soweit dort ausgeführt wird, dass die den Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde bei ihrer Entscheidung über die Übergabe der Person beurteilen muss, ob eine echte Gefahr besteht […], wenn die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde unter Berufung auf das Vorhandensein systemischer oder zumindest allgemeiner Mängel, die nach ihrer Ansicht geeignet sind, die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat zu beeinträchtigen [… ] widerspricht (Hervorhebungen durch den Senat).
Erklärt sich nämlich ein Verfolgter bei einer Auslieferung auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls gemäß § 41 Abs. 1 IRG mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden, so stimmt er damit nur einer Ve/fafrrensvereinfachung zu und verzichtet hierdurch auf eine gerichtliche Zulässigkeitsentscheidung. Durch die Erklärung seines Einverständnisses mit dem vereinfachten Übergabeverfahren willigt er aber nicht gleichsam zugleich in Haftbedingungen im ersuchenden Mitgliedsstaat ein, die gegen Art. 3 EMRK verstoßen (vgl. die Senatsentscheidung vom 16.05.2017 – 1 AR 188/17). Hieran hält der Senat fest.
Zur Sicherung der Auslieferung ist Haft erforderlich und zulässig, §§ 15, 17 IRG.
Es besteht die Gefahr, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren durch Flucht bzw. durch Untertauchen in der Bundesrepublik Deutschland entzieht, wenn er auf freien Fuß käme. Der Verfolgte hat in Deutschland keinen festen Wohnsitz und keine ausreichenden fluchthemmenden Bindungen.
Für eine Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls (§ 25 IRG) fehlt es an der erforderlichen Vertrauensgrundlage.


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