Europarecht

Verlust des Rechts auf Freizügigkeit wegen Verurteilung eines selbst betäubungsmittelabhängigen Ausländers wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge

Aktenzeichen  10 ZB 20.104

Datum:
29.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14547
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6

 

Leitsatz

1. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU), wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 19.895 2019-10-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein spanischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Februar 2019 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für acht Jahre untersagt und die Abschiebung nach Spanien angedroht wurde. Anlass der behördlichen Entscheidung war die Verurteilung des selbst betäubungsmittelabhängigen Klägers vom 17. Mai 2018 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten sowie zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Der 1974 geborene Kläger ist nach den strafgerichtlichen Feststellungen seit seinem 16. Lebensjahr drogenabhängig und vielfach verurteilt worden. Er wurde bereits 1997 und 2010 bestandskräftig ausgewiesen und in der Folge abgeschoben. Zuletzt ist er im September 2013 wieder ins Bundesgebiet eingereist.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO); die weiter behaupteten Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeit der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) sind bereits nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (siehe dazu Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2020, § 124a Rn. 72 f.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 62 ff.).
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU), wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris). Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU). Gemessen an diesen Vorgaben begründet das Vorbringen des Klägers keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung.
Der Kläger trägt vor, das verwaltungsgerichtliche Urteil verkenne die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU. Es werde grundsätzlich nicht bestritten, dass er vorbestraft und massiv drogenabhängig sei. Allerdings handle es sich in seinem Fall bei der Unterbringung nach § 64 StGB im Bezirkskrankenhaus erst um die zweite Drogentherapie, und es werde als bekannt vorausgesetzt, dass drogenabhängige Menschen in der Regel mehrere Therapieanläufe brauchten, um erfolgreich rehabilitiert zu werden. Er befinde sich bereits seit über einem Jahr in der Klinik; nach Auskunft des Klinikums sei ihm eine positive Prognose zu stellen. Daher sei schon äußerst fraglich, ob nach wie vor eine erhebliche gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch sein persönliches Verhalten zu befürchten sei, die so hinreichend schwer sei, dass das Grundinteresse der Gesellschaft berührt sei. Im Übrigen werde verkannt, dass der Kläger lediglich zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sei, so dass eine Ausweisung auch unter europarechtlichen Gesichtspunkten an der Verhältnismäßigkeit scheitern dürfte.
Damit hat der Kläger weder die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts noch die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (stRspr des Senats, siehe z.B. BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 19.2400 – juris Rn. 4; B.v. 11.3.2020 – 10 ZB 19.777 – juris Rn. 9).
Mit seinen Ausführungen legt der Kläger gerade dar, dass von einer erfolgreichen Drogentherapie noch keine Rede sein kann. Er räumt damit selbst ein, dass eine frühere Drogentherapie letztlich erfolglos war, und weist indirekt auf die Möglichkeit hin, dass auch die gegenwärtige Therapie noch nicht der letzte „Therapieanlauf“ sein könnte. Auch eine positive Prognose der behandelnden Klinik liegt nicht vor. Die „Stellungnahme zum therapeutischen Behandlungsverlauf“ vom 21. Oktober 2019 legt im Gegenteil dar, dass der Kläger mehrmals in den Lockerungsstufen zurückgestuft werden musste, unter anderem wegen zweier Rückfälle in Bezug auf Alkohol. Es wird lediglich bescheinigt, dass der Kläger in seiner Abstinenzentscheidung „weiterhin glaubhaft“ wirke und bereit scheine, „eigene Einstellungen zu hinterfragen und notwendige Konsequenzen zu ziehen“. Er könne nach dortiger Einschätzung „weiterhin vom gestuften Therapieprogramm des Maßregelvollzuges profitieren“. Daraus wird deutlich, dass das Bezirksklinikum noch erheblichen weiteren Therapiebedarf sieht. Die Beklagte weist auch zu Recht darauf hin, dass auch die zuständige Strafvollstreckungskammer, die mit Beschluss vom 16. September 2019 eine bedingte Entlassung abgelehnt und die Fortdauer der Unterbringung angeordnet hat, weiterhin die Gefahr eines Rückfalls und der Begehung von rechtswidrigen Taten gesehen und weitere therapeutische Einwirkungen im Rahmen einer gesicherten Unterbringung für erforderlich hält.
Auch die ohne weitere Begründung geäußerten Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme greifen nicht durch. Dass der Kläger „lediglich“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist, lässt eine Unverhältnismäßigkeit nicht erkennen. Der Verurteilung lag das Handeltreiben mit 50 Gramm Heroin zu einem Kaufpreis von 2000 Euro zugrunde. Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, dass der Drogenhandel auch europarechtlich besonderes Gewicht hat, denn in Art. 83 Abs. 1 AEUV wird der illegale Drogenhandel als Bereich „besonders schwerer Kriminalität“ festgelegt, der eine grenzüberschreitende Dimension hat.
Auch aus der Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 26. Oktober 2012 (11 S 278/12 – juris) ergibt sich nichts zugunsten des Klägers. Es betrifft eine nicht vergleichbare Situation; in dieser Entscheidung hat das Gericht festgestellt, dass von dem dortigen Kläger nicht mehr die Gefahr der Wiederholung erheblicher Straftaten ausgehe und überdies aufgrund des Gewichts familiärer Bindungen, insbesondere zu zwei deutschen Kindern, die Abwägung aller Umstände zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Klägers gegenüber dem Interesse an seiner Ausweisung führe.
Hinsichtlich besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder der Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) bringt der Kläger keinerlei Ausführungen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Sofern er bezüglich einer Divergenz auf die erwähnte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg verweisen will, steht dem entgegen, dass dieser nicht zu den in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten divergenzfähigen Gerichten gehört, außerdem ist nicht erkennbar, von welchem dort aufgestellten Rechtssatz das Verwaltungsgericht abgewichen sein sollte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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