Europarecht

Versagung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 12 K 18.5119

Datum:
14.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34675
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1, § 11 Abs. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 9, § 84 Abs. 2 S. 1
ARB 1/80 Art. 6
ENA Art. 3 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Verzichtet die Ausländerbehörde ausdrücklich und in Kenntnis vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes auf eine Ausweisung, kann das zu einem “Verbrauch” des aktuellen Ausweisungsgrundes führen, wenn der Ausländer hierauf vertrauen durfte. Bei einer Änderung der maßgeblichen Sachlage, die das Ausweisungsinteresse erhöht, können jedoch auch an sich vom Verbrauch umfasste Sachverhalte wieder berücksichtigt werden (Rn. 64). (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Sperrwirkung einer Ausweisung für die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels greift unabhängig davon ein, ob die Ausweisungsverfügung sofort vollziehbar oder bestandskräftig ist. Die Sperrwirkung gilt nicht, wenn ein Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels unter Bezugnahme auf eine gleichzeitig erlassene Ausweisung abgelehnt wurde und sich diese als rechtswidrig darstellt (Rn. 81). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

A. Die Klage ist teilweise unzulässig.
Der Klage fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, soweit mit ihr die Aufhebung der Abschiebungsandrohung in die Türkei (Nr. 6 des Bescheides) begehrt wird. Denn mit der freiwilligen Ausreise des Klägers in die Türkei hat sich die Abschiebungsandrohung erledigt, weil der Kläger damit seine Ausreispflicht erfüllt hat (vgl. BVerwG, B.v. 20.6.1990 – 1 B 80/89 – juris Rn. 3; Hailbronner, AuslR, 95. Aktualisierung Februar 2016, § 59 Rn. 96 m.w.N.). Das Gleiche gilt, soweit mit der Klage die Verpflichtung des Klägers, seinen Reisepass bis zur Ausreise dem Beklagten auszuhändigen (Nr. 7 des Bescheids) sowie die Zwangsgeldandrohung für den Fall der verspäteten Aushändigung des Reisepasses (Nr. 8 des Bescheides) angefochten wird. Denn diese Maßnahmen dienten allein der Sicherung der Ausreise des Klägers und haben sich mit dessen freiwilliger Ausreise aus dem Bundesgebiet erledigt.
B. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie unbegründet. Der Bescheid des Beklagten, mit dem der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO.
I. Die Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland ist rechtmäßig. Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
1. Rechtsgrundlage für die verfügte Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
a) Der Kläger kann sich nicht auf einen erhöhten Ausweisungsschutz berufen. Nach § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem u.a. ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zukommt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. § 53 Abs. 3 AufenthG trägt damit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 Rechnung. Nach Art. 6 1. Spiegelstrich ARB 1/80 hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehört, in diesem Mitgliedsstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung einer Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt. Der Arbeitnehmerbegriff i.S.d. Art. 6 ARB 1/80 ist europarechtlich auszulegen; das wesentliche Merkmal des europarechtlichen Arbeitnehmerbegriffs besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH, U.v. 26.11.1998 – Rs. C-1-97 – NVwZ 1999, 1099 Rn. 24, 25). Maßgeblich ist also insbesondere ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer. Dieses Merkmal fehlt bei einem Geschäftsführer, der selbst Gesellschafter der Gesellschaft ist und auf diese einen bestimmenden Einfluss ausübt, weil er entweder der einzige Gesellschafter oder Mehrheitsgesellschafter ist. Ein solcher hat keinen weisungsberechtigten Geschäftsherrn, er ist vielmehr sein eigener Chef (VG Ansbach, U.v. 12.7.2011 – AN 19 K 11.00684 – BeckRS 2011, 31189; VGH Kassel, B.v. 9.2.2004 – 12 TG 3548/03 – NVwZ-RR 2004, 453).
Nach den vorliegenden Erkenntnissen gründete der Kläger die von ihm als Geschäftsführer geleiteten Gesellschaften allein bzw. übernahm sie zu Symbolpreisen von den bisherigen Gesellschaftern. Es fehlt daher an dem für das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 erforderlichen Über-/Unterordnungsverhältnis.
b) Der Kläger kann sich auch nicht auf einen erhöhten Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA) berufen. Nach Art. 3 Abs. 3 ENA dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder wenn die übrigen in Absatz 1 aufgeführten Gründe besonders schwerwiegend sind, ausgewiesen werden. Der Aufenthalt gilt als ordnungsmäßig, wenn den Vorschriften, die die Einreise, den Aufenthalt und die Freizügigkeit der Ausländer sowie die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch Ausländer regeln, entsprochen ist (vgl. Abschnitt II des Protokolls zum ENA). Der Kläger hält sich zwar seit mindestens 2005 im Bundesgebiet auf. Seine Aufenthaltserlaubnis ist aber mit Ablauf des 10. Juni 2010 erloschen, seither war der Kläger nur im Besitz einer Fiktionsbescheinigung auf Grundlage des § 81 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 AufenthG. Danach gilt der bisherige Aufenthaltstitel des Klägers bis zu einer Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend. Da der Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom Beklagten zu Recht abgelehnt wurde (vgl. unten), zählt die Fiktionswirkung rückwirkend nicht als ordnungsgemäßer Aufenthalt im Sinne von Art. 3 Nr. 3 ENA (VG München, U.v. 23.06.1999 – M 6 K 99.120 – BeckRS 1999, 24460 Rn. 14 zu § 69 AuslG).
c) Auch Art. 7 des Niederlassungsabkommens zwischen dem Deutschen Reich und der Türkischen Republik vom 12.1.1927 (BGBl II 1952, 608) begründet keinen besonderen Ausweisungsschutz, denn nach dieser Vertragsvorschrift sind Ausweisungen als Einzelmaßnahmen gemäß den Gesetzen der Vertragsstaaten zulässig.
d) Vom Kläger geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Die öffentliche Sicherheit umfasst die Unversehrheit von Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen des Einzelnen sowie den Bestand und das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen. Geschützt werden danach sowohl Individual- als auch Gemeinschaftsgüter. In der Regel wird eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Rechtsgüter droht (BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233, 341/81 – BeckRS 1985, 108893). Eine Gefahr liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an den geschützten Rechtsgütern eintreten wird, namentlich mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen ist (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 53 AufenthG Rn. 26). Bei der insoweit anzustellenden Gefahrenprognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Dabei gilt für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16 m.w.N.). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O. Rn. 18). Dabei kann die Ausweisung sowohl auf spezialpräventive als auch auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen. Diese Auslegung des Wortlauts wird systematisch durch § 53 Abs. 3 AufenthG, der ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BTDrs. 18/4097 S. 49) bestätigt. Auch aus weiteren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, z.B. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, ergibt sich, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BeckRS 2019, 16744 Rn. 17).
Das Gericht ist trotz der im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung getroffenen Sozialprognose davon überzeugt, dass vom Kläger weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die von den Strafgerichten getroffene Sozialprognose ist bei dieser Beurteilung zwar ein wesentliches Indiz. Sie bindet die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht allerdings nicht. Diese haben eine eigenständige Prognose über der Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (OVG Saarlouis, B.v. 1.7.2019 – 2 B 30/19 – BeckRS 2019, 14580; BVerwG, U.v. 13. 12. 2012 – 1 C 20/11 – NVwZ 2013, 733). Das Landgericht München I ging bei der im Rahmen des § 56 Abs. 2 StGB zu treffenden Sozialprognose davon aus, dass der Kläger aufgrund seiner bestehenden Beziehung und seiner Einnahmen aus Bücherverkäufen wie auch seiner gesundheitlichen Situation in Zukunft keine Straftaten begehen wird. Der Kläger ließ sich allerdings während des Strafverfahrens und auch unmittelbar nach der Verurteilung durch das Amtsgericht M. innerhalb der durch die Urteile das Amtsgerichte L. und Ü. bedingten Sperrfrist des § 6 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 GmbHG erneut als Geschäftsführer für drei Gesellschaften bestellen und in das Handelsregister eintragen, obwohl genau dieses Verbot Gegenstand des Strafverfahrens war. Zudem gab er, obwohl er immer noch an Gesellschaften beteiligt war, im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung an, dass er keine Anteile an einer Gesellschaft hält. Dieses Verhalten zeigt, dass sich der Kläger auch durch diverse einschlägige Verurteilungen (s.u.) nicht davon abhalten ließ, weiterhin gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger auch in Zukunft Rechtsverstöße begehen wird. Zudem besteht die vom Landgericht München I zur Begründung der positiven Sozialprognose herangezogene stabilisierende Beziehung des Klägers nach der Einlassung seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung wohl nicht mehr. Insbesondere geht das Gericht angesichts des derzeit anhängigen Strafverfahrens davon aus, dass der Kläger, der seine Schulden offensichtlich nicht überblickt, weiterhin Rechtsverstöße in diesem Zusammenhang begehen wird.
Der Kläger wurde aufgrund des Urteils des Amtsgerichts M. vom … Juli 2016 sowie des auf die Berufung hin ergangenen Urteils des Landgerichts München I vom … März 2017 unter Einbeziehung der Urteile des Amtsgerichts Ü. zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten, einem Jahr und zehn Monaten und einem Jahr und fünf Monaten verurteilt. Die abgeurteilten Taten standen alle im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit des Klägers. Auch die übrigen Verurteilungen des Klägers standen im Zusammenhang mit dessen Geschäftstätigkeit. Diese Verurteilungen sind trotz der auf dem Bundeszentralregisterauszug vom 22. Juni 2017 vermerkten ausländerrechtlichen Verwarnung des Klägers bei der Prognose bzgl. der Wiederholungsgefahr noch heranzuziehen. Verzichtet die Ausländerbehörde ausdrücklich und in Kenntnis vom Vorliegen eines Ausweisungsgrundes auf eine Ausweisung, kann das zu einem „Verbrauch“ des aktuellen Ausweisungsgrunds führen, wenn der Ausländer auf diesen Verzicht vertrauen durfte; dies steht aber unter dem Vorbehalt, dass sich die maßgebliche Sach- und Rechtslage nicht ändert. Eine erneute Straftat des Ausländers oder ein sonstiger Umstand, der das Ausweisungsinteresse erhöht, stellt eine solche Änderung dar und führt dazu, dass bei der Entscheidung über die Ausweisung auch die früheren Sachverhalte, die zunächst von dem Verbrauch umfasst waren, wieder berücksichtigt werden können (Tanneberger/Fleuß in: BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition Stand: 01.11.2019, § 53 AufenthG Rn. 31 m.w.N.). Eine solche Änderung der Sachlage liegt hier vor. Dem Beklagten waren bei der Aussprache der Verwarnung die Neueintragungen des Klägers als Geschäftsführer in das Handelsregister nicht bekannt. Zudem sind gegen den Kläger nachträglich erneut strafrechtliche Ermittlungen gegen eingeleitet worden.
Zudem besteht aus Sicht des Gerichts auch eine generalpräventiv begründete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Der Kläger gründete seit seiner Einreise in die Bundesrepublik eine Vielzahl von Gesellschaften, die bis auf die derzeitig noch bestehenden Gesellschaften wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöscht wurden. Der Kläger wurde im Zusammenhang mit seiner Geschäftstätigkeit wegen Insolvenzverschleppung, vielfachen Betruges, Veruntreuung und Vorenthaltung von Arbeitsentgelt sowie falschen Angaben verurteilt. Die diesen Verurteilung zugrundeliegenden Sachverhalte sind nicht derart speziell, dass andere Ausländer nicht durch das Aufzeigen der ausländerrechtlichen Konsequenzen von vergleichbaren Straftaten abgehalten werden könnten. Denn alle verübten Straftaten sind solche, sie im Rahmen einer selbstständigen Berufsausübung von jedem begangen werden könnten. Die konsequente Ausweisung ist daher geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Delikten wie den vom Kläger verwirklichten generalpräventiv vorzubeugen.
2. Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG a.F. schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
a) Im Fall des Klägers besteht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG. Der Kläger ist seit 2014 wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten, er wurde deswegen jedenfalls zu drei Gesamtfreiheitsstrafen zu je einem Jahr und zwei Monaten, einem Jahr und zehn Monaten und einem Jahr und fünf Monaten verurteilt. Zudem hat er hierdurch nicht nur vereinzelte oder geringfügige Verstöße gegen die Rechtsordnung begangen.
b) Dem steht kein Bleibeinteresse im Sinne des § 55 AufenthG gegenüber. Der Kläger ist nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis (s.u.).
c) Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegt das schwere Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der BRD, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, Vor §§ 53-56 Rn. 98 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Auch unter Beachtung dieser Vorgaben überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Zwar hält sich der Kläger seit fast 15 Jahren im Bundesgebiet auf und hat in dieser Zeit keine Sozialleistungen in Anspruch genommen hat. Er hat auch versucht, sich in der Bundesrepublik eine selbstständige Existenz aufzubauen und sich gesellschaftlich integriert. Andererseits verfügt der Kläger über keinerlei schützenswerte familiäre Bindungen im Bundesgebiet, die Beziehung des Klägers zu einer deutschen Staatsangehörigen führte nicht zur Heirat und besteht wohl auch nicht mehr fort. Auch eine wirtschaftliche Bindung ist derzeit nicht ersichtlich. Die Gesellschaften des Klägers entfalten nach seinen Angaben derzeit keine wirtschaftliche Tätigkeit. Einkommensteuerbescheide existieren nicht. Der Kläger erwirtschaftet nach eigenen Angaben keine Einkünfte in Deutschland, sondern wird finanziell aus der Türkei heraus unterstützt. Dort veröffentlicht er als Ghostwriter, auch sind Bücher von ihm auf Türkisch erschienen. Es dürfte dem Kläger, der in der Türkei aufgewachsen ist und erst als Erwachsener für längere Zeit in das Bundesgebiet einreiste, daher nicht schwer fallen, sich in der Türkei eine berufliche Existenz aufzubauen. Soweit der Kläger ausgeführt hat, er werde in der Türkei als „persona non grata“ behandelt, hat ihn dies nicht von zahlreichen Reisen in die Türkei abgehalten. Es ist daher nicht ersichtlich, wieso dem Kläger in der Türkei ein ernsthafter Schaden drohen sollte. Auch die Herzerkrankung des Klägers führt nicht dazu, dass der Kläger nicht in sein Heimatland zurückkehren könnte. In der Türkei besteht eine allgemeine Krankenversicherung, in die der Kläger auch als Selbstständiger einzahlen kann (vgl. http://www.s…). Insgesamt ist von einer gefestigten Bindung in das Heimatland auszugehen. Dagegen wurde der Kläger seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu Freiheitsstrafen von insgesamt vier Jahren und fünf Monaten sowie zu Geldstrafen von 180 Tagessätzen verurteilt, zudem sind zwei Strafverfahren noch nicht abgeschlossen.
Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher rechtmäßig und verhältnismäßig.
II. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 10 des angegriffenen Bescheids auf vier Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
1. Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
2. Der Beklagte berücksichtigte bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, kam er in nicht zu beanstandender Weise zu der verfügten Fristsetzung. Insbesondere blieb er bei der Fristsetzung unter einer Frist von fünf Jahren.
III. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis steht sowohl § 11 Abs. 1 AufenthG aufgrund der rechtmäßigen Ausweisung als auch die fehlende Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, da aufgrund der Straffälligkeit des Klägers ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG besteht. Zudem ist die Sicherung des Lebensunterhalts nicht nachgewiesen, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
1. Der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG bereits die Sperrwirkung der in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten Ausweisung entgegen. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die Sperrwirkung der Ausweisung greift gemäß § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach die Wirksamkeit der Ausweisung von Widerspruch und Klage unberührt bleibt, unabhängig davon ein, ob die Ausweisungsverfügung sofort vollziehbar oder bestandskräftig ist (vgl. Hailbronner, AuslR, 91. Aktualisierung, September 2015, § 11 AufenthG Rn. 18 f.). Eine Durchbrechung der Sperrwirkung ist aufgrund des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebotes effektiven Rechtsschutzes jedoch dann erforderlich, wenn ein Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels unter Bezugnahme auf eine gleichzeitig erlassene Ausweisung abgelehnt wurde und sich die Ausweisung als rechtswidrig darstellt. Dies ist hier nicht der Fall.
2. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht auch entgegen, dass die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt sind. Der Kläger hat mit seinen Verurteilungen ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG verwirklicht, das der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegensteht. Das Ausweisungsinteresse durfte auch noch herangezogen werden (s.o.). Auch die Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG ist nicht nachgewiesen. Zwar legte der Kläger im Mai 2017 eine türkische Tantiemenabrechnung von März 2017 vor, aus der sich Einkünfte über umgerechnet 2650,– EUR ergeben, zudem einen Versicherungsschein über eine private Krankenversicherung vom 17. Mai 2017. Aktuelle Nachweise wurden aber trotz Aufforderung nicht vorgelegt. Damit ist die Sicherung des Lebensunterhalts nicht nachgewiesen.
Anhaltspunkte für ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung sind nach den obigen Ausführungen zur Ausweisung nicht ersichtlich.
3. Im Übrigen liegen auch die speziellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht vor. Das Gericht folgt insoweit den zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid auf Seite 8-13 und sieht von einer weiteren Darstellung ab, § 117 Abs. 5 VwGO.
C. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung – ZPO.


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