Europarecht

Vollzug der Abschiebungsanordnung nach Polen

Aktenzeichen  AN 18 S 20.50341

Datum:
27.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30755
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7 S. 2
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Auch der nach dem deutschen Verwaltungsprozessrecht rein deklaratorische Einstellungsbeschluss führ nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO zum (erneuten) Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist. (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten über die Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 26. August 2020 (AN 18 S 20.50301).
Die Antragsteller, eine Familie weißrussischer Staatsangehöriger christlichen Glaubens, reisten am 25. Januar 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerten Asylgesuche, von denen die Antragsgegnerin infolge schriftlicher behördlicher Mitteilung am 29. Januar 2019 Kenntnis erlangte.
Mit Bescheid des Bundesamts für … vom 4. März 2019 – Geschäftszeichen: …, den Antragstellern am 7. März 2019 zugestellt, lehnte die Antragsgegnerin die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 2) und ordnete die Abschiebung nach Polen an (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller am 12. März 2019 Klage vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach (AN 18 K 19.50292) und beantragten außerdem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage, soweit damit die Abschiebungsanordnung angegriffen wurde (AN 18 S 19.50291). Auf die Erklärung der Antragsgegnerin, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auszusetzen, erklärten die Beteiligten das Eilverfahren AN 18 S 19.50291 mit Schriftsätzen vom 2. April 2020 (Antragsgegnerin) bzw. 21. April 2020 (Antragsteller) für erledigt, woraufhin dieses durch Beschluss des zuständigen Einzelrichters vom 19. August 2020, den Beteiligten jeweils am 21. August 2020 zugestellt, eingestellt wurde.
Nachdem die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 30. Juli 2020 den Widerruf der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung erklärt hatte, ersuchten die Antragsteller das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach am 18. August 2020 – mit dem Ziel der Verpflichtung der Antragsgegnerin, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu ergreifen, bzw. der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 12. März 2019 – um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 7 VwGO. Diesen Antrag legte der zuständige Einzelrichter dahingehend aus, dass nunmehr aufgrund veränderter Umstände im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung erreicht werden sollte, und lehnte den so verstandenen Antrag mit Beschluss vom 26. August 2020 (AN 18 S 20.50301) als zulässig, aber in der Sache unbegründet ab. Es fehle an einem Anordnungsanspruch, da sich unter Berücksichtigung der geltend gemachten „neuen“ Umstände bei summarischer Prüfung keine durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsanordnung ergäben. Selbst bei einer nochmaligen Überprüfung der übrigen für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung maßgeblichen Umstände könne nichts anderes gelten. Ergänzend wird insoweit auf die Gründe des Beschlusses vom 26. August 2020 Bezug genommen (dort insbes. S. 6 ff.).
Am 20. Oktober 2020 haben die Antragsteller das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach im Wege des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO um die Abänderung des Beschlusses vom 26. August 2020 (AN 18 S 20.50301) ersucht.
Zur Begründung wird ausgeführt, die sechsmonatige Überstellungsfrist sei mit Ablauf des 21. Oktober 2020 verstrichen, denn die zuletzt abgegebene Erledigungserklärung sei am 21. April 2020 bei Gericht eingegangen. Dem stehe auch die von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 2. April 2020 „bis auf weiteres“ erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nicht entgegen, da sich diese Vorgehensweise nicht innerhalb des durch Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmens halte und somit rechtswidrig gewesen sei.
Es werde außerdem auf die in exorbitanter Weise angestiegenen COVID-19-Infektionszahlen in Polen hingewiesen. So seien dort am 18. Oktober 2020 ausweislich des Internets 8.536 Neuinfektionen verzeichnet worden und die entsprechende Kurve zeige seit etwa Anfang Oktober 2020 sehr steil nach oben. Aufgrund hoher Infektionszahlen warne auch das Auswärtige Amt vor Reisen nach Polen.
Es wird daher beantragt,
den Beschluss des VG Ansbach, Az.: AN 18 S 20.50301, vom 26. August 2020 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. März 2019 anzuordnen,
hilfsweise im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gerichtlich die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in dem Verfahren AN 18 K 19.50292 gegen die von der Antragsgegnerin erlassene Abschiebungsanordnung anzuordnen, wiederum hilfsweise im Wege der einstweiligen Anordnung der Antragsgegnerin aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass jedenfalls vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens keine Abschiebung der Klagefamilie, Mutter und Kinder, erfolgen darf.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO abzulehnen.
Unabhängig von der rechtlichen Positionierung hinsichtlich einer Fristverlängerung aufgrund der coronabedingten Aussetzung sei auch die „ursprüngliche“ Rückführungsfrist nach Einstellung des Verfahrens AN 18 S 19.50291 noch nicht abgelaufen. Diese ende, gerechnet sechs Monate ab dem Datum des Einstellungsbeschlusses, mit dem 19. Februar 2020.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren, in den Verfahren AN 18 S 19.50291, AN 18 K 19.50292 und AN 18 S 20.50301 sowie auf die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag, zu dessen Entscheidung nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter berufen ist, führt nicht zum Erfolg. Er ist nach Maßgabe von § 122 Abs. 1, § 88 VwGO einheitlich auszulegen als Antrag analog § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO mit dem Ziel der Abänderung der im Verfahren AN 18 S 20.50301 ergangenen Sachentscheidung vom 26. August 2020 (Ablehnung des dortigen Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO als unbegründet) sowie – in der Folge – der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (AN 18 K 19.50292) gegen die Abschiebungsanordnung nach Polen (Ziffer 3 des Bundesamtsbescheids).
1. Der so verstandene, nicht fristgebundene Antrag ist zulässig.
a) Er ist insbesondere statthaft. Es besteht inzwischen weitgehende Einigkeit darüber, dass die nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu Gunsten der Beteiligten vorgesehene Möglichkeit, wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände die Änderung oder Aufhebung von Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen, angesichts der dringenden praktischen Notwendigkeit auch im System der einstweiligen Anordnung statthaft sein muss. Überwiegend wird daher angenommen, dass die Abänderung oder Aufhebung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, die – wie der vorliegend relevante Beschluss vom 26. August 2020 – im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ergangen ist, in analoger Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO geschieht (vgl. etwa BVerfG, B.v. 23.3.2001 – 2 BvR 492/95 – juris Rn. 67; VGH BW, B.v. 6.12.2001 – 13 S 1824/01 – juris Rn. 4; OVG Hamburg, B.v. 24.2.2009 – 3 Nc 258/08 – juris Rn. 4; Schoch/Schneider/ Bier/Schoch, 38. EL Januar 2020, VwGO, § 123 Rn. 174).
b) Die Antragsteller verfügen ferner über die notwendige Antragsbefugnis.
Diese ist allgemein dann gegeben, wenn sich die für die Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte derart geändert haben, dass objektiv eine andere Beurteilung der Erfolgsaussichten möglich oder zumindest eine neue Interessenabwägung erforderlich ist (VGH BW, B.v. 29.1.1992 – 11 S 1995/91 – juris Rn. 4; B.v. 14.2.2007 – 13 S 2969/06 – juris Rn. 3). Die Geltendmachung derart veränderter Umstände setzt dabei einen schlüssigen Vortrag der Antragsteller zur Änderung der Sach- und Rechtslage, auch der Prozesslage, voraus (Schoch/Schneider/Bier/Schoch, 38. EL Januar 2020, VwGO, § 80 Rn. 576). Dies ist hier der Fall; die Antragsteller haben in schlüssiger Weise veränderte Umstände dargetan, auf deren Grundlage eine andere Bewertung der Erfolgsaussichten ihres Rechtsschutzbegehrens – der gerichtlichen Anordnung aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung – zumindest möglich erscheint.
Sie berufen sich zum einen darauf, dass mit Ablauf des 21. Oktober 2020 mehr als sechs Monate seit der – vorliegend am 21. April 2020 erfolgten – Abgabe der letzten Erledigungserklärung in dem Verfahren AN 18 S 19.50291 verstrichen seien. Da nach der Dogmatik des deutschen Verwaltungsprozessrechts die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten konstitutiv zur Beendigung der Rechtshängigkeit führen (vgl. NK-VwGO/Neumann/Schaks, 5. Aufl. 2018, VwGO, § 161 Rn. 66), war demnach am 21. April 2020 die Rechtshängigkeit des Verfahrens AN 18 S 19.50291 (rückwirkend) entfallen. Die somit gegebene prozessuale Situation ähnelt derjenigen, die im Fall einer den dortigen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Sachentscheidung eingetreten wäre. Ein solcher Beschluss, der nach § 80 AsylG unanfechtbar gewesen wäre, hätte nämlich (wenn auch nicht rückwirkend) gleichermaßen zum Ende der Rechtshängigkeit des Verfahrens AN 18 S 19.50291 geführt. Mit Blick auf die Rechtsprechung Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 27.4.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 22; U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11), wonach die durch einen fristgemäß gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unterbrochene sechsmonatige Überstellungsfrist in Einklang mit der Bestimmung des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO mit der Bekanntgabe des den vorläufigen Rechtsschutz ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Beschlusses erneut zu laufen beginnt, erscheint es damit auch im Fall der Beendigung des Verfahrens infolge übereinstimmender Erledigungserklärungen zumindest nicht ausgeschlossen, insoweit auf den – ebenfalls zum Entfallen der Rechtshängigkeit führenden und hier am 21. April 2020 erfolgten – Eingang der letzten Erledigungserklärung abzustellen. Ein solches Verständnis hätte wiederum zur Folge, dass mit Blick auf den dann gegebenen Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen wäre und damit das hinsichtlich der Abschiebungsanordnung bestehende Aussetzungsinteresse der Antragsteller höher zu bewerten wäre als das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Zum anderen weisen die Antragsteller auf eine seit etwa Anfang Oktober 2020 festzustellende Verschärfung des COVID-19-Infektionsgeschehens in Polen hin. Auch auf dieser Grundlage erscheint eine rechtliche Neubewertung – zumindest hinsichtlich des Bestehens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – nicht von vorneherein ausgeschlossen. Für den Fall, dass ein solches Abschiebungsverbot tatsächlich anzunehmen sein sollte, wäre wiederum von einem Überwiegen des Interesses der Antragsteller, den Vollzug der Abschiebungsanordnung nach Polen vorläufig auszusetzen, auszugehen.
2. In der Sache jedoch erweist sich der Antrag als unbegründet. Die von den Antragstellern geltend gemachte Änderung der tatsächlichen Umstände – nämlich das Verstreichen eines Zeitraums von mehr als sechs Monaten seit der Abgabe der letzten Erledigungserklärung in dem Verfahren AN 18 S 19.50291 sowie ein seit Anfang Oktober 2020 festzustellender deutlicher Anstieg der COVID-19-Infektionen in Polen – ist zwar tatsächlich eingetreten, begründet in rechtlicher Hinsicht aber keine Abänderung des Beschlusses vom 26. August 2020. Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, bleibt es bei einem Überwiegen des Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller. So ist zu diesem Zeitpunkt weder ein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO infolge eines Verstreichens der sechsmonatigen Überstellungsfrist erfolgt, noch ergibt sich aus dem alleinigen Umstand gestiegener COVID-19-Infektionszahlen in Polen ein Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a) Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO noch nicht abgelaufen und somit auch kein Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung der Asylgesuche der Antragsteller auf die Antragsgegnerin erfolgt, Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein solcher Zuständigkeitsübergang kommt hier nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO frühestens sechs Monate nach Ergehen des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses in dem Verfahren AN 18 S 19.50291 in Betracht, wobei dahinstehen kann, ob es insoweit auf den Zeitpunkt des Beschlusserlasses am 19. August 2020 oder auf dessen Zustellung an die Beteiligten am 21. August 2020 ankommt.
Entgegen der Ansicht der Antragsteller ist die Überstellungsfrist, die durch den innerhalb der einwöchigen Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (AN 18 S 19.50291) mit dem Ziel der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung zunächst unterbrochen worden war, nicht bereits mit der Abgabe der letzten Erledigungserklärung am 21. April 2020 erneut angelaufen. Vielmehr ist insoweit auf die in diesem Verfahren ergangene gerichtliche Entscheidung, nämlich den Einstellungsbeschluss vom 19. August 2020 bzw. dessen Zustellung an die Beteiligten am 21. August 2020, abzustellen (ebenso VG München, U.v. 7.7.2020 – M 2 K 19.51274 – juris Rn. 15; noch offenlassend VG Ansbach, B.v. 26.8.2020 – AN 18 S 20.50301 – juris Rn. 53; a.A. VG Saarland, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – juris Rn. 38). Auch wenn Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO hierzu keine ausdrückliche Regelung enthält, lässt sich dies unschwer anhand der üblichen Auslegungsmethoden ermitteln.
Für die Maßgeblichkeit des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses spricht zunächst der Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Danach erfolgt die Überstellung eines Antragstellers aus dem um Übernahme ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald dies praktisch möglich ist, spätestens aber innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. In der hier zu entscheidenden Fallkonstellation ist dabei die zweite Alternative des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Gegen die von der Antragsgegnerin angeordnete Abschiebung nach Polen haben die Antragsteller fristgerecht Klage erhoben (AN 18 K 19.50292) und innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach Maßgabe von § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage beantragt (AN 18 S 19.50291). Hierbei handelt es sich um einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne des unionsrechtlichen Verständnisses von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO, denn die rechtzeitige Antragstellung hat nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG zur Folge, dass eine Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag unabhängig vom Verfahrensausgang kraft Gesetzes nicht zulässig ist (vgl. dazu BVerwG, B.v. 27.4.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 20). Nach dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO kommt es somit für den Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist alleine auf die endgültige (gerichtliche) Entscheidung über den Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung an. In dem hier maßgeblichen Verfahren AN 18 S 19.50291 wurde eine solche endgültige gerichtliche Entscheidung erstmals mit dem Einstellungsbeschluss vom 19. August 2020 getroffen. Zwar ist den Antragstellern zuzugeben, dass es sich hierbei gerade nicht mehr um eine Entscheidung in der Sache handelt, sondern die Rechtshängigkeit des Verfahrens vielmehr als Folge der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten bereits am 21. April 2020 (rückwirkend) entfallen war und dem gerichtlichen Einstellungsbeschluss vom 19. August 2020 insoweit eine rein deklaratorische Bedeutung zukam. Eine solche – auf die Dogmatik des deutschen Verwaltungsprozessrechts zurückzuführende – Differenzierung zwischen gerichtlichen Sachentscheidungen und lediglich deklaratorischen Einstellungsbeschlüssen ist der Bestimmung des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO jedoch fremd. Stattdessen wird dort für den Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist einheitlich auf das Ergehen einer gerichtlichen Entscheidung in dem Rechtsbehelfsverfahren mit aufschiebender Wirkung abgestellt.
Des Weiteren spricht auch die Regelungssystematik des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO dafür, hinsichtlich des in der zweiten Alternative vorgesehenen (erneuten) Anlaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf den im Anschluss an die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ergangenen gerichtlichen Einstellungsbeschluss abzustellen. Dies ergibt sich namentlich aus einer Gegenüberstellung der beiden Regelungsalternativen dieser Vorschrift. Während Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO für den Beginn der sechsmonatigen Überstellungsfrist im Regelfall auf die Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch den zuständigen Mitgliedstaat abstellt, sieht Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn sich der betroffene Ausländer unter Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO gerichtlich gegen die Überstellungsentscheidung zur Wehr setzt, eine Verschiebung des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über diesen Rechtsbehelf vor. Es sollen dadurch die widerstreitenden Interessen der Verordnung, nämlich einerseits eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen (Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO), und andererseits für die betroffenen Ausländer einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen zu gewährleisten (Erwägungsgrund 19 zur Dublin III-VO), einem angemessenen Ausgleich zugeführt werden. In beiden Konstellationen jedoch bleibt es dabei, dass sich die betroffenen Mitgliedstaaten bei der Organisation der Überstellung mit den gleichen praktischen Schwierigkeiten konfrontiert sehen und folglich über die gleiche Frist von sechs Monaten verfügen sollen, um diese Überstellung zu bewerkstelligen. In beiden Regelungsalternativen müssen die Mitgliedstaaten daher jeweils über eine Frist von sechs Monaten verfügen, die sie in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung nutzen sollen. Insbesondere dürfen diejenigen Mitgliedstaaten, die Rechtsbehelfe gegen die Überstellungsentscheidung mit aufschiebender Wirkung geschaffen haben, im Namen der Einhaltung des Erfordernisses einer zügigen Sachbehandlung nicht in eine weniger günstige Lage versetzt werden als diejenigen Mitgliedstaaten, die solches nicht vorgesehen haben (so zur Vorgängerbestimmung des Art. 20 Abs. 1 Buchst. d Dublin II-VO: EuGH, U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – juris Rn. 43 f. und 49). Findet jedoch ein solches Rechtsbehelfsverfahren mit aufschiebender Wirkung seinen Abschluss nicht durch eine gerichtliche Sachentscheidung, sondern durch die Vornahme entsprechender Prozesshandlungen von Seiten der Beteiligten, die diese gegenüber dem Gericht abgegeben haben, so besteht die Gefahr, dass der überstellende Mitgliedstaat hiervon nur mittelbar und ggf. mit Verzögerung Kenntnis erlangt und ihm in der Konsequenz entgegen der Vorgabe des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO zur Bewerkstelligung der Überstellung nicht mehr die vollen sechs Monate zur Verfügung stehen. So ist auch die hier zu entscheidende Fallkonstellation gelagert. Nachdem sich die Antragsgegnerin in dem Verfahren AN 18 S 19.50291 mit Schriftsatz vom 2. April 2020 einer etwaigen Erledigungserklärung der Antragsteller bereits im Voraus angeschlossen hatte, stand es nunmehr diesen anheim, durch die Abgabe einer entsprechenden prozessualen Erklärung gegenüber dem Gericht (konstitutiv) eine Beendigung des Verfahrens herbeizuführen, ohne dass hierbei eine unmittelbare Kenntniserlangung der Antragsgegnerin sichergestellt gewesen wäre. Eine in diesem Sinne gesicherte Kenntniserlangung der Antragsgegnerin vom Ausgang des Verfahrens war vielmehr erst durch die daraufhin vom Gericht deklaratorisch mit Beschluss vom 19. August 2020 ausgesprochene Verfahrenseinstellung bzw. dessen Zustellung an die Beteiligten am 21. August 2020 gewährleistet.
Da somit ein Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht vor dem 19. bzw. 21. Februar 2021 in Betracht zu ziehen ist, kommt es auf die weitergehende Frage, inwieweit der Lauf der Überstellungsfrist daneben durch die von der Antragsgegnerin auf Grundlage von § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung unterbrochen werden konnte, nicht mehr an. Damit erübrigt sich auch eine weitere Erörterung der von der Antragstellerseite erhobenen Einwände gegen die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Vorgehens der Antragsgegnerin.
b) Auch die Bezugnahme auf den seit etwa Anfang Oktober 2020 festzustellenden deutlichen Anstieg der bestätigten COVID-19-Erkrankungen in Polen vermag in der Sache ein Überwiegen des Interesses der Antragstellerseite an der Aussetzung der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nicht zu begründen. Insbesondere ergibt sich deshalb alleine noch kein Anspruch auf die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei vor allem existenzielle Gefahren durch Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie insbesondere Krankheit erfasst werden, die dem Ausländer aufgrund seiner persönlichen Situation drohen. Der Umstand allein, dass Polen etwa seit Beginn des Monats Oktober 2020 einen deutlichen Anstieg der Neuinfektionen mit COVID-19 verzeichnet, geht für die Antragsteller noch nicht mit einer derart erheblichen und konkreten Gesundheitsgefahr einher. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine allgemeine Gefahr, die im Ausgangspunkt allen in Polen aufhältigen Personen droht und die damit grundsätzlich nur bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen ist.
Nach der Rechtsprechung kann in diesen Fällen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise dann in Anspruch genommen werden, wenn ein Ausländer aufgrund der im Abschiebungszielstaat herrschenden Lebensbedingungen – namentlich der dortigen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und der damit zusammenhängenden Versorgungslage – mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Diese Gefahren müssen im konkreten Einzelfall nach Art, Ausmaß und Intensität von solchem Gewicht sein, dass sich daraus für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, wobei ein im Vergleich zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhter Maßstab anzulegen ist und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren müssen (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 38; U.v. 8.9.2011 – 10 C 10.14 – BVerwGE 140, 319 Rn. 22 f.).
Dass die Antragsteller bei einer Abschiebung nach Polen infolge der dortigen Verbreitung des Corona-Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein werden, vermag das Gericht jedoch nicht zu erkennen. Mit Stand vom 26. Oktober 2020 verzeichnete Polen insgesamt 253.688 bestätigte Infektionen mit dem Corona-Virus. Innerhalb der vorangegangenen 14 Tagen waren pro 100.000 Einwohner durchschnittlich 336,7 Neuinfektionen mit COVID-19 und 3,8 Todesfälle zu verzeichnen. Im Vergleich dazu gab es am 26. Oktober 2020 in Deutschland 437.866 bestätigte COVID-19-Fälle, wobei innerhalb der vorangegangenen 14 Tage bezogen auf 100.000 Einwohner 135,6 Neuerkrankungen und 0,5 Todesfälle verzeichnet wurden (vgl. zum Ganzen: European Centre for Disease Prevention and Control, COVID-19 situation update for the EU/EEA and the UK, 26.10.2020, https://www…eu/en/cases-2019-ncov-eueea, zuletzt abgerufen am 27.10.2020). Damit weist Polen im Vergleich zu Deutschland zwar sowohl hinsichtlich der Anzahl der Neuinfektionen als auch der coronabedingten Todesfälle jeweils deutlich (etwa um den Faktor 2,5 bzw. 7,5) erhöhte 14-Tages-Inzidenzwerte pro 100.000 Einwohner auf. Gleichwohl erscheinen die Antragsteller im Fall der Abschiebung dorthin nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit durch eine Infektion mit dem Corona-Virus, geschweige denn durch einen besonders widrigen, lebensbedrohlichen Krankheitsverlauf, gefährdet. Dies gilt umso mehr, als die Antragsteller keiner der Risikogruppen angehören, für die nach den Erkenntnissen des Robert-Koch-Instituts ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf besteht. Hierzu zählen vor allem Personen mit einem Lebensalter ab etwa 50 bis 60 Jahren, Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen – wie etwa Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Erkrankungen des Atmungssystems, der Leber, der Niere oder Krebserkrankungen – sowie Personen mit unterdrücktem Immunsystem (vgl. https://www…de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html, zuletzt abgerufen am 27.10.2020). Dass eines dieser Merkmale auf die hiesigen Antragsteller zuträfe, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Ebenso wenig kann den Antragstellern in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die seit dem 24. Oktober 2020 bestehende Reisewarnung des Auswärtigen Amts weiterhelfen, in der aufgrund hoher Infektionszahlen vor nicht notwendigen, touristischen Reisen nach Polen gewarnt wird. Insbesondere kommt einer solchen vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung keine Indizwirkung für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu, bei der in verfassungskonformer Auslegung dieser Regelung ein Abschiebungsverbot nach nationalem Recht anzunehmen ist (BVerwG, B.v. 27.6.2013 – 10 B 11.13 – juris Rn. 6).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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