Europarecht

Zuständigkeit bei wiederholtem Dublin-Antrag nach Wiedereinreise

Aktenzeichen  AN 17 S 20.50040

Datum:
18.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2380
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 1, Art. 29 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Eine einmal bestandskräftig gewordene Zuständigkeitsentscheidung kann in einem Dublin-„Folgeverfahren“ revidiert werden, wenn geänderte Umstände vorliegen. Diese liegen jedenfalls dann vor, wenn ein Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO noch vor Vollzug der ersten Abschiebungsanordnung eingetreten ist.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. „Flüchtig“ im Sinne Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO ist, wer sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzieht, um die Überstellung zu vereiteln.  (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20. Januar 2020 gegen Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Januar 2020 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung nach Spanien im Rahmen des „Dublin-Verfahrens“.
Der Antragsteller, syrischer Staatsangehöriger, dem Volk der Kurden zugehörig sowie islamisch-sunnitischen Glaubens, hatte bereits in der Vergangenheit ein Asylgesuch geäußert. Erstmalig erlangte die Antragsgegnerin durch behördliche Mitteilung am 26. Februar 2018 schriftlich Kenntnis vom Asylgesuch des Antragstellers, der zuvor am 25. Februar 2018 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war. Am 9. März 2018 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag. Die Abfrage aus der EURODAC-Datenbank ergab für den Antragsteller einen Treffer für das Königreich Spanien mit Datum der Fingerabdruckabnahme am 15. Dezember 2017 sowie einen Antrag auf internationalen Schutz am 13. Dezember 2017. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) richtete daraufhin am 3. April 2018 ein Übernahmeersuchen an Spanien. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 19. April 2018 – nach vorangegangenem Remonstrationsverfahren der Antragsgegnerin – ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages und die Übernahme des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO). Mit Bescheid des Bundesamtes vom 24. April 2018 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen sowie die Abschiebung des Antragstellers nach Spanien angeordnet. Dem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung:nach dem Musterformblatt des Bundesamtes D1221 (Klage und Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO binnen einer Woche nach Zustellung des Bescheids) beigefügt. Der Bescheid war mit Postzustellungsurkunde am 27. April 2018 einer Mitarbeiterin der Aufnahmeeinrichtung in … übergeben worden. Hiergegen ließ der Antragsteller über seinen damaligen Bevollmächtigten am 7. Mai 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erheben; ein Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren wurde nicht gestellt. Eine Klagebegründung erfolgte nicht. Mit Beschluss vom 2. Juli 2019 wurde das Hauptsacheverfahren (Az. AN 17 K 18.50434) nach erfolgloser Betreibensaufforderung des Gerichts eingestellt.
Die Überstellung des Antragstellers nach Spanien erfolgte am 23. Juli 2019. Zuvor hatte das Bundesamt mit Schreiben vom 18. Oktober 2018 an die spanischen Behörden mitgeteilt, dass der Antragsteller flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO sei und die Überstellungsfrist auf 18 Monate geändert. Die für diesen Tag geplante Überstellung des Antragstellers scheiterte, weil er einer Vorladung der Regierung … zur Polizeiinspektion … auf Vorsprache bei dieser Polizeidienststelle zum Zwecke der Rückführung keine Folge geleistet hatte Aus den Verwaltungsvorgängen ist nicht ersichtlich, dass die Unterkunft des Antragstellers zum damaligen Zeitpunkt durch Polizeikräfte aufgesucht worden wäre oder sonst Rücksprache mit Mitarbeitern der Aufnahmeeinrichtung zum Verbleib des Antragstellers genommen worden war. Mit Bescheid vom 17. Dezember 2018 wies die Regierung … dem Antragsteller eine neue Unterkunft in der Gemeinschaftsunterkunft … a.d.D. zu.
Am 8. November 2019 reiste der Antragsteller erneut in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf Durchführung eines Asylverfahrens. Die Abfrage in der EURODAC-Datenbank belegte nur den bereits bekannten Treffer in Spanien. In der Folge wurde der Antragsteller zunächst schriftlich durch die Zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung …, sodann noch einmal mündlich durch das Bundesamt am 8. Januar 2020 zur Zulässigkeit seines Asylantrages befragt. Dabei gab der Antragsteller an, in Spanien keine Aufenthaltserlaubnis erhalten zu haben. Sein Asylantrag sei abgelehnt worden, was er durch Vorlage eines in spanischer Sprache verfassten Schreibens belegen könne (Bl. 58 ff. d. Bundesamtsakte zum Az. 7985343-475). Er habe das Land verlassen müssen. Er habe keine Unterkunft und kein Geld mehr zum Leben gehabt. Nach seiner Abschiebung nach Spanien im Juli 2019 habe er am Flughafen … einen Laufzettel erhalten, mit dem er sich beim Migrationscenter gemeldet habe. Er habe einen vorläufigen Ausweis erhalten. Er sei aufgefordert worden, sich am 14. Oktober 2019 noch einmal beim Migrationscenter vorzustellen. An jenem Tag sei ihm sein Ausweis wieder abgenommen worden. Ihm sei mittels Dolmetscher erklärt worden, dass sein Asylantrag bereits im Jahr 2017 in Spanien rechtskräftig abgelehnt worden sei. Er habe sich dann entschieden, Spanien wieder in Richtung Deutschland zu verlassen. In der Zwischenzeit habe er vonseiten Spaniens keine Unterstützung oder Unterkunft erhalten. Gegenüber dem Bundesamt gab der Antragsteller dazu weiter an, in … habe er eine Wohnung gemietet. Die Miete für zwei Monate habe 1.000,00 Euro betragen. Er habe auch gearbeitet, täglich 15 Stunden für einen Lohn von 700,00 Euro im Monat. Rechtliche Schritte gegen die Ablehnung seines Asylantrages habe er nicht ergriffen, weil das nichts gebracht hätte. In Deutschland lebten seine Geschwister.
Das Bundesamt richtete am 6. Dezember 2019 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Spanien. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 17. Dezember 2019 ihre Bereitschaft zur Übernahme des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO.
Mit Bescheid des Bundesamts vom 10. Januar 2020, dem Antragsteller gegen Empfangsbestätigung in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung … zugestellt am 16. Januar 2020, wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1.), festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen (Ziffer 2.) und seine Abschiebung nach Spanien angeordnet (Ziffer 3.). In Ziffer 4. des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
Der Antragsteller erhob mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten per Telefax am 20. Januar 2020 zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach Klage (Az.: AN 17 K 20.50041), über die noch nicht entschieden ist und mit weiterem datumsgleichen Schriftsatz, ebenfalls am 20. Januar 2020 bei Gericht eingegangen, einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Bevollmächtigte bat um Einsicht in die Behördenakten, die ihr mittels besonderem elektronischen Anwaltspostfach am 4. Februar 2020 gewährt wurde. Eine Antrags- und Klagebegründung erfolgte bislang nicht.
Mit bei Gericht am 28. Januar 2020 eingegangenem Schriftsatz vom 23. Januar 2020 beantragte die Antragsgegnerin:
Der Antrag wird abgelehnt.
Zur Begründung verwies die Antragsgegnerin auf ihre Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die in elektronischer Form vorgelegten Behördenakten zum Antragsteller (Az.: … und …) verwiesen.
II.
Der sachgerecht als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid des Bundesamtes vom 10. Januar 2020 enthaltene Abschiebungsanordnung (Ziffer 3.) auszulegende Antrag (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO), zu dessen Entscheidung der Einzelrichter gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG berufen ist, ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO fristgerecht erhobene und statthafte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Ziffer 3. des am 16. Januar 2020 zugestellten Bescheides der Antragsgegnerin vom 10. Januar 2020 ist zulässig. Die vom Antragsteller zeitgleich erhobene Klage gegen diesen Bescheid entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG). Das Gericht der Hauptsache kann aber nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.
Der Antrag ist auch begründet. Die nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das erkennende Gericht zu treffende Ermessensentscheidung fällt zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Grundlage dieser Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung des Gerichts zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann.
Nach diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das individuelle Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, weil die Klage aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Die in Nummer 3. des streitgegenständlichen Bescheides der Antragsgegnerin getroffene Abschiebungsanordnung erweist sich nach summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Halbs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Zuständiger Staat ist nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin III-VO der Mitgliedstaat, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates finden in der in Kapitel III der Dublin III-VO genannten Rangfolge Anwendung. Für die Frage der Zuständigkeit ist nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich auf den ersten Dublin-Bescheid vom 24. April 2018 abzustellen, mit dem die Zuständigkeitsfrage bestandskräftig festgestellt wurde (vgl. auch: VG Ansbach, B.v. 7.5.2019 – AN 18 S 18.50925 – BeckRS 2019, 15482). Allein darauf abgestellt ergeben sich keine Zweifel an der Zuständigkeit des Königreich Spaniens für die Behandlung des neuerlich gestellten Asylantrages. Spanien hat dazu auch seine Zuständigkeit mit Schreiben vom 6. Dezember 2019 unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO anerkannt.
Die weitere Entwicklung nach Eintritt der Bestandskraft des Bescheids der Antragsgegnerin vom 24. April 2018 ist jedoch insoweit beachtlich als sich der Antragsteller erfolgreich auf einen Übergang der Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO aus diesem ersten Dublin-Verfahren berufen kann. Das folgt insoweit aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Ein Antragsteller muss demnach über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können, welcher es ihm ermöglicht, sich auf nach dem Erlass der ihm gegenüber ergangenen Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände zu berufen, wenn deren Berücksichtigung für die ordnungsgemäße Anwendung der Dublin III-VO entscheidend ist (vgl. EuGH, B.v. 25.1.18 – C-360/16 – juris Rn. 31). Ebenso hat der EuGH klargestellt, dass dem Vollzug der Überstellung keine solche Wirkung zukommt, dass dieser für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates relevant ist (vgl. a.a.O. – juris Rn. 36). Vielmehr ist dieser Mitgliedstaat erneut gemäß Art. 23 bzw. 24 Dublin III-VO anzugehen (vgl. a.a.O. – juris Rn. 50 ff.).
Aus dieser Rechtsprechung des EuGH folgt zwar regelmäßig nicht, dass eine einmal bestandskräftig gewordene Zuständigkeitsentscheidung in einem Dublin-„Folgeverfahren“ revidiert werden kann. Geänderte Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EuGH liegen aber jedenfalls dann vor, wenn ein Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO noch vor Vollzug der ersten Abschiebungsanordnung eingetreten ist. Die Abschiebung ist dann rechtswidrig erfolgt. So liegen die Umstände hier.
Der Antragsteller hatte den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. April 2018 lediglich mittels einer Klage angegriffen und keinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung gestellt. Fehler in der Rechtsbehelfsbelehrung:bezüglich dieses ersten Dublin-Bescheids sind aus der vorgelegten elektronischen Behördenakte zu jenem Verfahren nicht ersichtlich. Damit wurde die Abschiebungsanordnung nach Ablauf der einwöchigen Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG vollziehbar. Die Überstellung des Antragstellers nach Spanien hatte in der weiteren Folge unter Beachtung der positiven Antwort der spanischen Behörden auf das Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin binnen sechs Monaten ab dem 19. April 2018 gerechnet zu erfolgen, mithin bis zum Ablauf des 19. Oktober 2018. Tatsächlich erfolgt die Überstellung des Antragstellers erst am 23. Juli 2019.
Diese Überstellungsfrist konnte die Antragsgegnerin auch nicht zulässigerweise auf 18 Monate im Hinblick auf ein angenommenes Flüchtigsein des Antragstellers verlängern mit der Folge, dass die Überstellung dann auch noch am 23. Juli 2019 rechtlich beanstandungsfrei hätte durchgeführt werden können. Jedenfalls war der dazu allein herangezogene Umstand, dass der Antragsteller einer Ladung der Ausländerbehörde zur Vorsprache bei einer Polizeidienststelle zum Zwecke der Realisierung der Überstellung nach Spanien keine Folge geleistet hatte, nicht geeignet. Dies hat die Kammer im Hinblick auf das Merkmal „Flüchtigsein“ unter Beachtung der Mitwirkungspflichten des Ausländers aus § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bereits entschieden (VG Ansbach, U.v. 6.12.2018 – AN 17 K 18.50438 – BeckRS 2018, 34448). In dieser Rechtsprechung sieht sich die Kammer und ihr hier folgend der Einzelrichter durch die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Jawo“ (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – NVwZ 2019, 712) zur Auslegung des Merkmals „Flüchtig sein“ im Sinne der Dublin III-VO bestätigt. Der EuGH hat in seiner vorgenannten Rechtssache geurteilt, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne der Bestimmung des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies könne etwa im Verlassen der zugewiesenen Wohnung ohne Mitteilung an die zuständigen nationalen Behörden trotz erfolgter Belehrung über die Mitwirkungspflichten gesehen werden. Gleichwohl hat der EuGH nach Auffassung des Einzelrichters dabei den Begriff des Entziehens mit dem Merkmal des für die nationalen Behörden unbekannten Aufenthalts des Ausländers verknüpft. Gerade das kann aber nicht unbesehen angenommen werden, wenn der Ausländer sich lediglich passiv gegenüber den zuständigen Behörden wie im vorliegenden Fall geschehen zeigt. Dass die zuständige Ausländerbehörde bzw. in Amtshilfe die Polizeivollzugsbehörden nach der Erkenntnis, dass der Antragsteller der Vorladung zur Polizeidienststelle keine Folge leisten wird, gleichwohl noch dessen Meldeadresse aufgesucht haben, um sich davon zu vergewissern, dass sich der Antragsteller dort nicht aufhält, ist aus der Aktenlage nicht zu entnehmen. Damit lässt sich in der bloßen Passivität des Antragstellers, auf einer Polizeidienststelle vorzusprechen, kein Merkmal des „Flüchtigseins“ begründen. Da auch sonst kein Tatbestand ersichtlich ist, der die Antragsgegnerin berechtigt hätte, vor Ablauf der regulären Überstellungsfrist eine Verlängerung derselben gegenüber den spanischen Behörden zu erklären, ist die Zuständigkeit im Dublin-Verfahren mit Ablauf des 19. Oktober 2018 auf die Bundesrepublik Deutschland für den Antragsteller übergegangen. Auf die gleichwohl rechtswidrig erfolgte Abschiebung des Antragstellers nach Spanien kann sich die Antragsgegnerin nicht berufen.
Die so einmal begründete Zuständigkeit der Antragsgegnerin wirkt nunmehr anstelle der ansonsten bestandskräftigen Zuständigkeitsentscheidung aus dem Bescheid vom 24. April 2018 fort. Sie ist daher für das vorliegende Verfahren beachtlich. Aus diesem Grunde erweist sich die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 10. Januar 2020 voraussichtlich als rechtswidrig und wird im Hauptsacheverfahren überwiegend wahrscheinlich zusammen mit den weiteren Entscheidungen der Antragsgegnerin aufzuheben sein.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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