Europarecht

Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 1 K 16.50009

Datum:
19.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 5, § 27a, § 34a Abs. 1, § 74 Abs. 1, § 76 Abs. 1, § 77 Abs. 1, § 83b
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 2
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1, Art. 21, Art. 22 Abs. 7, Art. 23, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
VwGO VwGO § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Der Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat nach Ablauf der Sechsmonatsfrist beinhaltet nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO keinen fingierten Selbsteintritt, sondern stellt eine besondere, lediglich vom Ablauf der Frist abhängige Zuständigkeitsnorm dar. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (wie BayVGH BeckRS 2015, 46404). (red. LS Clemens Kurzidem)
Ein Asylbewerber kann sich auf den Übergang der Zuständigkeit wegen Ablaufs der Überstellungsfrist berufen, da er nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf besitzt, dass die nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik das Asylverfahren durchführt. Ihm kann die Aufnahmebereitschaft Italiens nicht entgegengehalten werden, wenn nicht feststeht, dass Italien ihn aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird (wie OVG Münster BeckRS 2015, 55243). (red. LS Clemens Kurzidem)

Gründe

Bayerisches Verwaltungsgericht München
Aktenzeichen: M 1 K 16.50009
Im Namen des Volkes
Urteil
vom 19. Juli 2016
1. Kammer
Sachgebiets-Nr. 730
Hauptpunkte:
Asylrecht;
Abschiebung nach Italien;
Ablauf der Überstellungsfrist
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
…, geb. …
– Kläger –
bevollmächtigt: Rechtsanwälte …
gegen
…, vertreten durch: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Außenstelle …
– Beklagte –
beteiligt: …, Vertreter des öffentlichen Interesses
wegen Vollzugs des Asylgesetzes (AsylG)
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 1. Kammer,
durch die Richterin am Verwaltungsgericht … als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung am 19. Juli 2016 folgendes Urteil:
I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Januar 2016 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger und reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 15. Juni 2015 in das Gebiet der Bundesrepublik ein. Er beantragte hier am 20. August 2015 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 20. August 2015 gab er an, bei seiner Reise von Nigeria in das Bundesgebiet habe er sich sechs Wochen in Italien aufgehalten, dort aber keinen Asylantrag gestellt. Er wolle nicht nach Italien überstellt werden. Ziel seiner Reise sei immer die Bundesrepublik gewesen. Nach einer Eurodac-Treffermeldung vom 21. August 2015 ist der Kläger illegal nach Italien eingereist. Das Übernahmeersuchen des Bundesamtes vom 15. Oktober 2015 nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) beantworteten die italienischen Behörden nicht.
Mit Bescheid vom 9. Januar 2016, zugestellt am 12. Januar 2016, wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und die Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 2). Außerdem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 3). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a „AsylVfG“ unzulässig, da Italien aufgrund der illegalen Einreise für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Das Bundesamt gehe davon aus, dass in Italien keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorlägen. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, die Befristung des Einreiseverbots auf § 11 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Am … Januar 2016 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag,
den Bescheid des Bundesamtes vom 9. Januar 2016 aufzuheben.
Das Bundesamt legte die Behördenakte vor, stellte aber keinen Antrag.
Die Ausländerbehörde des Landratsamtes … teile dem Gericht auf Anfrage mit E-Mail vom 5. Juli 2016 mit, der Kläger halte sich noch im Bundesgebiet auf. Das Bundesamt habe die Überstellungsfrist nicht verlängert.
Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss der Kammer vom 18. Juli 2016 zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Die Beteiligten haben auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm der Rechtsstreit durch Beschluss der Kammer vom 18. Juli 2016 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Entscheidung kann mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen lässt sich herleiten, dass er – sollte sich der Bescheid als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 5, 24, 31 AsylG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte.
Die Klage wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
2. Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag wirklich unzulässig war und die Abschiebung nach Italien angeordnet werden durfte, ist die Bundesrepublik jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B. v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50006 – juris Rn. 4 f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung des Klägers nach Italien nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO insbesondere mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat. Hier hat die Bundesrepublik am 15. Oktober 2015 ein Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gerichtet. Die italienischen Behörden haben nicht innerhalb der Zwei-Monats-Frist des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO eine Antwort erteilt, weshalb das Einverständnis mit dem Aufnahmegesuch fingiert wird. Wegen des Umstands, dass der Kläger in Italien keinen Asylantrag gestellt hat, sind die Vorschriften über das Aufnahmeverfahren (Art. 21 f. Dublin III-VO) und nicht die Vorschriften über das Wiederaufnahmeverfahren (Art. 23 ff. Dublin III-VO) einschlägig. Die maßgebliche Überstellungsfrist von sechs Monaten begann hier mit dem Eintritt der Fiktion am 16. Dezember 2015, 0.00 Uhr, und endete demnach 16. Juni 2016, 0.00 Uhr.
Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO lagen nicht vor. Die sechsmonatige Frist ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits abgelaufen.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
3. Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Er kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen. Er hat nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt. Dem Kläger kann auch nicht die Aufnahmebereitschaft Italiens entgegengehalten werden. Es steht nicht fest, dass Italien ihn aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird (OVG NRW, B. v. 11.11.2015 – 13 A 1692/15.A – juris Rn. 6).
Aus den auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines Drittlandes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (Dublin II-VO) ergangenen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2015 (1 C 32.14, 1 C 33.14, 1 C 34.14 – juris) ergibt sich nichts anderes, da sie auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar sind. Sie betreffen nicht den Ablauf der Sechsmonatsfrist aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, sondern den Ablauf der Frist aus Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO, der für die Stellung eines Aufnahmegesuchs an einen anderen Mitgliedstaat eine Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Art. 4 Absatz 2 Dublin II-VO vorsieht. Hinzu kommt, dass im zugrunde liegenden Fall der ersuchte Staat (Spanien) trotz Ablaufs der Frist aus Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO der Wiederaufnahme zugestimmt hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.


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