Europarecht

Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs

Aktenzeichen  W 10 K 19.50533

Datum:
26.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6049
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 161 Abs. 2 S. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1. Da die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
2. Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, so entscheidet das Gericht gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens durch Beschluss; der bisherige Sach- und Streitstand ist dabei zu berücksichtigten.
a) Billigem Ermessen entspricht es hier, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da sie ihren im sogenannten Dublin-Verfahren ergangenen Bescheid vom 29. Mai 2019 mit Schreiben vom 17. März 2020 infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist und des daraus folgenden Zuständigkeitsübergangs auf die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO aufgehoben hat. Im Rahmen der Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO darf auch (maßgeblich) berücksichtigt werden, ob ein Beteiligter das erledigende Ereignis aus eigenem Willensentschluss herbeigeführt hat (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 161 Rn. 18 m.w.N.). Dies ist der Fall, wenn die Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt in der Erkenntnis zurückgenommen hat, dass er rechtswidrig war. Allerdings löst nicht jedes Nachgeben diese Kostenfolge aus, etwa dann nicht, wenn die Klage oder ein Rechtsmittel unzulässig war oder die Behörde im Rahmen einer Ermessensentscheidung gehandelt hat. Beruht hingegen das Nachgeben bei gleichgebliebener Sach- und Rechtslage allein auf einer geänderten Rechtsauffassung der Behörde, so ist es billig, den Kläger von den Kosten freizustellen (vgl. zum Ganzen Schübel-Pfister, a.a.O., m.w.N.). Im vorliegenden Fall hat die Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid aus Gründen aufgehoben, welche in ihrer Risiko- und Verantwortungssphäre liegen. Denn der Grund für die Aufhebung des Bescheides war der Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Folge des Zuständigkeitsübergangs auf die Beklagte kraft Gesetzes nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO (vgl. EuGH, U.v. 25.10.2017 – Shiri, C-201/16 – juris).
b) Die Ursache für den Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs liegt auch in der Risiko- und Verantwortungssphäre der Beklagten, weil es dieser nicht gelungen ist, den Kläger innerhalb der Überstellungsfrist in den zuständigen Mitgliedstaat – hier: Italien – zu überstellen. Die Abschiebungsanordnung war vollziehbar, nachdem das Gericht mit Beschluss vom 12. August 2019 den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (Az. W 10 S 19.50534) sowie mit Beschluss vom 23. Januar 2020 auch den Antrag auf Abänderung des ursprünglichen Beschlusses gemäß § 80 Abs. 7 VwGO (Az. W 10 S 20.50036) abgelehnt hat. Unerheblich ist ferner, dass die Überstellung selbst, d.h. der Vollzug der Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde, ggf. mit Unterstützung der Bundespolizei obliegt. Denn im Dublin-Verfahren ist die Aufgabenverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde dergestalt geregelt, dass die Ausländerbehörde lediglich als gleichsam „verlängerter Arm“ des Bundesamtes ohne eigene Entscheidungsbefugnisse über das „ob“ der Abschiebung tätig wird. Das Scheitern der fristgemäßen Überstellung in den originär zuständigen Mitgliedstaat ist deshalb der Beklagten als Rechtsträgerin des Bundesamtes zuzurechnen, auch wenn die Überstellung von der Ausländerbehörde zu vollziehen ist (im Ergebnis anderer Ansicht: VG München, B.v. 11.7.2014 – M 21 K 14.30481 – juris; VG Göttingen, B.v. 23.12.2013 – 2 A 778/13 – juris). Nach ständiger Rechtsprechung bleibt das Bundesamt für den Vollzug der Abschiebungsanordnung verantwortlich, denn es hat, wie aus § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG folgt, diese während des gesamten Verfahrens unter Kontrolle zu halten und damit auch stets zu prüfen, ob eine Abschiebung durchgeführt werden kann oder ob dieser Abschiebungshindernisse entgegenstehen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris; BayVGH, B.v. 26.7.2019 – 10 CE 19.1304 – juris Rn. 3; B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 13.2.2019 – 11 S 401/19 – juris Rn. 8 jeweils m.w.N.). Daraus folgt, dass ein Scheitern der fristgemäßen Überstellung zu Lasten der Beklagten geht.
c) Der Kläger hat den Ablauf der Überstellungsfrist auch nicht durch Flucht, Untertauchen oder dergleichen zu vertreten. Insbesondere führte der Umstand, dass der Kläger sich bei dem Überstellungsversuch geweigert hat, das Flugzeug zu besteigen, nicht zur Fristverlängerung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO. Nach dieser Vorschrift kann die Überstellungsfrist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Hier lag jedoch keiner der beiden Verlängerungsgründe vor. Aus der Abschlussmeldung der Bundespolizeiinspektion IV, Flughafen Frankfurt am Main, vom 24. Januar 2020 (vgl. Gerichtsakte) geht hervor, dass der Kläger am 24. Januar 2020 um 12:40 Uhr unbegleitet nach Mailand per Flugzeug überstellt werden sollte. Als er zum Flug gebracht werden sollte, zeigte er sich flugunwillig und weigerte sich, die Diensträume zu verlassen. Er gab an, auf keinen Fall nach Italien zu fliegen. Aufgrund der auch nach entsprechender Belehrung beibehaltenen Verweigerungshaltung des Klägers wurde die Abschiebung schließlich abgebrochen.
Ausgehend von der Legaldefinition der „Fluchtgefahr“ in Art. 2 Buchst. n Dublin III-VO ist „flüchtig“ i.S. des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ein Asylantragsteller, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil ein Asylantragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 70; BayVGH, U.v. 12.2.2020 – 14 B 19.50010 – juris Rn. 19; B.v. 7.1.2020 – 13a ZB 19.50042 – juris Rn. 6; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 123). Ein „Sichentziehen“ setzt sonach ein objektives Element, d.h. das Nichterreichen des Asylantragstellers für eine gewisse Dauer, sowie ein subjektives bzw. voluntatives Element, nämlich das „Sich-entziehen-wollen“, voraus (vgl. VGH BW, a.a.O.). Gemessen daran fehlt es schon an einem Nichterreichen und damit an dem erforderlichen objektiven Element, wenn der betreffende Asylantragsteller sich im Gewahrsam der die Abschiebung durchführenden Bundespolizei befindet, sich jedoch weigert, an der Abschiebung durch Besteigen des Flugzeugs aktiv mitzuwirken. Des Weiteren fehlt insoweit auch das subjektive Element des bewussten Vereitelns der Überstellung gerade durch das „Flüchtigsein“. Auch für eine analoge Anwendung der Vorschrift ist kein Raum. Dies ist schon aus systematischen Gründen ausgeschlossen, weil es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 60), welche eng auszulegen und grundsätzlich keiner Analogie fähig ist. Des Weiteren spricht auch der Sinn und Zweck der Vorschrift gegen eine analoge Anwendung. Denn durch die Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO soll sichergestellt werden, dass den Behörden des überstellenden Mitgliedstaates der volle Zeitraum von sechs Monaten für die Vorbereitung, Abstimmung und Durchführung der Überstellung nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zur Verfügung steht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 59; BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11). Der Asylbewerber soll es somit nicht in der Hand haben, die Überstellung durch untertauchen oder dergleichen zu vereiteln (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 61 ff.; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 123 f.). Diese Überlegung greift aber nur, wenn die mitgliedstaatlichen Behörden nicht in der Lage sind, den Betroffenen zu überstellen, weil dieser sich ihrem Zugriff entzieht. Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, wenn die nationale Behörde – gegebenenfalls aus moralisch zu achtenden Motiven, wie sie beim sog. Kirchenasyl angenommen werden – von einer Durchsetzung der Ausreisepflicht absieht (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2020 – 14 B 19.50010 – juris Rn. 21; B.v. 7.1.2020 – 13a ZB 19.50042 – juris Rn. 7; B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011 – juris; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 123). Deshalb liegt es allein im Verantwortungsbereich der Beklagten, wenn wie hier eine bereits eingeleitete Abschiebung aufgrund des Widerstandes des betroffenen Asylantragstellers – der überdies lediglich „passiv“ Widerstand durch schlichte Verweigerung leistet – abgebrochen wird, anstatt diese mit den Mitteln des Verwaltungszwanges durchzusetzen.
3. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylG.


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