Familienrecht

Nichtannahmebeschluss: Mangelnde Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG) bei unterlassener Anhörungsrüge (§ 33a StPO) – Mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei Nichtberücksichtigung von Parteivorbringen durch Gericht – keine Übertragung oder Delegation  der Entscheidung bzgl der Aussetzung einer Maßregel auf Dritte, die keiner staatlichen Aufsicht unterworfen sind

Aktenzeichen  2 BvR 68/11

Datum:
14.12.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20111214.2bvr006811
Normen:
Art 103 Abs 1 GG
Art 104 Abs 1 GG
Art 2 Abs 2 GG
§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG
§ 63 StGB
§ 33a StPO
§ 454a Abs 2 S 1 StPO
§ 463 Abs 1 StPO
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG München, 9. Dezember 2010, Az: 1 Ws 1232 1233/10, Beschlussvorgehend LG Traunstein, 3. September 2010, Az: StVK 991/10, Beschluss

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung einer Aussetzung der Unterbringung im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen
Krankenhaus nach § 463 Abs. 1 in Verbindung mit § 454a Abs. 2 Satz 1 StPO.

2
1. Der Beschwerdeführer wurde wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, die zur Bewährung
ausgesetzt wurde. Aufgrund einer weiteren Tatserie wurde er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt.
Mit Beschluss vom 28. Januar 2010 setzte das Landgericht Regensburg die Vollstreckung der Reststrafe sowie die Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus ab dem 15. September 2010 unter anderem unter der Voraussetzung aus, dass der Beschwerdeführer
in ein näher bezeichnetes Männerwohnheim einziehe.

3
a) Mit Beschluss vom 3. September 2010 hat das Landgericht Traunstein diesen Beschluss nach § 463 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 454a Abs. 2 Satz 1 StPO aufgehoben, weil die Aufnahme des Beschwerdeführers von dem in Aussicht genommenen Männerwohnheim
mit der Begründung verweigert worden war, dass der Beschwerdeführer die Tat nicht eingestehe, er sich nicht schuldbewusst
zeige und die für eine Aufnahme unverzichtbare Voraussetzung einer abgeschlossenen Therapie nicht vorliege. Damit fehle es
an einem geeigneten sozialen Empfangsraum als Voraussetzung dafür, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs
keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.

4
b) In seiner sofortigen Beschwerde hat der Beschwerdeführer die fehlende Verhältnismäßigkeit der fortgesetzten Unterbringung
gerügt und sich insbesondere gegen die Weisung im Bewährungsbeschluss gewandt, wonach er in das die Aufnahme verweigernde
Männerwohnheim einzuziehen habe. Die Erfüllung der Weisung hänge in unzulässiger Weise allein vom “guten Willen Dritter” ab.

5
c) Mit Beschluss vom 9. Dezember 2010 hat das Oberlandesgericht München die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen.
Die Ausführungen des Landgerichts hielten den gesetzlichen Anforderungen vollumfänglich stand. Es sei absehbar, dass bei einem
von Anfang an fehlenden sozialen Empfangsraum in einem aufnahmebereiten Männerwohnheim bereits die Aussetzung der Unterbringung
zur Bewährung nicht erfolgt wäre.

6
2. Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen diese Entscheidungen und rügt insbesondere den Beschluss des Oberlandesgerichts
München als willkürlich. Das Oberlandesgericht München habe sich mit verschiedenen Aspekten des Maßregelvollzugs in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht auseinandergesetzt und überdies verkannt, dass die bedingte Aussetzung des
Maßregelvollzugs zur Bewährung gerade keinen vollumfänglichen Erfolg des bisherigen Vollzugs verlange.

7
3. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf
Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 ). Sie ist unzulässig, weil der Rechtsweg nicht erschöpft ist (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

8
a) Vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde muss im Regelfall der Rechtsweg erschöpft werden (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
Dazu gehört, soweit sie statthaft ist, auch die Anhörungsrüge (vgl. BVerfGE 122, 190 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 – 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 2).

9
b) Für die Erhebung der Anhörungsrüge ist es unerheblich, ob der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches
Gehör ausdrücklich und unter Anführung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Denn die Obliegenheit, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde
den Rechtsweg zu erschöpfen, erfasst auch die Erhebung einer statthaften und nicht von vornherein völlig aussichtslosen Anhörungsrüge,
unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer einen Gehörsverstoß geltend machen will. Entscheidend ist allein, ob bei objektiver
Betrachtung eine Korrektur der von ihm gerügten sonstigen Grundrechtsverstöße durch die Erhebung einer Anhörungsrüge möglich
gewesen wäre (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2011 – 1 BvR 1468/11 -, juris, Rn. 6; Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 – 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 3).

10
c) Zwar verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG die Gerichte nicht, sich mit jeglichem tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen eines
Verfahrensbeteiligten auseinanderzusetzen (vgl. BVerfGE 5, 22 ; 96, 205 ; stRspr). Gleichwohl können besondere
Umstände darauf hindeuten, dass ein Gehörsverstoß durch eine nicht hinreichende Erwägung entscheidungserheblichen Vorbringens
eingetreten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 2011 – 2 BvR 2374/10 -, juris, Rn.
4; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2008 – 2 BvR 610/08 -, juris, Rn. 6; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Oktober 2011 – 2 BvR 2407/10 -, juris, Rn. 5).

11
d) Vorliegend wäre eine Anhörungsrüge (§ 33a StPO) gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts München statthaft und nicht
von vornherein aussichtslos. In der Begründung seiner sofortigen Beschwerde hat der Beschwerdeführer unter anderem angeführt,
dass die Aussetzung einer Unterbringung im Maßregelvollzug zur Bewährung nicht mit einer Auflage oder Weisung versehen werden
darf, deren Einhaltung ausschließlich vom Verhalten Dritter abhängig ist. Das Oberlandesgericht hat sich weder mit diesem
Einwand im Hinblick auf bestehende Alternativen zur Schaffung eines geordneten und strukturierten sozialen Empfangsraums auseinandergesetzt
noch die Zulässigkeit einer solchen Bestimmung im Bewährungsbeschluss geprüft.

12
e) Tatsächlich begegnet eine ausschließlich vom Verhalten Dritter abhängige Voraussetzung für eine Begünstigung, die einem
der hoheitlichen Freiheitsentziehung unterliegenden Betroffenen gewährt werden kann beziehungsweise soll, verfassungsrechtlichen
Bedenken (vgl. BVerfGK 13, 137 ). Da der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung
mit Art. 104 Abs. 1 GG nur durch die Gerichte eingeschränkt werden kann, kommt eine Delegation der Entscheidung, insbesondere
an nicht der staatlichen Aufsicht unterworfene Dritte, nicht in Betracht. Den Gerichten ist es zwar nicht verwehrt, sich bei
der Ausführung und Kontrolle einer das Freiheitsgrundrecht beschränkenden Entscheidung der Mithilfe privater Dritter, etwa
der Einholung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage der eigenen Entscheidung (vgl. BVerfGE 70, 297 ; 109,
133 ; 117, 71 ), zu bedienen. Sie dürfen derartige Entscheidungen jedoch nicht von ihnen nicht steuer- oder kontrollierbaren
Dritten überantworten oder allein von deren Urteil abhängig machen (vgl. BVerfGE 70, 297 ; 109, 133 ; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2011 – 2 BvR 942/11 – juris, Rn. 25; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats
vom 27. Juni 2011 – 2 BvR 2135/10 -, juris, Rn. 16; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 – 2 BvR 77/97
-, NJW 1998, S. 2202 ).

13
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Bedeutung und Tragweite des in den Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 GG verbürgten
Freiheitsgrundrechts im vorliegenden Fall verkannt worden sind, weil die angegriffenen Entscheidungen maßgeblich auf die Weigerung
des Männerwohnheims abgestellt haben, den Beschwerdeführer aufzunehmen, und auf das hieraus folgende Fehlen eines sozialen
Empfangsraums. Alternativen erwogen haben sie nicht.

14
f) Da das Oberlandesgericht München keine Ausführungen zu dieser Fragestellung gemacht hat, obwohl der Beschwerdeführer dazu
Anstoß gegeben hatte, liegt die Annahme nahe, dass es das diesbezügliche Beschwerdevorbringen entweder übergangen oder zumindest
nicht hinreichend gewürdigt hat.

15
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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