Familienrecht

Zeitpunkt der nachträglichen Kenntnisnahme durch die Familienkasse – Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides

Aktenzeichen  7 K 1943/19

Datum:
5.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24043
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
EStG § 70 Abs. 2
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 367 Abs. 2

 

Leitsatz

Maßgeblicher Zeitpunkt, ob der Familienkasse entscheidungserhebliche Tatsachen nachträglich i.S. des § 173 AO bekannt geworden sind, ist der Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides. Das gilt auch, wenn ein verspätet erhobener Einspruch als unzulässig zurückgewiesen worden ist.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.
Die Familienkasse hat zu Recht die Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides vom 14. Februar 2019 über die Aufhebung und Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum April 2015 bis einschließlich Oktober 2018 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO abgelehnt.
1. Steuerbescheide sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Die Änderungsvorschrift ist auch im Verfahren über die Aufhebung oder Änderung von Bescheiden über die Festsetzung von Kindergeld anwendbar, da dieses nach § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes als Steuervergütung gezahlt wird. Auf die Festsetzung einer Steuervergütung sind gemäß § 155 Abs. 4 AO die Vorschriften über die Steuerfestsetzung – somit auch § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO – sinngemäß anzuwenden (BFH-Urteil vom 23. November 2001 VI R 125/00, BStBl II 2002, 296).
2. Im Streitfall kommt eine Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 2019 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO trotz nachträglich bekannt gewordener Tatsachen und Beweismittel nicht in Betracht, da den Kläger ein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen und Beweismittel erst nachträglich bekannt geworden sind.
a) Anders als die Familienkasse im Verwaltungsverfahren angenommen hat, liegen Tatsachen und Beweismittel vor, die im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nachträglich bekannt geworden sind.
aa) Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (vgl. BFH-Urteil vom 18. August 2005 IV R 9/04, BStBl II 2006, 581 m.w.N.). Der Umstand, dass das Kind S im Zeitraum April 2015 bis einschließlich Oktober 2018 (noch) studiert hat, ist somit eine Tatsache i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. Bei der am 23. August 2018 ausgestellten Immatrikulationsbescheinigung der Universität, handelt es sich um ein Beweismittel i.S. des § 173 Abs. 1 AO, da die Bescheinigung geeignet ist, nachzuweisen, dass das Kind zum Studium eingeschrieben war.
bb) Dabei handelt es sich auch um Tatsachen und Beweismittel, die i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nachträglich bekannt geworden sind.
(1) Für das nachträgliche Bekanntwerden kommt es nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen bzw. Kindergeldberechtigten an, sondern auf die Kenntnis der zuständigen Behörde.
Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen und Beweismittel sind solche, die zu dem für eine Aufhebung oder Änderung nach § 173 AO maßgebenden Zeitpunkt bereits vorhanden, aber der zuständigen Behörde noch unbekannt waren. Tatsachen sind jedenfalls dann nachträglich bekannt geworden, wenn sie die Familienkasse bei Erlass des Bescheides – auf den sich der Änderungsantrag nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bezieht – noch nicht kannte. Schließt sich im Anschluss an das Ergehen des Bescheides ein Einspruchsverfahren an, so muss die Familienkasse die Sache in vollem Umfang erneut überprüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Folglich ist dann der maßgebende Zeitpunkt dafür, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden ist, grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung (vgl. hierzu von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 173 Rn. 216).
(2) Im Streitfall ist die Tatsache, dass das Kind S ihr Studium weiter fortgeführt hat, ebenso wie die Immatrikulationsbescheinigung vom 23. August 2018, der Familienkasse erst nachträglich bekannt geworden, da sie erst nach Ergehen des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 14. Februar 2019 aufgrund des Fax bzw. Schreibens des Klägers vom 25. März 2019 hiervon Kenntnis erlangt hat. Zwar hat sich im Anschluss an das Ergehen des Bescheides noch ein Einspruchsverfahren angeschlossen. Der (unstreitig) verspätet erhobene Einspruch des Klägers wurde jedoch mit (bestandskräftiger) Einspruchsentscheidung vom 17. April 2019 als unzulässig zurückgewiesen. Da demnach – anders als bei einem zulässigen Einspruch – eine Überprüfung in der Sache nicht mehr stattgefunden hat, ist im Streitfall der Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung nicht der maßgebliche Zeitpunkt für ein nachträgliches Bekanntwerden i.S. des § 173 AO, sondern der Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 14. Februar 2019. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familienkasse noch keine Kenntnis von der Fortführung des Studiums durch S bzw. von der Immatrikulationsbescheinigung.
b) Im Streitfall trifft den Kläger jedoch ein grobes Verschulden daran, dass die Tatsachen und das Beweismittel der Familienkasse erst nachträglich bekannt geworden sind.
aa) Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO umfasst Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237 m.w.N.).
bb) Hiervon ausgehend ist das Verhalten des Klägers bis zum Ergehen des Aufhebungsbescheides nicht als grob schuldhaft zu werten.
(1) Zwar handelt ein Kindergeldberechtigter regelmäßig grob schuldhaft i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er trotz mehrfacher Aufforderung durch die Familienkasse offenkundig anspruchserhebliche Tatsachen nicht mitteilt oder nachweist. Dies gilt umso mehr, wenn ausdrückliche Nachfragen einer Familienkasse nicht beantwortet werden (BFH-Urteil vom 26. November 2014 XI R 41/13, BFH/NV 2015, 491).
(2) Im Streitfall ist jedoch zu berücksichtigten, dass der Kläger auf die Aufforderung der Familienkasse vom 22. Januar 2018, Nachweise für ein Fortdauern des Studiums seiner Tochter vorzulegen, reagiert hat. Mit E-Mail vom 25. Januar 2019, in der er Bezug auf das Schreiben der Familienkasse vom 22. Januar 2018 nahm, wollte er die Immatrikulationsbescheinigung seiner Tochter an die Familienkasse übersenden und seiner Mitwirkungspflicht nachkommen. Diese erreichte jedoch die Familienkasse nicht, da er aufgrund eines Schreibfehlers – Einfügung des Buchstabens “r“ – die E-Mail-Adresse der Familienkasse fehlerhaft eingab. Zwar lag es im Verantwortungsbereich des Klägers, bei elektronischer Übermittlung von Unterlagen, die E-Mail auch an die richtige E-Mail-Adresse des Empfängers zu versenden und darauf zu achten, dass keine Schreibfehler vorkommen. Der Schreibfehler des Klägers, der die die Ursache dafür war, dass die E-Mail vom 25. Januar 2019 der Familienkasse nicht zuging, ist für sich genommen jedoch nicht als grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu werten. Es handelt sich um einen Schreibfehler, der ohne weiteres vorkommen kann. Auch bei einer Prüfung der E-Mail-Adresse auf Richtigkeit vor Versendung ist ein derartiger Fehler – auch im Hinblick auf die Länge der E-Mail-Adresse – nicht ohne weiteres bzw. auf den ersten Blick zu erkennen. Zudem hat der Kläger glaubhaft vorgetragen, dass nach Absendung der E-Mail keine Fehlermeldung erfolgte. Dies entspricht auch den Erfahrungen des Gerichts im Hinblick auf falsch adressierte E-Mails an die Familienkasse.
cc) Ein grobes Verschulden des Klägers liegt jedoch darin, dass er es versäumt hat, der Familienkasse, die Tatsache, dass das Studium von S noch andauerte, im Rahmen eines fristgerechten Einspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 14. Februar 2019 zu unterbreiten und nachzuweisen.
(1) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist für die Prüfung, ob dem Steuerpflichtigen der Vorwurf eines grob schuldhaften Verhaltens am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln gemacht werden kann, nicht nur der Zeitraum bis zum Erlass des Bescheides, sondern auch der Zeitraum bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft einzubeziehen (vgl. grundlegend BFH-Urteil vom 25. November 1983 VI R 8/82, BStBl II 1984, 256; nachgehend z.B. BFH-Urteile vom 4. Februar 1998 XI R 47/97, BFH/NV 1998, 682; vom 16. September 2004 IV R 62/02, BStBl II 2005, 75; vom 22. Mai 2006 VI R 17/05, BStBl II 2006, 806, m.w.N.). Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO kann auch darin bestehen, dass es der Steuerpflichtige unterlässt, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von der Behörde bisher nicht bekannten Tatsachen hätte aufdrängen müssen.
(2) Zwar wandte sich der Kläger im Streitfall nach Ergehen des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids vom 14. Februar 2019 mit einer weiteren E-Mail an die Familienkasse. Mit E-Mail vom 18. Februar 2019 wollte er die Immatrikulationsbescheinigung erneut an die Familienkasse übersenden. Nach eigenen Angaben versandte er die erste E-Mail vom 25. Januar 2019 erneut. In der Folge erreichte auch diese E-Mail – die innerhalb der Einspruchsfrist des Bescheids vom 14. Februar 2019 versendet wurde und bei Zugang als Einspruch gegen den Bescheid vom 14. Februar 2019 hätte gewertet werden können – aufgrund der fehlerhaften Empfängeradresse die Familienkasse nicht. Dass dem Kläger der Fehler der Verwendung einer falsch geschriebenen E-Mail-Adresse ein zweites Mal unterlaufen ist, stellt ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dar. Der Kläger hat vorgetragen, dass er mehrfach bei der Familienkasse angerufen und die Antwort erhalten habe, dass dort nichts eingegangen sei und er die Unterlagen noch einmal schicken solle (vgl. hierzu die E-Mail des Klägers vom 30. April 2019). Nachdem seine erste E-Mail vom 25. Januar 2019 die Familienkasse offenkundig nicht erreicht hatte, musste sich dem Kläger eine Prüfung der von ihm verwendeten E-Mail-Adresse vor der erneuten Versendung aufdrängen. Bei gebotener Sorgfalt – Prüfung der E-Mail-Adresse Zeichen für Zeichen bzw. Buchstabe für Buchstabe – hätte er vor erneuter Versendung der E-Mail vom 25. Januar 2019 erkennen können, dass Grund dafür, dass die erste E-Mail der Familienkasse nicht zugegangen war, die falsch geschriebene E-Mail-Adresse war. Damit hat er die ihm zumutbare Sorgfalt in einem ungewöhnlichen Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).


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