Handels- und Gesellschaftsrecht

Anfechtung eines Beschlusses der außerordentlichen Hauptversammlung einer AG

Aktenzeichen  5 HK O 12082/18

Datum:
19.12.2019
Fundstelle:
AG – 2020, 448
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AktG § 53a, § 131 Abs. 1, § 245 Nr. 1, § 246 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ein Widerspruch iSd § 245 Nr. 1 AktG muss nicht begründet werden. (Rn. 17)
2. Der Beschluss über ein Entsenderecht einer juristischen Person in den Aufsichtsrat ist dann nicht hinreichend bestimmt und damit anfechtbar, wenn es mehrere Gesellschaften mit derselben Firma gibt und weder der Geschäftssitz noch eine HRB-Nummer genannt werden, aus der sich eindeutig die entsendeberechtigte Gesellschaft ergibt. (Rn. 21 – 23)
3. Ein Beschluss über das Entsenderecht in den Aufsichtsrat verletzt § 53a AktG iVm der Treuepflicht der Aktionäre, wenn das Entsenderecht unabhängig vom Umfang des Aktienanteils besteht und auch bei einem verschwindend kleinen Anteile am Grundkapital der Gesellschaft ausgeübt werden kann. (Rn. 30 – 31)

Tenor

I. Der in der außerordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 27.7.2018 unter TOP 1 gefasste Beschluss über die Änderung der Satzung in § 8 (2) und über die Schaffung eines Entsendungsrechts für ein Aufsichtsratsmitglied und Änderung und Neufassung der Satzung in § 8 (6) der wie nachfolgt angekündigt und entsprechend gefasst worden ist, wird im Umfang der Schaffung eines Entsendungsrechts für ein Aufsichtsratsmitglied einschließlich der Änderung der Satzung in § 8 (6) für nichtig erklärt:
„§ 8 (6) der Satzung wird in die Satzung neu eingefügt und wie folgt neu gefasst:
‚Die R… GmbH hat, solange und sobald sie Aktionärin der Gesellschaft ist, das nicht übertragbare Recht, eines der von den Anteilseignern zu wählenden Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat der Gesellschaft zu entsenden. Das Entsendungsrecht kann jederzeit ausgeübt werden. Das Entsendungsrecht kann der Gesellschaft gegenüber durch eine durch die R… GmbH unterzeichnete Erklärung an die Gesellschaft, aus der sich das zu entsendende Mitglied des Aufsichtsrats ergibt, ausgeübt werden. Die R… GmbH kann durch schriftliche Erklärung auf ihr Entsendungsrecht verzichten. Dieser Abschnitt der Satzung kann nur mit einer Zustimmungsquote von 90 % der stimmberechtigen Aktionäre in einer Hauptversammlung, wobei 50 % des stimmberechtigen Grundkapitals anwesend sein müssen, geändert werden. Eine Satzungsänderung in § 8 Abs. 6 der Satzung ist nur mit Zustimmung der R… GmbH wirksam. Die Entsendung des Aufsichtsratsmitglieds ist nicht an die Zustimmung der Hauptversammlung und des Aufsichtsrats gebunden. Eine Abberufung des entsandten Aufsichtsratsmitglieds ist durch die Hauptversammlung nicht möglich.‘“
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 105 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
IV. Der Streitwert wird auf € 75.000,- festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klage ist zulässig und begründet, weil der Beschluss der Hauptversammlung aufgrund der rechtzeitig erhobenen Anfechtungsklage der anfechtungsbefugten Kläger für nichtig erklärt werden muss.
1. Die Kläger sind anfechtungsbefugt im Sinne des § 245 Nr. 1 AktG. Nach dieser Vorschrift ist zur Anfechtung befugt jeder in der Hauptversammlung erschienene Aktionär, wenn er die Aktien schon vor der Bekanntmachung der Tagesordnung erworben hatte und gegen den Beschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. Diese Voraussetzungen sind vorliegend zu bejahen.
a. Aus den von den Klägern als Anlagen K 10 bis K 12 vorgelegten Bescheinigungen der … sowie der … jeweils vom 23.11.2018 ergibt sich ohne jeden Zweifel, dass alle Kläger bereits zum Zeitpunkt der Bekanntmachung der Tagesordnung am 18.6.2018 Aktionäre der Beklagten waren.
b. Sie haben an der Hauptversammlung vertreten durch Frau S… teilgenommen; diese hat wirksam Widerspruch zur Niederschrift erklärt, auch wenn sie den Widerspruch nicht begründete. In der Literatur wird zum Teil die Auffassung vertreten, der Widerspruch müsse bei behebbaren Mängeln begründet werden (vgl. Noack/Zetzsche in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl., § 245 Rdn. 79 und § 130 Rdn. 254), Dieser Auffassung kann allerdings bereits im Ansatz nicht gefolgt werden. Die Kammer geht in Übereinstimmung mit der h.M. in Rechtsprechung und Literatur davon aus, es gebe kein Begründungserfordernis für den Widerspruch (so LG Dortmund AG 1977, 109, 110; LG München I AG 2009, 482, 383; Hüffer/Schäfer in: Münchener Kommentar zum AktG, 4. Aufl., § 245 Rdn. 38; Götz in: Bürgers/Körber, AktG, 4. Aufl., § 245 Rdn. 11; Dörr in: Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl., § 245 Rdn. 25; Heidel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl., § 245 Rdn. 10; Englisch in: Hölters, AktG, 3. Aufl., § 245 Rdn. 12; E. Vetter DB 2006, 2278, 2279). Namentlich der Normzweck des Widerspruchserfordernisses verlangt keine Begründung. Dieses beruht auf dem allgemeinen Prinzip des Verbots widersprüchlichen Verhaltens – der in der Hauptversammlung erschienene Aktionär soll den Beschluss einer Hauptversammlung nur dann zu Fall bringen können, wenn er zuvor deutlich zum Ausdruck gebracht hat, er ziehe die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses in Zweifel. Zum anderen aber enthält er auch eine Informations- oder Warnfunktion an die Gesellschaft und Mitaktionäre, der Widersprechende habe einen Inhalts- oder Verfahrensfehler erkannt (vgl. OLG Jena NZG 2006, 467, 469 = AG 2006, 417, 419 = ZIP 2006, 729, 731 = DB 2006, 2281, 2284; Hüffer/Schäfer in: Münchner Kommentar zum AktG, 4. Aufl., § 245 Rdn. 36; Fleischer in: Festschrift für Stilz, 2014, S. 143, 145). Diesem gesetzgeberischen Motiv wird auch dann Genüge getan, wenn ein Begründungserfordernis nicht verlangt wird. Namentlich hat der Vorstand der Gesellschaft dann die hinreichend deutliche Information, es könne zu einer Anfechtungsklage kommen; dann aber kann von einem Aktionär nicht verlangt werden, er müsse den Widerspruch begründen. Hierfür spricht letztlich auch die von der ganz überwiegenden Meinung vertretene Auffassung, ein Widerspruch könne zulässigerweise bereits vor der Beschlussfassung erklärt werden (vgl. BGH NZG 2007, 907, 908 = AG 2007, 863, 864 = ZIP 2007, 2122, 2124 = WM 2007, 2110, 2111 = DB 2007, 2472, 2473 = BB 2007, 2537, 2538 = NJW-RR 2008, 289, 290; Drescher in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht 4. Aufl., § 245 Rdn. 7; Heidel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, a.a.O., § 245 Rdn. 12; Englisch in Hölters, AktG, a.a.O., § 245 Rdn. 15; Hüffer/Schäfer in: Münchener Kommentar zum AktG, 4. Aufl., § 245 Rdn. 40; Dörr in: Spindler/Stilz, AktG, a.a.O., § 245 Rdn. 27) – also zu einem Zeitpunkt, zu dem bestimmte Rechtsmängel wie beispielsweise ein Verstoß gegen die Auskunftspflicht aus § 131 Abs. 1 AktG oder die fehlerhaft unterbliebene Berücksichtigung von Stimmrechtsverboten noch gar nicht bekannt sein können. Dann aber wäre es mit dem Gedanken der Rechtssicherheit nicht vereinbar, danach zu differenzieren, ob der Mangel schon vor der Beschlussfassung hätte begründet werden können oder nicht.
2. Die Anfechtungsklage wurde fristgerecht innerhalb der Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG erhoben. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die Erhebung der Klage erfolge aufgrund von § 253 Abs. 1 ZPO erst mit ihrer Zustellung, wobei die Zustellung angesichts der Regelung in § 246 Abs. 2 Satz 2 AktG an den Vorstand und den Aufsichtsrat erfolgen muss. Diese Vorgaben wurden vorliegend beachtet; Verzögerungen bei der Zustellung an den Aufsichtsrat stehen der Einhaltung der Monatsfrist aufgrund der Regelung in § 167 ZPO nicht entgegen.
a. Die Zustellung an den Vorstand erfolgte wirksam, indem die Klage an die bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei S… & Kollegen aufgrund von § 172 ZPO zugestellt wurde. Nach der Vorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat in einem anhängigen Verfahren die Zustellung an den für den Rechtszug bestellten Prozessbevollmächtigten zu erfolgen. Vorliegend hatte die Rechtsanwaltskanzlei S… & Kollegen mit Schriftsatz vom 29.8.2018 unter Beifügung einer auf sie erteilten Prozessvollmacht angefragt, ob Klagen gegen den Beschluss der Hauptversammlung eingegangen sind. Diese Vollmacht bezog sich auch auf die Prozessführung und nicht lediglich auf die Anfrage nach dem Eingang von Anfechtungsklagen, nachdem die entsprechenden Passagen auf der Vollmachtsurkunde nicht durchgestrichen waren. Angesichts dessen kann die Erklärung nur so verstanden werden, dass der Vorstand der Beklagten dieser Anwaltskanzlei eine entsprechende Vollmacht für das anhängige Verfahren erteilt hat. Die erteilte Vollmacht zur Prozessführung ist im Anwaltsprozess eine Generalvollmacht mit gesetzlich durch §§ 81, 83 Abs. 1 ZPO bestimmten Umfang (vgl. Althammer in: Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 81 Rdn. 1). Dann aber ist aufgrund von § 172 ZPO ausschließlich an den Prozessbevollmächtigten zuzustellen. Zustellungen an die Partei – mithin hier an den Vorstand der Beklagten -, die unter Verstoß gegen § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfolgen sind unwirksam. Prozessbevollmächtigter im Sinne des § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist diejenige Person, der die Partei eine Prozessvollmacht erteilt hat. Die Bestellung zum Prozessbevollmächtigten geschieht dadurch, dass dem Gericht eine Bevollmächtigung ausdrücklich oder schlüssig zur Kenntnis gebracht wird. In diesem Fall ist der Prozessbevollmächtigte allein berufener Adressat der Zustellungen, die nach § 81 ZPO zu den Rechtstreit betreffenden Handlungen ermächtigt. Zustellungen an die Partei selbst sind dann wirkungslos und können auch Fristen nicht in Gang setzen (vgl. BVerfG NJW 2017, 318, 319 BGH NJW-RR 2007, 356 = WuM 2007, 82 = FamRZ 2007, 390; WM 2019, 2021 = DB 2019, 2459, 2461; Häublein in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl., § 172 Rdn. 20; Wittschier in: Musielak/Voit, 16. Aufl., § 172 Rdn. 4). Daher konnte und musste an den vom Vorstand mandatierten Prozessbevollmächtigten, der sich im Laufe des Verfahrens dann auch für die Gesellschaft bestellte, zugestellt werden.
b. Die Zustellung an den Aufsichtsrat erfolgte zwar erst am 5.4.2019, wobei die Zustellung wirksam war, weil aufgrund der Regelung in § 170 Abs. 3 ZPO die Zustellung an ein Aufsichtsratsmitglied genügt. Der Umstand, dass die Zustellung erst etwas mehr als sechs Monate nach dem Eingang der Klage beim Landgericht München I am 29.8.2019 erfolgte, steht der Wirkung der am 17.9.2018 endenden Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG nicht entgegen, weil die Zustellung „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO vorgenommen wurde. Diese Vorschrift, nach der in den Fällen, in denen durch die Erhebung der Klage eine Frist gewahrt werden soll, die Wirkung bereits mit Eingang des Antrags bei Gericht eintritt, wenn die Zustellung demnächst erfolgt, gilt auch im Anwendungsbereich des § 246 Abs. 1 AktG. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift müssen bejaht werden, weshalb auf den am 29.8.2018 erfolgten Eingang der Klage per Telefax bei Gericht abgestellt werden muss. Die Kläger haben alles Erforderliche getan, um die Zustellung der Klage an die Beklagte, vertreten durch ihren Vorstand und ihren Aufsichtsrat, zu ermöglichen. Die Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses erfolgte ausweislich der Gerichtsakten am 4.9.2018. In der Klageschrift selbst haben sie sowohl den Geschäftssitz der Beklagten als auch die Privatanschriften der Aufsichtsratsmitglieder angegeben, unter der die Zustellung erfolgen muss. Da indes seitens des Gerichts nach Erhalt der Prozessvollmacht, deren Erteilung sich auf den Vorstand beschränkte, nicht unmittelbar an den Aufsichtsrat zugestellt wurde, ist die verspätete Zustellung ausschließlich der Organisationsphäre des Gerichts zuzuordnen. Folglich schadet ein Zeitraum von wie hier mehreren Monaten nicht, um eine demnächst erfolgte Zustellung anzunehmen (vgl. BVerfG NJW 2012, 2869, 2870; BGH WM 2019, 2019, 2021 = DB 2019, 2459, 2460). Eine Verpflichtung oder Obliegenheit der Kläger, die alles Erforderliche getan haben, um die Zustellung an beide vertretungsbefugten Organe der Kläger durch das Gericht zu bewirken, kann nicht angenommen werden. Hierfür gibt es keine Rechtsgrundlage; sie kann namentlich nicht aus dem Prozessrechtsverhältnis abgeleitet werden, nachdem die Kläger alles getan haben, was die Zivilprozessordnung für die Klagezustellung von ihnen verlangt (vgl. BGHZ 168, 306, 310 ff. = NJW 2006, 3206 = ZIP 2006, 1838, 1839 = MDR 2007, 167 f. = VersR 2006, 1518, 1519 = r+s 2006, 407, 408).
3. Der zu Tagesordnungspunkt 1 gefasste Beschluss der Hauptversammlung der Beklagten vom 17.8.2019 über die Entsendung der R… GmbH in den Aufsichtsrat verstößt gegen das Gesetz und ist daher aufgrund von § 243 Abs. 1 AktG für nichtig zu erklären, auch wenn dieses Recht gemäß § 101 Abs. 2 Satz 1 AktG durch die Satzung und für bestimmte Aktionäre begründet werden kann.
a. Der Beschlussinhalt ist nicht hinreichend bestimmt. Ihm ist nämlich auch durch Auslegung nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen, welcher Gesellschaft das Entsenderecht zusteht. Ein Beschluss der Hauptversammlung muss einen hinreichend bestimmten Inhalt haben, wovon vorliegend nicht ausgegangen werden kann. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass es in der Bundesrepublik Deutschland (mindestens) sieben Gesellschaften gibt, deren Firmierung auf „R… GmbH“ lautet. Angesichts dessen muss der Beschlussinhalt über das Entsendungsrecht so eindeutig und klar formuliert sein, dass eindeutig festgestellt werden kann, welche dieser Gesellschaften gemeint ist.
(1) Bei dem Beschluss einer Hauptversammlung handelt es sich um ein mehrseitiges, aber nicht vertragliches Rechtsgeschäft eigener Art (vgl. Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl., § 133 Rdn. 3; Spindler in: Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 133 Rdn. 2; Rieckers in: Spindler/Stilz, AktG, a.a.O. § 133 Rdn. 3; Tröger in: Kölner Kommentar zum AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 40; Dürr in: Wachter, AktG, 3. Aufl., § 133 Rdn. 2), weil die Aktionäre ihre Rechtsverhältnisse und die der Aktiengesellschaft durch eine verbindliche kollektive Willensbildung privatautonom regeln wollen, wobei die bloße Innenwirkung dem nicht entgegensteht. Demgemäß gelten die Vorschriften der Rechtsgeschäftslehre auch hier, sofern nicht das Aktiengesetz Spezialregelungen enthält oder die Eigenart des Beschlusses etwas anderes gebietet.
Dies bedeutet, dass die allgemeinen Vorschriften der §§ 133, 157 BGB über die Auslegung von Willenserklärungen keine Anwendung finden können. Es kommt daher weder auf den wirklichen Willen des abstimmenden noch auf den objektiven Empfängerhorizont an der Hauptversammlung teilnehmenden Aktionäre an. Die Auslegung eines Hauptversammlungsbeschiusses richtet sich vielmehr nach dem Willen der Hauptversammlung, der – nachdem die subjektiven Vorstellungen einzelner Aktionäre nicht relevant sein können – durch eine objektive, aus der Sicht eines Dritten vorzunehmenden Auslegung zu bestimmen ist (vgl. OLG München AG 2008, 864, 869 = ZIP 2008, 1916, 1922 = WM 2008, 1971, 1977; LG München I AG 2015, 639, 640 = Der Konzern 2015, 453, 455; Hüffer/Koch, AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 4). Dabei kann zur Ermittlung des objektiven Willens der Hauptversammlung auch auf die zum Handelsregister einzureichende Niederschrift zurückgegriffen werden, nachdem aufgrund der uneingeschränkt zulässigen Einsichtnahme in diese beim Registergericht jedermann auf diese Quelle der Auslegung Zugriff nehmen kann (vgl. LG München I AG 2015, 639, 640 = Der Konzern 2015, 453, 455; Hüffer/Koch, AktG, a.a.O. § 133 Rdn. 4; Rieckers in: Spindler/Stilz, AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 5; Tröger in: Kölner Kommentar zum AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 53; Dürr in: Wachter, AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 3; Spindler in: Schmidt/Lutter, AktG, a.a.O., § 133 Rdn. 2). Ebenso können auch Vorstandsberichte oder andere allgemein zugängliche Quellen wie beispielsweise die Einberufung zur Auslegung herangezogen werden.
(2) Vorliegend ist jedoch auch aus diesen Quellen nicht hinreichend bestimmbar, welcher R… GmbH das Entsenderecht eingeräumt werden soll.
(a) Der Beschluss selbst ist nicht geeignet, die „R…GmbH“ klar zu identifizieren, weil weder der Geschäftssitz noch eine KRB-Nummer genannt sind, aus der sich eindeutig jede Gesellschaft identifizieren lässt. Die HRB-Nummer ist auch zur Identifizierung geeignet, selbst wenn es zur Verschmelzung kommt. Aufgrund von § 22 Abs. 2 Satz 1 HRV sollen nämlich geschlossene Registerblätter weiterhin, auch in der Form von Ausdrucken, wiedergabefähig oder lesbar bleiben. Daher ist der Inhalt des Handelsregisters bei beiden Gesellschaften – also auch der übertragenden – erkennbar.
(b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der notariellen Niederschrift – ihr kann nicht entnommen werden, dass es sich um die R… GmbH, HRB …, eingetragen beim Amtsgericht-Registergericht-… handelt. Dem als Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 29.3.2019 beigefügten Schreiben der Beklagten vom 28.2.2019 an das Amtsgericht-Registergericht-…, in dem die R… GmbH näher identifiziert wurde, kann nicht entnommen werden, dass es sich dabei um eine Anlage zur notariellen Niederschrift handelt und daher von dieser umfasst ist. Bereits den Anlagen zur Niederschrift kommt keine auf die notarielle Wahrnehmung gerichtete besondere Beweiskraft im Sinne des § 415 Abs. 1 ZPO zu. Damit aber kann das mehr als sechs Monate nach der Hauptversammlung an das Registergericht versandte Schreiben der Beklagten zur Auslegung des Beschlusses nicht herangezogen werden, zumal die Aktionäre an dessen Erstellung nicht beteiligt waren. Die in dem Schreiben vom 28.2.2019 zitierte Äußerung über die Identifizierung der R… GmbH ist in der notariellen Niederschrift nicht enthalten. Wenn das Gesetz eine notarielle Beurkundung der Hauptversammlung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 AktG fordert, so ist die erforderliche Authentizität nur dann gewahrt, wenn die beim Handelsregister einzureichenden Unterlagen, die für die Auslegung relevant werden könnten, von dem Notar selbst erstellt wurden.
(c) Auch aus der Einberufung zur Hauptversammlung kann die Entsendungsberechtigte nicht eindeutig identifiziert werden, weil darin nur die „R… GmbH“ genannt ist und sich aus dieser nicht ergibt, welche dieser verschiedenen Gesellschaften mit dieser Firmierung gemeint sein soll.
b. Der Beschluss der Hauptversammlung ist aber auch wegen eines Verstoßes gegen die Treuepflicht der Aktionäre im Zusammenhang mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz für nichtig zu erklären.
(a) Nach § 53 a AktG sind Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln. Dieses Gleichheitsgebot kann im Rahmen des Entsenderechts nach § 101 Abs. 2 AktG allerdings nur eingeschränkt Gültigkeit beanspruchen, weil die Satzung in vielfacher Hinsicht eine ungleiche Behandlung der Aktionäre vorsehen oder zulassen kann, ohne dass dies den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzen würde. Die in § 101 Abs. 2 AktG grundsätzlich vorgesehene Möglichkeit zur Schaffung eines satzungsmäßigen Entsendungsrechts führt zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung all der Aktionäre, die ein solches Recht nicht wahrnehmen können (vgl. OLG Hamm NZG, 2008, 914, 915 = AG 2008, 552, 554 f. = ZIP 2008, 1530, 1532 = BB 2008, 1136, 1137; Habersack in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 101 Rdn. 31; Breuer/Fraune in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, a.a.O., § 101 Rdn. 10).
(b) Allerdings muss hier eine Besonderheit beachtet werden, die zu einem Verstoß gegen § 53 a AktG in Verbindung mit der Treuepflicht der Aktionäre führt. Das Entsenderecht ist nämlich – anders als in dem vom Oberlandesgericht Hamm entschiedenen Fall „Thyssen Krupp“ – nicht an einen bestimmten Anteil des Grundkapitals gebunden. Demgemäß könnte die entsendeberechtigte Person ihren Anteil am Grundkapital bis auf eine Aktie reduzieren und ungeachtet dessen einen maßgeblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats ausüben. In einer derartigen Situation muss ausnahmsweise die Inhaltskontrolle des Entsendungsrechts möglich bleiben, weil auch der Satzungsgeber an das Gleichbehandlungsgebot gebunden ist und auch bei einer vom Gesetz zugelassenen Abweichung eine vollständige Freistellung vom Gleichbehandlungsgrundsatz nicht angenommen werden kann (vgl. Götze in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 53 a Rdn. 22). Demgemäß hat auch das Oberlandesgericht Hamm in dem zitierten Urteil vom 31.3.2008 darauf hingewiesen, dass die mit dem dort angefochtenen Beschluss geschaffene Entsendung nicht außerhalb akzeptabler Relationen liegt. Davon kann aber nicht mehr ausgegangen werden, wenn ein Entsendungsrecht auch dann besteht, wenn ein entsendeberechtigter Aktionär nurmehr über einen verschwindend kleinen Anteil am Grundkapital der Gesellschaft verfügt, wenn er dieses Recht auch mit nur einer Aktie wahrnehmen könnte. Dies wäre mit der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht in einer Konstellation, die nach der Konzeption des hier zu schaffenden Entsenderechts zu einem möglichen extremen Missverhältnis zwischen dem Umfang der Berechtigung und dem Einfluss auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats als einem der drei zentralen Organe der Aktiengesellschaft führt, ausnahmsweise nicht mehr vereinbar. Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht begründet für die Aktionäre die Verpflichtung, in allen gesellschaftlichen Belangen auf die gesellschaftsbezogenen Interessen der Mitaktionäre angemessen Rücksicht zu nehmen (vgl. Götze in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., Vor § 53 a Rdn. 42). Würde die R… GmbH die Aktien bis auf eine veräußern, hätte sie einen weit überdurchschnittlichen und damit nicht mehr verhältnismäßigen Einfluss auf die Gesellschaft. In einer solchen Situation gebietet es die aktienrechtliche Treuepflicht (so ausdrücklich Grigoleit/Tomasic in: Grigoleit, AktG, 1. Aufl., § 101 Rdn. 17), ausnahmsweise eine Inhaltskontrolle der Satzungsregelung über das Entsenderecht zuzulassen, die ansonsten regelmäßig nicht vorgenommen wird (vgl. nur Habersack in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 101 Rdn. 31; Götze in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 53 a Rdn. 25).
c. In dieser Situation muss die Kammer nicht mehr abschließend entscheiden, ob ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 AEUV vorliegt, weil diese Rechtswirkung auch im Verhältnis zu Privaten entfaltet und insoweit die Privatautonomie Beschränkungen dieser Grundfreiheit rechtfertigen kann (vgl. hierzu Verse ZIP 2008, 1754, 1760). Mangels Entscheidungserheblichkeit dieser Frage kommt daher eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 267 AEUV nicht in Betracht.
4. Die Anfechtungsklage wurde nicht rechtsmissbräuchlich erhoben.
a. Die Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs lasen sich nicht bejahen.
(1) Allein die Tatsache, dass in der Vergangenheit Anfechtungsklagen gegen Gesellschaften erhoben wurde, bei denen Angehörige der Familien von Herrn R… und Herrn E… R… Organfunktion hatten oder von diesen Personen beherrschte Gesellschafter Aktionäre waren, kann nicht zum Rechtsmissbrauch führen. Wenn ein Aktionär der Auffassung ist, der Beschluss einer Hauptversammlung verstoße gegen das Gesetz, muss es ihm unbenommen bleiben, diesen Fehler mittels Anfechtungsklage gerichtlich geltend zu machen. Dabei kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Klagen – entweder gerichtsbekannt oder sich aus dem Vortrag der Parteien ergeben – nicht selten Erfolg hatten. Wenn mehrere Aktionäre zusammen eine Klage erheben, um die von ihnen vorgetragenen Gesetzesverstöße zu rügen, kann daraus nicht auf die Existenz einer – entsprechend der Ausdrucksweise der Beklagten – „kriminellen Bande“ geschlossen werden. Hierfür gibt es keine reale Tatsachengrundlage. Die Kammer vermag nämlich nicht zu erkennen, inwieweit sich die Kläger zusammengeschlossen haben könnten, um gemeinsame Straftaten zu begehen. Die Erhebung von Anfechtungsklagen kann jedenfalls nicht als kriminelles, also strafbares Verhalten angesehen werden, sondern stellt sich vielmehr als eine von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellte Möglichkeit dar, die Kontrollfunktion bezüglich der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse von Hauptversammlung wahrzunehmen. Soweit die Beklagte in ihrer Klageerwiderung sich auf neun Beschlussmängelklagen bei insgesamt sechs Aktiengesellschaften bezieht, fällt zudem auch auf, dass der Kläger zu 1) nach den von der Beklagten mitgeteilten Klägern und Nebenintervenienten an diesen Verfahren überhaupt nicht beteiligt war. Die Vertretung der Aktien der Kläger zu 2) und zu 3) durch den Kläger zu 1) in einer Hauptversammlung lässt keinen Rückschluss auf eine rechtsmissbräuchliche Klagerhebung zu.
(2) Auch hat die Beklagte keinen hinreichenden Vortrag dazu geleistet, warum diese Klageerhebung als Racheakt der Kläger zu 2) und zu 3) für den Antrag auf Durchführung einer Sonderprüfung angesehen werden könnte. Beide Vorgehensweisen sind von der Rechtsordnung zugelassen. Ein Rechtsmissbrauch lässt sich draus jedenfalls nicht ableiten.
Demzufolge musste die Klage Erfolg haben, ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankäme, in wieweit die weiteren von den Klägern vorgetragenen Anfechtungsgründe Erfolg haben.
II.
1. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 100 Abs. 1, 101 Abs. 2 ZPO. Als Unterlegene hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Da es sich bei der Nebenintervention der Nebenintervenientin um eine streitgenössische Nebenintervention handelt, deren Zulässigkeit nicht gerügt wurde und an der auch keinerlei Zweifel bestehen, muss die Regelung des § 101 Abs. 2 ZPO zum Tragen kommen, weshalb § 100 Abs. 1 ZPO für die Nebenintervenientin heranzuziehen ist und es zu einer Kostenteilung kommt.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.
3. Die Entscheidung über den Streitwert hat ihre Grundlage in § 247 Abs. 1 AktG. Aufgrund von § 247 Abs. 1 AktG bestimmt das Prozessgericht den Streitwert unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Bedeutung der Sache für die Parteien nach billigem Ermessen, wobei er regelmäßig ein Zehntel des Grundkapitals nicht übersteigen soll. Maßgeblich für die Festsetzung ist nämlich zum einen der nicht unerhebliche Aktienbesitz der Klägerinnen einerseits, der ein gesteigertes Interesse an der Anfechtung begründet. Andererseits müssen auf Seiten der Beklagten auch das nicht gänzlich unbedeutende Grundkapital der Gesellschaft von € 1.916.200,- ebenso wie die zentrale Stellung des Aufsichtsrats im Kompetenzgefüge einer Aktiengesellschaft berücksichtigt werden. Bei einer Gesamtschau dieser zentralen Erwägungen erachtet die Kammer unter Aufgabe der Einschätzung im Beschluss über die vorläufige Streitwertfestsetzung einen Streitwert von € 75.000,- für sachgerecht.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben