Handels- und Gesellschaftsrecht

Krankenversicherung, Berufung, Revision, Versicherungsfall, Reisevertrag, Auskunft, Versicherungsbedingungen, Anzahlung, Ersatzpflicht, Zustimmung, Zulassungsgrund, Versicherer, Berechnung, Zustellung, Die Fortbildung des Rechts, rechtliche Beurteilung, Fortbildung des Rechts

Aktenzeichen  14 S 1155/20

Datum:
11.11.2020
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 55749
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

231 C 13527/19 2019-12-30 AGMUENCHEN AG München

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts München vom 30.12.2019, Az. 231 C 13527/19, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung der Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Das unter Ziffer 1 genannte Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf … festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin verfolgt mit ihrer Stufenklage einen Anspruch auf Rückzahlung sog. Stornokosten, der gem. § 86 VVG auf sie übergegangen sei. In erster Stufe werden diesbezügliche Auskunftsansprüche geltend gemacht.
Die Klägerin ist Versicherungsgeberin namentlich in Bezug auf Reiserücktrittskostenversicherungen. Bei der Beklagten handelt es sich um eine Reiseveranstalterin.
Der Reisende …, ein Versicherungsnehmer der Klägerin, buchte mit Datum vom 21.07.2018 bei der Beklagten für sich und seine Ehefrau … eine Reise für den Zeitraum von 21.10.2018 bis 31.10.2018 zu einem Reisepreis von insgesamt 1.296,00 €.
Hierauf leistete der Reisende eine Anzahlung in Höhe von 518,40 €.
Mit Schreiben vom 12.09.2018 – mithin mehr als 30 Tage vor Antritt der Reise – trat der Reisende vom Reisevertrag zurück.
Die Beklagte erstellte hierauf eine sog. Stornorechnung, die sich auf einen – 40 % des vereinbarten Reisepreises entsprechenden – Betrag in Höhe von 518,00 € belief. Eine konkrete Berechnung der Höhe der Stornoforderung wurde nicht vorgenommen. Den Betrag der Stornokosten verrechnete die Beklagte mit der erfolgten Anzahlung des Reisenden.
Die Klägerin stellte den Reisenden aufgrund des Versicherungsvertrags unter der Schadensnummer … von den gezahlten Stornokosten frei. Den sich aus der Abrechnung ergebenden Betrag zahlte die Beklagte an den Reisenden zurück.
Die Klägerin meint, Auskunfts- (1. Stufe) und Zahlungsansprüche (2. Stufe) gegen die Beklagte zu haben. Da die Versicherungsbedingungen eine Zession des Anspruchs der Reisenden an die Klägerin nicht vorsehen, könne sie aus gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG übergegangenem Recht der Reisenden die zutreffende Einzelfallabrechnung des behaupteten Stornoschadens und die Auszahlung des sich so ergebenden Betrags von der Beklagten verlangen.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, die AGB ihres Reisevertrags seien wirksam. Sie hält aber einen Anspruch der Klägerin schon deswegen nicht für gegeben, weil es sich bei der streitgegenständlichen Reiserücktrittskostenversicherung nicht um eine Schadensversicherung, sondern eine Summenversicherung handele und jedenfalls der geltend gemachte Abrechnungsanspruch kein Ersatzanspruch i.S.d. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG sei.
Ergänzend wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Amtsgericht hat mit Endurteil vom 30.12.2019 die Klage abgewiesen, da der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nicht dem Übergang gemäß § 86 Abs. 1 S. 1 VVG unterliege und die Klägerin daher nicht zu dessen Geltendmachung befugt sei.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre erstinstanzlichen Ansprüche weiterverfolgt. Die Klägerin rügt eine fehlerhafte rechtliche Beurteilung durch das Amtsgericht. Sie vertieft ihre erstinstanzliche Argumentation und vertritt insoweit die Auffassung, dass wegen des Verbots der Bereicherung des Schädigers § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG jedenfalls analog anzuwenden sei.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Mit Beschluss vom 08.09.2020 hat die Kammer beschlossen, dass mit Zustimmung der Parteien gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werde.
Die Klägerin beantragt in 2. Instanz zu erkennen:
1.Das am 30. Dezember 2019 verkündete Urteil des Amtsgerichts München (Az: 231 13527/19) wird abgeändert.
2.Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft über den Rücktrittsschaden zu erteilen und zwar darüber,
a)welche vertraglich vereinbarten Zahlungen sie bei Durchführung des mit dem in der Klage genannten Reisenden (Herrn … am 21. Juli 2018 (Vorgang: … geschlossenen Reisevertrages an die Leistungsträger bezahlen musste,
b)welche Werte die ersparten Aufwendungen infolge des am 12. September 2018 erklärten Rücktritts vom Reisevertrag besitzen,
c)welche Erlöse sie durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen gemäß Reisevertrag vom 21. Juli 2018 erzielen konnte.
3.Die Auskunft ist durch Vorlage der Verträge zwischen der Beklagten und der Leistungsträger über die Reiseleistungen gemäß Reisebestätigung vom 21. Juli 2018 sowie der Rechnungen der Leistungsträger für die Reiseleistungen und Abrechnungen nach der Rücktrittserklärung des Reisenden zu erbringen.
4.Hilfsweise für den Fall, dass die Auskunft gemäß Ziffer 2) nicht unter Vorlage der Verträge zwischen der Beklagten und der Leistungsträger erfolgt, hat ihr Geschäftsführer die Richtigkeit und Vollständigkeit der unter Ziff. 1 und 2 genannten Auskünfte an Eides statt zu versichern.
5.Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin den sich aus der Auskunft gemäß Ziff. 2) b) und c) ergebenden Betrag, der den Rücktrittsschaden übersteigt, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zu zahlen.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Berufung.
II.
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Nach Überzeugung der Kammer, die sich insoweit der im angefochtenen erstgerichtlichen Urteil vertretenen Rechtsmeinung anschließt, stehen der Klägerin die im Rahmen der Stufenklage geltend gemachten Auskunftsansprüche nicht zu.
Denn die Ansprüche des Reisenden sind hier nicht nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf die Klägerin übergegangen. Diese Vorschrift findet in der vorliegenden Konstellation weder direkt noch analog Anwendung.
Im Einzelnen ist hierzu wie folgt auszuführen:
1. Voraussetzung eines Übergangs nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG wäre die Einordnung der Reiserücktrittskostenversicherung als Schadensversicherung (vgl. BGH, Urt. v. 24.09.1969 – IV ZR 776/68). Diese Frage wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Das Landgericht München I hat in einem Urteil vom 27.04.2006 – …, dort allerdings ohne nähere Begründung, die Reiserücktrittskostenversicherung als Summenversicherung bewertet. Das Landgericht Stuttgart hat sich dagegen mit Urteil vom 18.07.2016 – … für eine Einstufung als Schadensversicherung ausgesprochen. In der Literatur divergieren die diesbezüglichen Auffassungen ebenfalls. So geht bspw. Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke von einer Summenversicherung aus, während Staudinger, Versicherungsrechts-Handbuch, eine Einstufung als Schadensversicherung vornimmt. Langheid in Langheid/Rixecker spricht sich wiederum für eine differenzierende Beurteilung aus.
Für die Einstufung als Summenversicherung streitet, dass mit der Vereinbarung einer Reiserücktrittskostenversicherung ein konkreter Bedarf, nämlich der summenmäßig fixierte Reisepreis, abgesichert wird. Für die Einstufung als Schadensversicherung spricht indes, dass die tatsächliche Höhe des Versicherungsschadens von den konkreten Umständen des Reiserücktritts (namentlich dem zwischen dem Rücktritt und dem geplantem Reisebeginn liegenden Zeitraum) abhängt.
Die Kammer neigt, wie bereits die 6. Kammer des LG München I im Urteil vom 02.07.2020, …, zur Einordnung als Schadensversicherung. Letztlich kann dies jedoch unter Berücksichtigung der nachfolgenden Erwägungen dahinstehen.
2. Der Anspruch des Reisenden ist hier nicht gemäß § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf die Klägerin übergegangen, da es sich nicht um einen „Ersatzanspruch“ im Sinne dieser Norm handelt.
a) Zwar ist nach zutreffender Auffassung der Begriff des Ersatzanspruchs weit auszulegen. Er umfasst Ansprüche jeglicher Rechtsnatur (Langheid/Wandt/Möller/Segger, 2. Aufl. 2016, § 86 VVG Rn. 55). Erfasst werden auch Bereicherungsansprüche, Ausgleichsansprüche, Freistellungs- und Abtretungsansprüche sowie Erfüllungs- und Gewährleistungsansprüche. Nach § 86 VVG, der insoweit den Regelungsgehalt der Vorgängervorschrift (§ 67 VVG) fortsetzt („eine materielle Erweiterung des Anwendungsbereichs ist … nicht bezweckt“), wird jedoch vorausgesetzt, dass der Versicherungsnehmer einen Anspruch gegen einen Dritten (erworben) hat, weil dieser Dritte auf das versicherte Gut eingewirkt hat.
Diesen Ersatzanspruch kann der seinerseits Ersatz leistende Versicherer anstelle des Rechtsgutsinhabers gemäß § 86 Abs. 1 S. 1 VVG aus übergegangenem Recht geltend machen.
Eine solche Drei-Personen-Konstellation ist vorliegend nicht ersichtlich.
Denn es gibt keinen Dritten, der auf ein versichertes Rechtsgut eingewirkt hätte. Vielmehr wurde der Versicherungsfall durch die eigene Reiserücktrittserklärung des Reisenden ausgelöst. Es entstand in der Folge auch kein Ersatzanspruch des Reisenden gegen das Reiseunternehmen. Das Reiseunternehmen erwarb vielmehr aufgrund dieser Rücktrittserklärung einen eigenen Ersatzanspruch, gerichtet auf Ersatz der „angemessenen Entschädigung“ gemäß § 651 i Abs. 2 S. 1 BGB a.F. (= § 651 h Abs. 1 S. 3 BGB n.F.). Nur wegen der – freilich im Regelfall vorliegenden – (jedenfalls anteiligen) Vorauszahlung des Reisepreises kann das Reiseunternehmen sich aus dieser Vorauszahlung im Wege der Aufrechnung mit dem eigenen Ersatzanspruch befriedigen und hat dann den etwaig übersteigenden Rest auszukehren.
Die vorliegende Fallkonstellation stellt sich also in zwei wesentlichen Gesichtspunkten anders dar, als von § 86 VVG grundsätzlich vorausgesetzt: Der Versicherungsnehmer – und nicht ein Dritter – löst den Versicherungsfall aus. Als unmittelbare Folge hieraus entsteht eine Ersatzpflicht des Versicherungsnehmers gegenüber einem Dritten und nicht etwa eine Ersatzpflicht eines Dritten gegenüber dem Versicherungsnehmer. Nur wegen der vom Versicherungsnehmer geleisteten Vorauszahlung kommt es sodann, nach Geltendmachung des Ersatzanspruchs des Dritten, zu einer Auskehrungspflicht des Dritten in Höhe der Differenz zwischen beiden Ansprüchen.
b) Der Sonderfall, in welchem ausnahmsweise auch ein Verhalten des Versicherungsnehmers eine Ersatzpflicht auslösen kann, die dann nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG übergehen würde, liegt hier nicht vor.
Ein solcher Sonderfall wird dann anerkannt, wenn der Versicherungsnehmer sowie die weitere, vom Versicherungsvertrag geschützte, Person auseinanderfallen und die versicherte Person gegenüber dem Versicherungsnehmer einen Ersatzanspruch erwirbt (vgl. BGH, Urt. v. 11.07.1960 – II ZR 254/58). In der vorliegenden Konstellation gibt es jedoch keine weitere Person, die dergestalt in den Schutzbereich des Versicherungsvertrags einbezogen wäre.
c) Anders mag der Fall liegen, wenn ein Dritter – etwa durch körperverletzenden Eingriff gegenüber dem Reisenden – die Rücktrittserklärung des Reisenden veranlasst. Dann kann auch nach Meinung der Kammer ein Ersatzanspruch des Reisenden gegen den Schädiger entstehen, der nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf die Versicherung übergehen würde.
d) Die Klägerin geht hier letztlich davon aus, dass der von ihrem Versicherungsnehmer verursachte Ersatzanspruch des Reiseveranstalters nicht so hoch sei, wie vom Reiseveranstalter geltend gemacht. Der Reiseveranstalter habe daher eine bereits vereinnahmte Ersatzleistung zumindest teilweise wieder herauszugeben.
Durchaus vergleichbar ist diese Konstellation mit dem Verhalten eines Haftpflichtversicherers, der die Schadenshöhe bestreitet.
Das Berufungsgericht sieht allerdings – wie auch die 6. Kammer des Landgerichts München I – keinen Anlass, eine Reiserücktrittskostenversicherung insoweit einer Haftpflichtversicherung gleichzusetzen.
3. Es kommt nach Meinung der Kammer auch keine analoge Anwendung des § 86 Abs. 1 S. 1 VVG in Betracht.
Der einzige Aspekt, der für eine solche Analogie sprechen würde, wäre der Umstand, dass – möglicherweise – der Reiseveranstalter als Folge des Rücktritts zu viel erhalten würde, also letztlich „bereichert“ wäre, und eine höhere Rückzahlung des Reiseveranstalters den von der Klägerin zu deckenden Verlust des Reisenden verringern würde.
Es besteht jedoch schon keine sachliche Nähe zwischen den relevanten Konstellationen. Im Übrigen fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke. Denn der Gesetzgeber hat, wie § 194 Abs. 2 VVG zeigt, den Fall der Rückforderung einer etwaigen Überzahlung ausdrücklich gesehen und sich nur bei der Krankenversicherung für einen Rückforderungsanspruch des Versicherers entschieden.
Eine Analogie scheidet daher aus.
Nach alledem ist die Entscheidung des Erstgerichts nicht zu beanstanden, die Berufung mithin zurückzuweisen.
III.
Die Kostenfolge beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist zuzulassen. Es besteht jedenfalls der Zulassungsgrund des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO, wonach die Revision zuzulassen ist, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Dies ist hier der Fall, da hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 86 Abs. 1 S. 1 VVG auf eine Konstellation wie hier grundsätzlicher Klärungsbedarf besteht.
Die Zulassung ist auch unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, wie namentlich die – voneinander abweichenden – Entscheidungen des Landgerichts München I (insbesondere in den Verfahren … und …) zeigen.
Der Streitwert richtet sich nach den klägerseits ausgeglichenen Stornokosten in Höhe von ….


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