Kosten- und Gebührenrecht

Erledigung eines Widerspruchsverfahrens durch die Zulassung zu einem Integrationskurs

Aktenzeichen  AN 6 K 16.01035

Datum:
2.2.2017
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
IntV IntV § 9 Abs. 2
VwVfG VwVfG § 80 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
AufenthG AufenthG § 44 Abs. 4 S. 2
VwGO VwGO § 72, § 162 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1 Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. (redaktioneller Leitsatz)
2 Notwendig ist die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nur dann, wenn es der Partei im Zeitpunkt der Bevollmächtigung (BVerwG BeckRS 1999, 30042257) nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Juni 2016 verpflichtet, eine Kostenentscheidung dahingehend zu treffen, dass die Beklagte die Kosten des Widerspruchverfahrens zu tragen hat, und die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren festzustellen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Mit Einverständnis der Beteiligten konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung über die Klage entschieden werden.
1. Unter Würdigung der Klagebegründung ist der mit Schriftsatz vom 14. Juni 2016 gestellte Klageantrag nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel als Antrag des Klägers, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Juni 2016 zu verpflichten, eine Kostenentscheidung dahingehend zu treffen, dass die Beklagte die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu tragen hat, und die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren festzustellen, auszulegen (§ 88 VwGO).
2. Die so verstandene Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet.
a) Die Beklagte ist unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Juni 2016 zu verpflichten, eine Kostenentscheidung zu Gunsten des Klägers als Widerspruchsführer zu treffen. Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG führt ein erfolgreicher Widerspruch zu einer Kostenlast für den Rechtsträger der Ausgangsbehörde. Diese Bestimmung über die Kostentragung im Widerspruchsverfahren gilt ausnahmsweise auch für die hier zu entscheidende Situation der Erledigung des Widerspruchsverfahrens. Mit der Zulassung des Klägers zum Integrationskurs mit Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 2016 entsprach die Beklagte dem Antrag des Klägers auf Zulassung zum Integrationskurs vom 21. Dezember 2015. Da dem Widerspruchsverfahren die Ablehnung des Antrags des Klägers auf Zulassung zum Integrationskurs vom 3. November 2015 durch Bescheid der Beklagten vom 10. November 2015 zugrunde lag, traf die Beklagte zwar keine Abhilfeentscheidung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens, nach der sie gemäß § 72 VwGO auch über die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu entscheiden hätte. Durch die Zulassung des Klägers zum Integrationskurs mit Bescheid vom 26. Januar 2016 führte die Beklagte jedoch die Erledigung des Widerspruchsverfahrens herbei und muss sich nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als hätte sie eine Abhilfeentscheidung getroffen. Der Klägerbevollmächtigte erklärte den Widerspruch auch mit Schreiben vom 29. Mai 2016 gegenüber der Beklagten für erledigt.
Grundsätzlich ist § 80 VwVfG auf Fälle der Erledigung des Widerspruchsverfahrens nicht anwendbar. Etwas anderes gilt jedoch insoweit, als durch die Herbeiführung der Erledigung durch Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes oder durch Erlass des zunächst abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes die Regelung des § 80 VwVfG nicht umgangen werden darf (BVerwG, NJW 2009, 2968; OVG Hamburg, U.v. 21.12.2012 – 1 Bf 25/11 – juris Rn.31, 39 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Auflage 2014, § 80 Rn.18). Wenn die Behörde die Erledigung des Widerspruchsverfahrens ohne sachlichen Grund nur deshalb herbeiführt, um der Kostenlast zu entgehen, muss sie sich nach Treu und Glauben und dem Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung so behandeln lassen, als hätte sie eine Abhilfeentscheidung getroffen.
Vorliegend tragen die Klägerbevollmächtigten vor, mit Telefaxschreiben vom 16. November 2015 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 10. November 2015 erhoben zu haben. Die Klägervertreter legten zum Nachweis des Zugangs ihres Widerspruchsschreibens vom 16. November 2015 einen Sendebericht vor, nach dem bei der Beklagten am 17. November 2015 ein Telefaxschreiben eingegangen ist. Mit Schreiben an die Beklagte vom 26. Dezember 2015 erinnerten die Klägerbevollmächtigten an ihren Widerspruch vom 16. November 2015 und baten um eine zeitnahe Entscheidung im Widerspruchsverfahren. Die Beklagte teilte den Klägerbevollmächtigten jedoch erst mit Schreiben vom 12. Mai 2016 mit, dass ihr ein Widerspruch vom 16. November 2015 nicht vorliege, und wies zugleich auf die Erledigung des Widerspruchsverfahrens aufgrund der Zulassung des Klägers mit Bewilligungsbescheid vom 26. Januar 2016 hin. Im weiteren außergerichtlichen Verfahren trat die Beklagte dem Zugang des Widerspruchs mit Telefaxschreiben vom 16. November 2015 nicht mehr entgegen, wie die Entscheidung der Beklagten über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren mit Bescheid vom 13. Juni 2016 zeigt. Diese Entscheidung setzt eine Kostenentscheidung zu Gunsten des Widerspruchsführers voraus. Auch im gerichtlichen Verfahren beruft sich die Beklagte nicht mehr auf den fehlenden Zugang des Telefaxschreibens vom 16. November 2015, sondern trägt in ihrer Klageerwiderung vom 26. Juli 2016 vielmehr selbst vor, dass der Kläger am 16. November 2015 Widerspruch erhoben habe.
Nach Treu und Glauben muss sich die Beklagte in der vorliegenden Erledigungssituation des Widerspruchsverfahrens so behandeln lassen, als hätte sie eine Abhilfeentscheidung getroffen. Die Beklagte muss sich entgegenhalten lassen, dass sie auf das Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 26. Dezember 2015 hin keine zeitnahe Entscheidung im Widerspruchsverfahren traf, sondern die Klägerbevollmächtigten erst nach Zulassung des Klägers zum Integrationskurs mit Bescheid vom 26. Januar 2015 nach Verstreichen eines Zeitraums von beinahe fünf Monaten über den angeblich fehlenden Zugang des Widerspruches informierte. Mithin ist die Beklagte zu verpflichten, eine Kostenentscheidung dahingehend zu treffen, dass die Kosten des Widerspruchsverfahrens in Form der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Beklagte zu tragen hat.
b) Darüber hinaus ist die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Juni 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren notwendig war. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind gemäß § 80 Abs. 2 VwVfG damit erstattungsfähig.
aa) Die Maßstäbe für die Beurteilung der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (vgl. BVerwG, B.v. 1.6.2010 – 6 B 77.09 – juris Rn.6). Danach ist gemäß § 80 Abs. 2 VwVfG die Erstattungsfähigkeit von Kosten eines Bevollmächtigten im Vorverfahren – anders als die von Anwaltskosten im gerichtlichen Verfahren (§ 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO) – nicht automatisch, sondern je nach Lage des Einzelfalls nur unter der Voraussetzung der konkreten Notwendigkeit anzuerkennen. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nur dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen. Abzustellen ist regelmäßig auf den Zeitpunkt der Bevollmächtigung (BVerwG, B.v. 14.1.1999 – 6 B 118.98 – juris). Darüber hinaus wird die Notwendigkeit der Zuziehung auch durch die Bedeutung der Streitsache für den Beschwerdeführer bestimmt (BVerwG, B.v. 27.2.2012 – 2 A 11/08 – juris Rn.5).
bb) Nach diesen Maßstäben war es dem Kläger vorliegend nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten, das Widerspruchsverfahren selbst zu führen.
Bei der gegebenen Sachlage ist davon auszugehen, dass sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Dies gilt umso mehr, als Integrationsrecht Spezialwissen darstellt, das insbesondere einem Ausländer nicht geläufig ist, zumal das Bundesamt dem Kläger in zwei verschiedenen Funktionen gegenübertritt. Obwohl der am 10. März 2015 im Asylverfahren des Klägers ergangene Dublin-Bescheid der Beklagten mit Schriftsatz der Beklagten vom 9. September 2015 aufgehoben worden war, begründete die Beklagte ihren Ablehnungsbescheid vom 10. November 2015 damit, dass aufgrund der Ablehnung des Asylantrages des Klägers mit Bescheid vom 10. März 2015 von keiner guten Bleibeperspektive des Klägers auszugehen sei. Dieses konträre Verhalten der Beklagten ist bereits geeignet, einen fachkundigen, im Umgang mit dem Bundesamt erfahrenen und deutschsprechenden Antragsteller zu verwirren. Erst recht muss dies für eine sprach- und rechtsunkundige Person wie den Kläger gelten, welcher sich deshalb einer anwaltlichen Vertretung im Widerspruchsverfahren bedienen durfte. Einerseits hob die Beklagte den am 10. März 2015 im Asylverfahren ergangenen Dublin-Bescheid mit Schriftsatz vom 9. September 2015 auf und teilte mit, dass das Asylverfahren des Klägers im nationalen Verfahren fortgeführt werde. Andererseits jedoch begründete sie die Ablehnung des Antrags des Klägers auf Zulassung zum Integrationskurs mit Bescheid vom 10. November 2015 mit der Ablehnung des Asylantrages des Klägers mit Bescheid vom 10. März 2015. Es liegt daher nahe, dass der Kläger nach Erhalt des Ablehnungsbescheides vom 10. November 2015 nicht selbst entscheiden konnte, welche der Aussagen des Bundesamtes zutreffend ist und auf welche Weise er diese widersprüchlichen Entscheidungen angreifen muss. Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Beklagte in der Begründung ihrer ablehnenden Entscheidung vom 10. November 2015 ausdrücklich den Bescheid vom 10. März 2015 als Ablehnungsgrund anführte. Dem Kläger lagen widersprüchliche Entscheidungen ein und derselben Behörde vor, deren Richtigkeit er ohne anwaltliche Hilfe nicht überblicken konnte, zumal der Kläger nicht davon ausgehen musste, dass der Beklagten ihre eigene Entscheidung vom 9. September 2015 nicht bekannt war.
Es kann von ihm unter Berücksichtigung dieser konträren Aussagen der Beklagten auch nicht verlangt werden, dass er blind (also ohne eigene Überprüfung der widersprüchlichen Feststellungen des Bundesamtes) darauf vertraut, dass das Bundesamt, welches gerade seinen Antrag auf Zulassung zum Integrationskurs abgelehnt hat, im Widerspruchsverfahren eine andere, für ihn günstige Entscheidung trifft, ohne dass es einer Widerspruchsbegründung durch die Klägerbevollmächtigten bedurft hätte.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Gründe, die Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO zuzulassen, liegen nicht vor.

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