Medizinrecht

Abgrenzung Jugendhilfe und Sozialhilfe

Aktenzeichen  W 3 K 18.1656

Datum:
23.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 26879
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 112, § 104
SGB VIII § 10 Abs. 4, § 89
BGB § 242

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für die Jugendhilfeleistung in Form von Vollzeitpflege zugunsten von Se. S. seit dem 8. Mai 2014 bis zum 30. Juni 2016 geleistete Kostenerstattung in Höhe von 23.627,95 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25. Dezember 2018 zurückzuerstatten.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Für die vorliegende Streitigkeit ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben, weil Streitigkeiten nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch als öffentlich-rechtliche Streitigkeiten im Sinne des § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugewiesen sind. Um eine solche Streitigkeit handelt es sich hier, da die Erstattung, deren Rückerstattung begehrt wird, auf Grundlage der §§ 89 ff. des Achten Buches Sozialgesetzbuch in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I, S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I, S. 1802) – SGB VIII – erfolgte und sich auf Ansprüche, die auf Grundlagen des Achten Buches Sozialgesetzbuch gewährt wurden, bezog [vgl. auch die Wertung des § 114 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I, S. 130), zuletzt geändert durch Art. 8 Gesetz vom 12. Juni 2020 (BGBl. I, S. 1248) – SGB X -].
Die zulässige Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist begründet. Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Rückerstattung der von ihr für die Unterbringung von Se. S. in einer Pflegefamilie an den Beklagten erstatten Kosten für die Zeit vom 8. Mai 2014 bis zum 30. Juni 2016 in Höhe von 23.627,95 EUR.
Ein solcher Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 112 SGB X. Nach dieser Vorschrift sind gezahlte Beträge zurückzuerstatten, soweit eine Erstattung zu Unrecht erfolgt ist. Trotz seiner Stellung im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (§§ 102-114 SGB X) findet § 112 SGB X als generelle Regelung über Erstattungen nach §§ 102 bis 105 SGB X hinaus auf alle Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern Anwendung (VG Würzburg, U.v. 22.10.2015 – W 3 K 14.948 – juris Rn. 23 m.w.N.).
Die Voraussetzungen für eine Rückerstattung nach § 112 SGB X liegen vor, weil die Klägerin dem Beklagten die von diesem für die Unterbringung von Se. S. in einer Pflegefamilie in dem Zeitraum vom 8. Mai 2014 bis zum 30. Juni 2016 aufgewendeten Jugendhilfekosten zu Unrecht erstattete. Zwar lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs zugunsten des Beklagten gemäß § 89a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vor; einer Verpflichtung der Klägerin, dem Beklagten die streitgegenständlichen Kosten zu erstatten, stand indes entgegen, dass der Beklagte es unterlassen hat, die kostenerstattungsrechtlichen Interessen der Klägerin wahrzunehmen, sodass die Erstattung durch die Klägerin zu Unrecht erfolgte. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Gemäß § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre. Ändert sich während der Gewährung der Leistung nach § 89a Abs. 1 SGB VIII der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt, so wird gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig geworden wäre.
Zwischen den Beteiligten steht zu Recht nicht im Streit, dass im maßgeblichen Zeitraum vom 8. Mai 2014 bis zum 30. Juni 2016 der Beklagte aufgrund seiner Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII Leistungen nach § 89a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 SGB VIII erbracht hat und die Klägerin ohne die örtliche Zuständigkeit des Beklagten nach § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewesen wäre. Die örtliche Zuständigkeit für die Gewährung der Vollzeitpflege auf der Grundlage der §§ 27, 33 SGB VIII richtete sich zunächst gemäß § 86 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter, da der sorgeberechtigte Vater nach Montenegro abgeschoben wurde. Zu dem Zeitpunkt (8.5.2014), als die sorgeberechtigte Mutter von Se. S. in den örtlichen Zuständigkeitsbereich der Klägerin verzog, befand sich Se. S. bereits mehrere Jahre bei einer Pflegefamilie im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Nachdem das Pflegeverhältnis zwei Jahre bestand und der Verbleib von Se. S. bei dieser Pflegefamilie auch auf Dauer zu erwarten war und auch nicht während des streitgegenständlichen Zeitraums endete, richtete sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson (§ 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII). Da die Pflegeeltern im Landkreis Schweinfurt lebten, war zu diesem Zeitpunkt der Beklagte örtlich für die Jugendhilfeleistungen zuständig. Mit dem Umzug der Kindesmutter in den Bereich der Klägerin änderte sich während der fortdauernden Vollzeitpflege der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt, sodass nach § 89a Abs. 3 SGB VIII der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig wird, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 örtlich zuständig geworden wäre, im vorliegenden Fall die Klägerin.
Demgemäß lagen zum Zeitpunkt des Erstattungsverlangens die tatbestandlichen Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs bei fortdauernder Vollzeitpflege des Beklagten gegenüber der Klägerin gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII vor.
Der Beklagte hatte jedoch für den streitgegenständlichen Zeitraum gegenüber der Klägerin dennoch keinen Anspruch auf Erstattung der aufgewendeten Kosten der Jugendhilfe in Höhe von 23.627,95 EUR. Zwar steht dem Erstattungsanspruch nicht § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII entgegen. Ihm widerstreitet hingegen der aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folgende kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Gemäß § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Das Gebot der Gesetzeskonformität der aufgewendeten Kosten zielt darauf ab, zum einen sicherzustellen, dass der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger bei der Leistungsgewährung nicht in Erwartung einer Erstattungsleistung die durch das Achte Buch Sozialgesetzbuch gezogenen Grenzen überschreitet, und zum anderen den erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger davor zu bewahren, Aufwendungen für solche Leistungen zu erstatten, die bei ordnungsgemäßer Leistungsgewährung nach Art oder Umfang so nicht hätten erbracht werden müssen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 14). Eine entsprechende Grenzüberschreitung steht hier nicht im Raum. Dass der Beklagte im Zuge der Gewährung der Hilfe zur Erziehung ihm durch das Achte Buch Sozialgesetzbuch gesetzte Grenzen überschritten und hierdurch die Interessen der Klägerin verletzt hätte, wird auch von dieser nicht geltend gemacht. Gegenstand der Einwendung ist vielmehr, dass es der Beklagte obliegenheitswidrig unterlassen habe, zunächst den Beigeladenen als zuständigen Träger der Sozialhilfe gerichtlich auf Erstattung der streitgegenständlichen Kosten in Anspruch zu nehmen.
Der Beklagte hätte die Erstattung des in Rede stehenden Betrags hingegen aus dem Grund nicht verlangen können, weil er dem kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz zuwidergehandelt hat. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folgt die Pflicht des kostenerstattungsberechtigten Sozialleistungsträgers, die Interessen des erstattungspflichtigen Trägers von Sozialleistungen zu wahren (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn.17).
Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Verwaltungsrecht (vgl. hierzu grundlegen BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 18 m.w.N.). Er wird aus § 242 BGB abgeleitet, der über seinen Wortlaut hinaus das allgemeine Gebot der Beachtung von Treu und Glauben im rechtlichen Verkehr als allgemeinen Maßstab enthält, unter dem das gesamte private und öffentliche Recht steht. Der genannte Grundsatz bedarf wegen seiner Allgemeinheit der Konkretisierung. Diese erfolgt durch Typisierung anhand von Fallgruppen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 18 m.w.N.). Der Grundsatz von Treu und Glauben begrenzt die Ausübung von Rechten. Ein außerhalb seiner Grenzen liegender Anspruch ist keine Ausübung eines „Rechts“, sondern Überschreitung desselben. Deshalb kann der aus § 242 BGB folgende Rechtsgrundsatz materiellen Ansprüchen entgegengehalten werden. Anspruchsvernichtende Wirkung kann ihm insbesondere zukommen, wenn der Anspruchsteller in seine Rechtsposition unter Verletzung eigener Rechtspflichten gelangt ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Im Zusammenhang mit Erstattungsansprüchen von Sozialleistungsträgern untereinander ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben der kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn.18). Danach hat der zur Kostenerstattung berechtigte Sozialleistungsträger bei der Leistungsgewährung die rechtlich gebotene Sorgfalt anzuwenden, zu deren Einhaltung er in eigenen Angelegenheiten gehalten ist. Der Erstattungsberechtigte muss nicht nur darauf hinwirken, dass der erstattungsfähige Aufwand gering ausfällt, sondern gegebenenfalls auch, dass der Anspruch gegenüber dem Erstattungspflichtigen nicht entsteht. Zur Erreichung dieser Ziele hat er alle nach Lage des Einzelfalles möglichen und zumutbaren Vorkehrungen und Maßnahmen zu treffen. Dies schließt auch ein darauf hinzuwirken, dass ein vorrangig zuständiger anderer Sozialleistungsträger den Anspruch des Hilfebedürftigen erfüllt. Insoweit kann auch die Beschreitung des Rechtsweges zur gerichtlichen Klärung der Zuständigkeit des anderen Trägers geboten sein, sofern dies nicht im Einzelfall aussichtslos erscheint (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn.18).
Der kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz kann einem Erstattungsanspruch hingegen nicht entgegengehalten werden, wenn offenkundig ist, dass es dem erstattungspflichtigen Sozialleistungsträger – vorliegend also der Klägerin – in gleicher Weise wie dem erstattungsberechtigten Träger – dem Beklagten – möglich wäre, einen vorrangig verpflichteten Träger der Sozialleistung mit Aussicht auf Erfolg in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall gebietet es der Grundsatz von Treu und Glauben nicht, dem erstattungsverpflichteten Träger den Schutz des kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes zukommen zu lassen. „Offenkundigkeit“ ist anzunehmen, wenn aus Sicht des nachrangig erstattungspflichtigen Sozialleistungsträgers kein Raum für einen vernünftigen Zweifel an dem Erfolg eines entsprechenden Erstattungsbegehrens bestehen kann (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 20).
Verletzt der erstattungsberechtigte Sozialleistungsträger den kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz, steht dies einem Erstattungsanspruch entgegen.
Aufgrund des kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes ist ein erstattungsberechtigter Träger der Jugendhilfe gehalten, statt den nach § 89a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erstattungspflichtigen Jugendhilfeträger einen vorrangig erstattungspflichtigen Träger der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Dies folgt aus der Wertung des Gesetzgebers, wie sie in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII zum Ausdruck kommt (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 22).
Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen die Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch den Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vor. Von diesem Grundsatz normiert § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eine Ausnahme für Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Diese Leistungen gehen den Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch vor. § 10 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB VIII findet Anwendung, wenn sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe bestehen und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (vgl. nur BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 5 C 26/98 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 2.3.2006 – 5 C 15/05 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn.31). Das Vorrang-Nachrang-Verhältnis des § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII wie auch des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist nicht nach dem Schwerpunkt der Leistung, sondern allein nach der Art der mit einer Jugendhilfeleistung konkurrierenden Sozialleistung abzugrenzen (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn. 36). Der Leistungsvorrang des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist daher auf die Eingliederungshilfe für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen beschränkt (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 23 m.w.N.).
Mit § 10 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VIII hat der Gesetzgeber das Rangverhältnis zwischen Leistungen der Jugendhilfe und solchen der Sozialhilfe und speziell der Eingliederungshilfe mit Wirkung für das Erstattungsrechtsverhältnis geregelt (BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 5 C 26/98 – juris). Dass beide Vorschriften nur das Verhältnis zwischen Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger, nicht hingegen auch das Verhältnis zweier Jugendhilfeträger betrifft, widerstreitet der Annahme einer Ausstrahlungswirkung auf den Interessenwahrungsgrundsatz nicht, da diesem gerade die Frage eines Vorrangs der Erstattung im Verhältnis zwischen dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger und dem Sozialhilfeträger zugrunde liegt (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 24).
Danach obliegt es dem erstattungsberechtigten Träger der öffentlichen Jugendhilfe in den von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII erfassten Fallgestaltungen regelmäßig, die Interessen des erstattungsverpflichteten Jugendhilfeträgers wahrzunehmen und sein Erstattungsbegehren vorrangig gegenüber dem Sozialhilfeträger zu verfolgen (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 25).
Gemessen an diesen Grundsätzen hätte die Klägerin dem Kostenerstattungsverlangen des Beklagten den aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folgenden kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz entgegenhalten können. Die eigenübliche Sorgfalt des Beklagten gebot es nämlich, zunächst den Beigeladenen aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf Erstattung der ihm in dem Hilfefall entstandenen streitgegenständlichen Kosten in Anspruch zu nehmen. Der Beigeladene ist dem Beklagten aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X grundsätzlich verpflichtet, die diesem im Hilfefall entstandenen streitgegenständlichen Kosten zu erstatten. Der Klägerin wäre eine Berufung auf den Interessenwahrungsgrundsatz im Verhältnis zum Beklagten auch nicht mit Blick auf die Offenkundigkeit der Erfolgsaussichten eines eigenen Erstattungsanspruchs gegen den Beigeladenen versagt gewesen. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Der Beigeladene ist dem Beklagten aus § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zur Erstattung der streitgegenständlichen Kosten grundsätzlich verpflichtet. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass nebeneinander Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger bestehen und die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen aus Gründen der System- oder Einzelanspruchssubsidiarität nachgeht (BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26). So liegt der Fall hier. Hinsichtlich der den streitgegenständlichen Kosten zugrundeliegenden Leistungen waren sowohl der Beklagte als auch der Beigeladene dem Grunde nach zur Leistung verpflichtet.
Die Pflegeeltern konnten gemäß § 27 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB VIII i.V.m. § 33 SGB VIII von dem Beklagten Hilfe zur Erziehung für die Vollzeitpflege des Kindes beanspruchen. Dies wird von den Beteiligten nicht in Abrede gestellt. Auch war die Unterbringung des Kindes Se. S. erforderlich. Gegenteiliges wurde weder vorgetragen noch ist es aus den Akten ersichtlich.
Der Beigeladene war aus § 53 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I, S. 3022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I., S. 2557) -SGB XII – i.V.m. § 55 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch vom 19. Juni 2001 (BGBl. I, S. 1046), zuletzt geändert durch Art. 452 Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I, S. 1474) – SGB IX – verpflichtet, dem Kind Se. S. für den streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen der Eingliederungshilfe zu gewähren. Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zählt neben den Leistungen nach den § 26, § 33, § 41 und § 55 SGB IX einzelne Leistungen der Eingliederungshilfe in nicht abschließender Form auf. § 54 Abs. 3 SGB XII normiert die Betreuung in einer Pflegefamilie ausdrücklich als mögliche Leistungsart der Eingliederungshilfe. Gemäß § 55 Abs. 1 SGB IX werden als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch nicht erbracht werden. Eine Einstufung der Vollzeitpflege in einer Pflegefamilie als Eingliederungshilfe liegt insbesondere nahe, wenn schwere körperliche und geistige Behinderungen eines Kindes dessen Unterbringung in einer sonderpädagogischen Pflegestelle erforderlich machen. In diesen Fällen sind wegen der Schwere der körperlichen und/oder geistigen Behinderungen neben den ohnehin aufgrund der Unterbringung außerhalb der eigenen Familie erforderlichen erzieherischen und pädagogischen Leistungen gerade auch in erheblichem Umfang therapeutische Leistungen zu erbringen, die in der Gesamtschau eine Qualifikation der Hilfe als Teilhabeleistungen und damit als Leistungen, die auch der Eingliederungshilfe unterfallen, rechtfertigen (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 37).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist auch die im streitgegenständlichen Leistungszeitraum gewährte Vollzeitpflege als Leistung der Eingliederungshilfe einzustufen. Aus dem Entwicklungsbericht des Pflegekinderdienstes vom 29. Juli 2014 und dem zuvor durchgeführten sprachfreien Testverfahren zur Erfassung der kognitiven Fähigkeiten ergibt sich, dass Se. S. einen IQ von 47 hat. Demgemäß war sie im streitgegenständlichen Zeitraum geistig behindert und somit in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt. Dass ihre Unterbringung in einer Pflegefamilie der Deckung eines etwaigen behinderungsbedingten Bedarfs dient, steht zwischen den Beteiligten außer Frage. Zwar wurde die stationäre Hilfe zunächst akut aus dem Betreuungsausfall der Eltern von Se. S. notwendig. Aus den Entwicklungsberichten ergibt sich jedoch, dass die Pflegemutter insbesondere aufgrund der geistigen Behinderung Hilfe und Unterstützung leistet. Auch der Beigeladene hat mit Schreiben vom 6. November 2018 seine Zuständigkeit und den behinderungsbedingten Bedarf sowie die Deckung dieses Bedarfes durch die Pflegefamilie von Se. S. für die Zeiträume vom 22. Januar 2014 bis zum 7. Mai 2014 und vom 1. Juli 2016 bis zum 31. Dezember 2018 vollumfänglich anerkannt. Demgemäß ist davon auszugehen, dass die Unterbringung des Mädchens in der Pflegefamilie die geeignete und notwendige Maßnahme der Eingliederungshilfe war. Gegenteiliges wurde weder vorgetragen noch ist derartiges nach Aktenlage ersichtlich.
Dies zugrunde gelegt begründet § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII einen Leistungsvorrang des Beigeladenen als Träger der Sozialhilfe gegenüber dem Beklagten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe, sofern die zu beanspruchenden Leistungen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Die Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege und die Eingliederungshilfe sind, soweit es die streitgegenständlichen familienpflegebezogenen Leistungen betrifft, nach ihrem Zweck und dem betreffenden Leistungszeitraum gleichartig. Gleichartigkeit liegt vor, wenn die Gewährung der Sozialleistung durch den erstleistenden Träger zugleich eine Verpflichtung des in Anspruch genommenen zweiten Trägers erfüllt hat (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 14.10.1998 – 5 C 2/98 – juris Rn. 10 m.w.N.). Einer „Einheit des Leistungsgrundes“ bedarf es nicht (BSG, U.v. 18.12.1986 – 4a RJ 1/86 – juris Rn. 21). Das ist vorliegend der Fall. Aus den Hilfeplanfortschreibungen ergibt sich, dass die Pflegemutter nicht nur den erzieherischen Bedarf gedeckt hat, sondern auch auf die geistige Behinderung von Se. S. eingegangen ist. Dadurch ist der Beigeladene im Umfang der Bedarfsdeckung von seiner Leistungspflicht freigeworden (vgl. hierzu auch BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 40). Dies ist im Übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig. Dass Empfänger der Jugendhilfeleistung die Pflegeeltern waren, während die Eingliederungshilfe dem Kind zu gewähren gewesen wäre, steht mit Blick auf das Ziel des Kongruenzerfordernisses, zweckidentische Doppelleistungen zu vermeiden, der Annahme einer Gleichartigkeit der Leistungen nicht entgegen (BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris).
Demgemäß ist der Beigeladene verpflichtet gewesen, dem Beklagten die diesem im Hilfefall entstandenen streitgegenständlichen Kosten dem Grunde nach zu erstatten.
Der Beklagte hat dadurch, dass er es unterlassen hat, den Beigeladenen auf Erstattung der betreffenden Aufwendungen in Anspruch zu nehmen, den kostenerstattungsrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatz verletzt. Er hat trotz der prinzipiellen Geltendmachung des Erstattungsanspruchs gegenüber dem Beigeladenen das Erstattungsbegehren nicht mit der gebotenen Intensität verfolgt. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Der Beklagte hat zwar mit Schreiben vom 22. Januar 2015 gegenüber dem Beigeladenen einen Erstattungsanspruch geltend gemacht. Auch mit weiterem Schreiben vom 29. Dezember 2016 hat der Beklagte den Beigeladenen erneut um Anerkennung der Kostenerstattungspflicht gebeten. Der Beigeladene teilte daraufhin mit, dass eine Erstattung einer bereits erstatteten Leistung nicht möglich sei. Von weiteren rechtlichen Schritten hat der Beklagte dann hingegen zunächst abgesehen. In Anbetracht des Umstandes, dass ihm die Betreibung eines entsprechenden Klageverfahrens zumindest nicht als aussichtslos erscheinen durfte, war es ihm nicht nur möglich, sondern auch zuzumuten, den Rechtsweg mit dem Ziel zu beschreiten, die Kostenverantwortung des Beigeladenen als vorrangig verpflichtetem Sozialleistungsträger zu realisieren (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 43). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat der Beklagte sein Erstattungsbegehren nicht mit der gebotenen Intensität verfolgt. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass der Beklagte mit Schriftsatz vom 10. April 2019 Klage gegen den Beigeladenen auf Erstattung der streitgegenständlichen Kosten vor dem Sozialgericht Würzburg erhoben hat. Dies erfolgte nämlich erst weit nach demdieser selbst im vorliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren von der Klägerin in Anspruch genommen wurde.
Die Klägerin war auch nicht gehindert, sich im Verhältnis zum Beklagten auf den Interessenwahrungsgrundsatz zu berufen. Es ist nicht offenkundig, dass es der Klägerin in gleicher Weise wie dem Beklagten möglich war, den Beigeladenen mit Aussicht auf Erfolg zur Erstattung heranzuziehen. Im Betracht kommt hier allein ein Erstattungsanspruch auf der Grundlage des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Der Annahme einer entsprechenden Offenkundigkeit widerstreitet, dass § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X voraussetzt, dass ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass nach § 89a Abs. 1 SGB VIII auch ein Anspruch auf Erstattung solcher Kosten besteht, die rechtmäßig zur Erfüllung eines Erstattungsanspruchs eines weiteren Jugendhilfeträgers aufgewendet worden sind (BVerwG, U.v. 5.4.2007 – 5 C 25/05 – juris); ob diese Rechtsprechung auf die Erbringung von Sozialleistungen im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu übertragen ist, ist indes höchstrichterlich nicht entschieden und war im streitgegenständlichen Leistungszeitraum jedenfalls nicht offenkundig (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 – juris Rn. 46).
Demgemäß stand der grundsätzlichen Kostenerstattungspflicht der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum der kostenerstattungsrechtliche Interessenwahrungsgrundsatz entgegen, sodass die Klägerin dem Beklagten die Kosten für die Zeit vom 8. Mai 2014 bis zum 30. Juni 2016 für die Unterbringung von Se. S. in einer Pflegefamilie zu Unrecht erstattete.
An diesem Ergebnis vermag auch das Kostenanerkenntnis der Klägerin gegenüber dem Beklagten vom 8. Januar 2015 nichts zu ändern. Dieses wurde nämlich mit Schreiben vom 29. März 2017 wirksam zurückgenommen.
Demgemäß besteht für den streitgegenständlichen Zeitraum ein Rückerstattungsanspruch gemäß § 112 SGB X der Klägerin gegenüber dem Beklagten, da die Kostenerstattung durch die Klägerin an den Beklagten zu Unrecht erfolgte. Der Klage war daher in vollem Umfang stattzugeben. Die Höhe der Forderung ist unbestritten und ergibt sich ebenso aus den Behördenakten.
Der Anspruch der Klägerin ist in analoger Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage (25.12.2018) zu verzinsen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen beruht auf § 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene stellte keinen Sachantrag, sodass er sich nicht dem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO Halbsatz 1 VwGO aussetzte. Daher entspricht es nicht der Billigkeit, seine außergerichtlichen Kosten dem Beklagten oder der Staatskasse aufzuerlegen.
Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.


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