Medizinrecht

Abschiebung, Schadensersatz, Ausreise, Asylantrag, Erkrankung, Versorgung, Bescheid, Gemeinde, Krankenversicherung, Bundesamt, Haftbefehl, Abfindung, Visum, Abschiebungsverbot, Kosten des Verfahrens, medizinische Versorgung, konkrete Gefahr

Aktenzeichen  Au 3 K 21.30550

Datum:
16.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 46003
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Die Klage ist unbegründet.
1. Das Bundesamt hat den Folgeantrag der Klägerin zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt. Da die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bei der Klägerin nicht vorliegen, ist ein weiteres Asylverfahren bei ihr nicht durchzuführen (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
a) Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids des Bundesamts verwiesen, der das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Insbesondere hat das Bundesamt zu Recht darauf verwiesen, dass sich aus den beim Bundesamt vorgelegten Dokumenten weder eine Änderung der Sachlage noch eine Änderung der Beweislage ergibt. Eine neue Sachlage liegt nicht vor, weil die Anhängigkeit eines Strafverfahrens in der Türkei wegen des Vorwurfs der Beleidigung des Landrats von … und das Vorliegen eines damit in Zusammenhang stehenden „Haftbefehls“ bereits Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens und des Urteils im Erstverfahren waren, wie sich aus der Begründung des Urteils vom 1. September 2020 (Au 6 K 18.31903) ergibt. Ebenso liegt keine neue Beweislage vor, weil sich aus den beim Bundesamt vorgelegten Unterlagen lediglich das ergibt, was schon im Erstverfahren vom Gericht als wahr angenommen wurde nämlich, dass in der Türkei gegen die Klägerin ein Strafverfahren wegen der Beleidigung des Landrats von … anhängig ist und dass in diesem Zusammenhang ein „Haftbefehl“ (so die dem Bundesamt vorgelegte Übersetzung des in den eingereichten Dokumenten verwendeten türkischen Begriffs „yakalama emri“) vorliegt.
b) Nichts Anderes ergibt sich auch aus den vom Klägerbevollmächtigten erstmalig in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Dokumenten in türkischer Sprache, aus der sich eine Fortdauer des Strafverfahrens und ein Fortbestand des „Haftbefehls“ ergeben soll.
aa) Diese Beweismittel sind als verspätet im Sinne des § 74 Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. § 87b Abs. 3 VwGO zurückzuweisen. Mit der Ladung, die dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 15. November 2021 zuging, wurde aufgefordert, sämtliche Beweismittel binnen einer Woche vorzulegen, und auf die Folgen der Fristversäumung hingewiesen. Die Dokumente wurden jedoch erst in der mündlichen Verhandlung am 16. Dezember 2021 vorgelegt. Zwar wurde den Dokumenten eine vom Klägerbevollmächtigten selbst gefertigte Übersetzung beigefügt. Die Berücksichtigung dieses Beweismittels würde nach der Überzeugung des Gerichts wegen der für die Überprüfung ihrer Authentizität nötigen Zeit zu einer erheblichen Verzögerung des Rechtsstreits führen. Eine Überprüfung der Authentizität erscheint schon deshalb angezeigt, weil insbesondere das vorgelegte gerichtliche Verhandlungsprotokoll schon in formaler Hinsicht von anderen vergleichbaren türkischen Verhandlungsprotokollen und auch von dem beim Bundesamt vorgelegten Verhandlungsprotokoll abweicht. Dies betrifft unter anderem die die Groß- und Kleinschreibung der Namen der Gerichtspersonen, die Unterstreichung und Fettsetzung bestimmter Elemente und vor allem die Darstellung der elektronischen Signatur der Gerichtspersonen. Im Übrigen ist nichts ersichtlich, weshalb die Klägerin die auf den 27. Mai und den 1. Juni 2021 datierenden Dokumente nicht schon früher hätte vorlegen können. Angesichts dessen war der Antrag daher nach umfassender Wertung in Ausübung richterlichen Ermessens als verspätet zurückzuweisen.
bb) Im Übrigen ergibt sich selbst bei Wahrunterstellung des Inhalts der vorgelegten Dokumente nichts anders. Denn auch sie belegen letztlich nichts anders als das, was schon im Erstverfahren vom Gericht als wahr angenommen wurde nämlich, dass in der Türkei gegen die Klägerin ein Strafverfahren wegen der Beleidigung des Landrats von … anhängig ist und dass in diesem Zusammenhang ein „Haftbefehl“ (so die vorgelegte Übersetzung des in den eingereichten Dokumenten verwendeten türkischen Begriffs „yakalama emri“) vorliegt.
c) Der Vortrag zum Gesundheitszustand der Klägerin und die zugehörigen ärztli chen Dokumente beziehen sich nicht auf die Frage der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, sondern sind im Rahmen der Prüfung, ob Abschiebungsverbote festzustellen sind, zu würdigen.
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf eine Abänderung der bestandskräftigen Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. Insoweit wird zunächst ausdrücklich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Auch aus den erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Attesten der Bezirkskliniken … (Dr. …) vom 28. Oktober 2021 und vom 14. Dezember 2021, die der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung und eine an mittelgradige Episode einer rezidivierenden depressiven Störung bescheinigen, ergibt sich nichts Anderes.
a) Die Klägerin leidet nicht an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die sich im Falle einer Abschiebung erheblich verschlechtern würde.
aa) Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie die Klägerin hier geltend macht, liegt nach Satz 2 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 -, juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Türkei) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG.
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung, dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 8; B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn. 7 jeweils m.w.N.).
bb) Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat die Klägerin hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen krankheitsbedingten Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht geht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 VwGO) davon aus, dass die Klägerin nicht an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet.
(1) Hinsichtlich der der hier geltend gemachten psychischen Erkrankung ist zu nächst zu beachten, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung für sich gesehen nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht den Tatbestand eines Abschiebungsverbots begründet. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist als solche weder lebensbedrohlich noch eine schwerwiegende Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). In Fällen einer posttraumatischen Belastungsstörung ist die Abschiebung regelmäßig möglich, es sei denn, die Abschiebung führt zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung (vgl. die Begründung zur Gesetzesänderung in BT-Drs. 18/7538, S. 18; Zeitler, HTKAuslR / § 60 AufenthG / zu Abs. 7 Satz 1 bis 4, Stand: 18.11.2016, Rn. 26; VGH München, B.v. 6.11.2017 – 11 ZB 17.31463 – juris – und B.v. 20.11.2017 – 11 ZB 17.31318 – juris -; OVG Bautzen, U.v. 20.4.2018 – 2 A 811/13.A – juris -).
(2) Abgesehen davon entsprechen im vorliegenden Fall die fachärztlichen Stel lungnahmen der Bezirkskliniken … (Dr. …) 28. Oktober 2021 und vom 14. Dezember 2021 nicht den in § 60a Abs. 2c) Satz 3 AufenthG genannten Erfordernissen.
Die Diagnose einer PTBS erfordert nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik (vgl. BayVGH, B.v. 4.11.2016 – 9 ZB 16.30468 – juris Rn. 25; B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris). Eine PTBS entsteht als „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (vgl. ICD10: F.43.1, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Die Störung ist also immer die direkte Folge der akuten schweren Belastung; ihr Beginn folgt dem Trauma (vgl. ICD-10: F 43 Info und F.43.1). Ein traumatisches Ereignis/Erlebnis ist damit zwingende Voraussetzung für die Entwicklung einer PTBS, und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41). Für die Annahme einer PTBS kommt es entscheidend auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebens und der zu Grunde liegenden äußeren Erlebnistatsachen an. Bei der PTBS handelt es sich nämlich um ein innerpsychisches Erleben, das sich einer Erhebung äußerlichobjektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht. Dieses innerpsychische Erleben setzt zwingend ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, voraus (s.o.).
Vorliegend ist bereits die Grundlage, auf der die Diagnose gestellt wurde, unzutreffend, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die vom o.g. behandelnden Arzt seiner Diagnose einer PTBS zugrunde gelegte äußere Erlebnisgrundlage entspricht nämlich nicht den Tatsachen, die im Streitfall nach Aktenlage und Klägervorbringen anzunehmen sind.
Die in den bei Gericht vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen enthaltene Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beruht im Hinblick auf die die PTBS auslösenden belastenden Ereignisse ausschließlich auf den eigenen Angaben der Klägerin zu ihrer Behandlung durch die türkischen Sicherheitsbehörden bei einer Vernehmung. Diese Angaben hat das Gericht jedoch schon im Erstverfahren für nicht glaubhaft erachtet (vgl. S. 15 des Abdrucks des Urteils vom 1. September 2020 im Verfahren Au 6 K 18.31903). Auch das erkennende Gericht kann diesbezüglich zu keiner anderen Einschätzung gelangen, weshalb auch den auf diesen unglaubhaften Angaben basierenden ärztlichen Stellungnahmen kein Beweiswert zukommen kann.
Als traumatisierendes Ereignis wird in der ärztlichen Stellungnahme vom 28. Oktober 2021 nur ganz vage eine Vernehmung, bei der die Klägerin schlecht behandelt und geschlagen worden sein soll, genannt. Die hierzu bei Gericht und beim Bundesamt gemachten Angaben sind jedoch widersprüchlich und damit unglaubhaft. Während die Klägerin nämlich in der mündlichen Verhandlung im Erstverfahren ihre angebliche Verhaftung im Zusammenhang mit der Pressekonferenz zum Schicksal ihres Sohnes ins Jahr 2015 datierte, führte sie in der mündlichen Verhandlung aus, ihre letzte Festnahme sei 2017 gewesen, wobei dies eben jene Festnahme gewesen sei, bei der sie im Zusammenhang mit der Pressekonferenz festgenommen worden sei. Weiter steigerte die Klägerin ihren Vortrag in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass bei einer Verhaftung ihrem Sohn in ihrer Anwesenheit ein Faustschlag verpasst worden sei, während sie zuvor weder beim Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung im Verfahren Au 6 K 18.31903 eine gemeinsame Verhaftung zusammen mit ihrem Sohn erwähnt hatte. Gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu den behaupteten Festnahmen spricht auch, dass ihre Aussagen zum Ort und zur konkreten Dauer der erlebten Verhaftungen in der mündlichen Verhandlung völlig im vagen und unbestimmten verblieben.
Auch die der Stellungnahme vom 14. Dezember 2021 zu Grunde liegenden Angaben sind letztlich unglaubhaft. Dort wird nämlich – abgesehen von der Bezugnahme auf die Angaben in der Stellungnahme vom 28. Oktober 2021 – erwähnt, nun liege ein zusätzlicher Trigger vor, weil in der Unterkunft der Klägerin nun als neue Mitbewohner eine türkische Familie eingezogen sei, die in der gleichen Partei Mitglied sei, die die Klägerin in der Türkei verfolgt habe. In der mündlichen Verhandlung räumte die Klägerin dagegen ein, dass die neuen Mitbewohner eine Gülenisten-Familie sei. Von einer etwaigen Mitgliedschaft dieser Familie in einer die türkische Regierung unterstützenden Partei (etwa der AKP oder der MHP) berichtete die Klägerin nichts. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine der Gülen-Bewegung zuzurechnende Familie potentiell selbst als Verfolgte der türkischen Regierung anzusehen ist. Auch diese ärztliche Stellungnahme geht damit von einer falschen Tatsachengrundlage aus.
(3) Daher war auch der in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag auf Einholung eines psychiatrischpsychologischen Sachverständigengutachtens zum Beweis, dass die Klägerin an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD 10: F 33.1), und an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F 43.10) leide und eine Rückkehr in den Herkunftsstaat mit Aussicht auf Inhaftierung kurz- bis mittelfristig eine erhebliche Gesundheitsverschlechterung zur Folge hätte, abzulehnen.
Da die vorgelegte Stellungnahme der Bezirkskliniken … (Dr. …) auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage beruht (s.o.), ist sie nicht zur Glaubhaftmachung der Anknüpfungstatsachen geeignet, weshalb es sich um die Beantragung eines unzulässigen Ausforschungsbeweises handelt.
cc) Aber selbst eine nachgewiesene posttraumatische Belastungsstörung würde nicht zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung führen. Denn es ist davon auszugehen, dass eine PTBS auch in der Türkei behandelbar ist.. Auch die der Klägerin diagnostizierte Depression ist in der Türkei behandelbar.
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in der Türkei in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2017 1.518 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 226.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 26). Psychiater praktizieren und elf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.000 Plätzen standen im Jahr 2017 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 26; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch ebenda Anlage I S. 33 f. sowie Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 18.8.2016, Behandlung und Pflege einer schizophrenen Person im Südosten der Türkei, S. 2). Die spezialisierte psychiatrische Fachklinik in Elazig deckt die Versorgung von Patienten in Südost- und Ostanatolien ab und verfügt über insgesamt 488 Betten, stationäre psychiatrische Versorgung ist auch in den Universitätskliniken in Gaziantep, Diyarbakir und Sanliurfa gewährleistet (SFH ebenda S. 3).
Nichts anderes ergibt sich letztlich daraus, dass für die Klägerin in der Türkei ein „Haftbefehl“ (so die vorgelegte Übersetzung des in den eingereichten Dokumenten verwendeten türkischen Begriffs „yakalama emri“) vorliegt. Daraus ist nicht mit der nötigen Sicherheit zu folgern, dass die Klägerin bei einer Rückkehr einer Haft mit Haftbedingungen unterworfen würde, die eine Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen ausschließen würde. Denn zum einen ergibt sich aus den vorgelegten Unterlagen nicht sicher, dass es Zweck des „Haftbefehls“ ist, die Klägerin einer längeren Untersuchungs- oder Strafhaft zuzuführen. Bereits im Urteil vom 1. September 2020 wurde festgestellt, dass es sich auch um einen Vorführhaftbefehl zur Vernehmung oder zur Gerichtsverhandlung der Klägerin handeln könnte. Hierfür spricht aus Sicht des erkennenden Gerichtes schon der Wortlaut, weil im türkischen der Begriff „yakalama emri“ verwendet wird, der wie dem Gericht aus einer Vielzahl anderer Verfahren bekannt ist, einen Festnahmebeschluss zur Vorführung zur Vernehmung oder zur Teilnahme an einer Verhandlung bezeichnet, während ein Haftbefehl mit „tutuklama emri“ bezeichnet wird. Bestätigt wird diese Einschätzung durch die vom Klägerbevollmächtigten vorgelegte Übersetzung des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreibens der Oberstaatsanwaltschaft vom 1. Juni 2021, in dem ausgeführt wird, „nach Vollstreckung des Haftbefehls wird die Vorführung erfolgen“. Zum anderen sieht das türkische Strafvollzugsgesetz (Ceza ve Güvenlik Tedbirlerinin İnfazı Hakkında Kanun) in Art. 16 ausdrücklich Möglichkeiten der Haftverschonung während eines nötigen Aufenthalts in stationärer psychiatrischer Behandlung oder die Verbüßung der Haft in Krankenhäusern vor. Weshalb dies im Fall im Klägerin nicht zum Tragen kommen sollte ist weder substantiiert dargelegt noch sonst erkennbar.
dd) Auch im Hinblick auf die im ärztlichen Bericht der Bezirkskliniken … vom 28. Oktober 2021 festgestellte Reiseunfähigkeit ist ein Abschiebungsverbot nicht geboten. Die Frage der Reisefähigkeit betrifft ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das nicht von der Beklagten geprüft werden kann. Wird festgestellt, dass die Klägerin nicht reisefähig ist, hat vielmehr die zum Vollzug berufene Ausländerbehörde hierauf entsprechend zu reagieren.
Auch auf den Abbruch einer Therapie können sich fremde Staatsangehörige regelmäßig nicht als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis berufen, denn sie können ein Recht auf Verbleib in dem Hoheitsgebiet des abschiebenden Staats grundsätzlich nicht beanspruchen, um weiterhin in den Genuss einer medizinischen, sozialen oder anderen Versorgung zu gelangen, die der abschiebende Staat während ihres Aufenthalts gewährt hat (vgl. EGMR, E.v. 7.10.2004 – 33743/03 (Dragan u. a./ Deutschland) – NVwZ 2005, S. 1043 ff. juris Rn. 86). Dies gilt auch für die durch eine Abschiebung möglicherweise abgebrochene medikamentöse Therapie Klägerin wegen ihrer durch die drohende Abschiebung ausgelösten psychischen Reaktionen, die allenfalls ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis betreffen.
b) Schließlich wäre die Klägerin bei einer Abschiebung auch bei einer möglicherweise krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsfähigkeit keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Zum einen war es der Klägerin vor ihrer Ausreise gelungen ihren Lebensunterhalt auch als geschiedene Frau und Mutter ihres damals noch minderjährigen, inzwischen jedoch volljährigen Sohnes durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, so dass dies auch bei einer Rückkehr in die Türkei von ihr erwartet werden kann.
Zum anderen sind die Grundversorgung und die medizinische Versorgung nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 25 f.).
II.
Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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