Medizinrecht

Analoge Anwendung des § 47a SGB V zur Vermeidung der Schlechterstellung bei Bezug von Verletztengeld gegenüber dem Bezug von Krankengeld

Aktenzeichen  S 23 U 18/17

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 11 Abs. 5, § 47, § 47a
SGB VI SGB VI § 170 Abs. 1 Nr. 2
SGB VII SGB VII § 47
SGB I SGB I § 31

 

Leitsatz

1 Es besteht ein Anspruch auf Entrichtung von Beiträgen an die berufsständische Versorgungseinrichtung in entsprechender Anwendung der für das Krankengeld geltenden Vorschriften, da § 47a SGB V analog anzuwenden ist. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Mit der Einführung des § 47a SGB V sollten Pflichtmitglieder in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung in der gesetzlichen Rentenversicherung Pflichtversicherten im Hinblick auf die Beitragszahlung aus dem Krankengeld gleichgestellt werden. Für das Verletztengeld wurde eine entsprechende Regelung nicht eingeführt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Gesetzgeber hat das SGB VII in diesem Zusammenhang nicht geändert, weshalb er offensichtlich auch nicht das Verletztengeld im Blick hatte. Bei der Zahlung von Verletzten- bzw. Krankengeld handelt es sich aber für die Betroffenen um vergleichbare Sachverhalte; wesentlicher Unterschied ist die Ursache der Arbeitsunfähigkeit. Deshalb wäre eine Ungleichbehandlung von Versicherten bei Bezug von Kranken- und Verletztengeld bezüglich der Beiträge zur Alterssicherung nicht gerechtfertigt. (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
4 Die Entscheidung des BSG (BeckRS 2001, 41295) steht der analogen Anwendung nicht entgegen, weil es nicht um den Ausgleich der Auswirkungen verschiedener Systeme der Altersvorsorge geht, sondern um die Verhinderung der Schlechterstellung von Versicherten während des Bezugs von Verletztengeld gegenüber dem Bezug von Krankengeld. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 17.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2016 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, für die Klägerin für den Zeitraum des Bezugs von Verletztengeld vom 01.01.2016 bis 15.05.2016 Beiträge in entsprechender Anwendung der für das Krankengeld geltenden Vorschriften an die berufsständische Versorgungseinrichtung der Klägerin zu zahlen.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Das Schreiben der Beklagten vom 17. Oktober 2016 war zwar nicht als Verwaltungsakt bezeichnet, es war aber auf eine (negativ feststellende) Regelung des vorliegenden Einzelfalls gerichtet und hatte gegenüber der Klägerin hoheitliche Wirkung.
Die Klage ist auch begründet, da die Klägerin für den geltend gemachten Zeitraum einen Anspruch auf Entrichtung von Beiträgen an ihre berufsständische Versorgungseinrichtung in entsprechender Anwendung der für das Krankengeld geltenden Vorschriften hat.
Eine dem § 47a SGB V entsprechende Vorschrift ist im SGB VII nicht enthalten. Angesichts des klaren Wortlauts des § 47 SGB VII, der lediglich auf §§ 47 Abs. 1 und 2 sowie 47b SGB V verweist, ist eine Anwendung des § 47a SGB V auch nicht mittels Auslegung zu gewinnen. Allerdings ist § 47a SGB V analog anzuwenden: Es liegt eine unbewusste Regelungslücke vor, ohne deren Schließung durch analoge Anwendung des § 47a SGB V es zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte kommen würde.
Es besteht eine Regelungslücke: Mit Einführung des ab 1. Januar 2016 für Zeiten des Bezugs von Krankengeld gültigen § 47a SGB V durch das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) vom 16. Juli 2015 (Bundesgesetzblatt 2015 Teil 1 Nr. 30, S. 1211 ff) sollten Pflichtmitglieder in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung in der gesetzlichen Rentenversicherung Pflichtversicherten im Hinblick auf die Beitragszahlung aus dem Krankengeld gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung sei sachgerecht, da insbesondere Mitglieder in berufsständischen Versorgungseinrichtungen auch auf der Leistungsseite Ansprüche z.B. im Bereich der Rehabilitation hätten, so dass eine hinreichende Vergleichbarkeit mit der Rentenversicherung bestehe (vgl. BT-Drs. 18/4095, S. 81). Für den Bereich des Verletztengeldes wurde eine entsprechende Regelung nicht eingeführt.
Aufgrund des klaren Wortlauts des § 11 Abs. 5 SGB V besteht kein (subsidiärer) Krankengeldanspruch neben einem Verletztengeldanspruch, so dass auch nicht etwa die zusätzlichen Beitragszahlungen zu Versorgungseinrichtungen von der Krankenversicherung übernommen würden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. November 2015 (Az. B 3 KR 3/15 R). Dieses bezieht sich auf Verletztengeld, das nicht aus dem gesamten Erwerbseinkommen berechnet wurde, sondern nur auf der Grundlage einer freiwilligen Unfallversicherung zu einer nebenberuflichen, selbstständigen Tätigkeit.
Es handelt sich um eine unbewusste Regelungslücke. Zwar hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass dem Gesetzgeber die Frage der Beiträge zu Versorgungseinrichtungen auch im Bereich des SGB VII grundsätzlich hätte bekannt sein müssen. Allerdings ist zu beachten, dass im Rahmen des GKV-VSG keine Änderung des SGB VII vorgenommen wurde. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die Besonderheiten des Unfallversicherungsrechts und damit auch das Verletztengeld beim Gesetzgebungsverfahren zum GKV-VSG nicht im Blick hatte. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund anzunehmen, dass der Gesetzgeber z.B. bereits im Jahr 1995 bei Änderung des damaligen Arbeitsförderungsgesetzes darauf hinwies, dass eine Benachteiligung von in berufsständischen Versorgungswerken versicherten Personen in Fällen des § 3 Satz 1 Nr. 3 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) vermieden werden müsse (vgl. BT-Drs. 13/3150, S. 46 zu Artikel 10 Nr. 9a). Zudem ging der Gesetzgeber (ebenfalls bereits 1995, Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz) davon aus, dass die Berechnungsgrundlagen für die Höhe des Krankengeldes und des Verletztengeldes gleich seien (vgl. BT-Drs. 13/2204 S. 124 zu Art. 4 Nr. 1).
Bei der Zahlung von Verletzten- bzw. Krankengeld handelt es sich für die betroffenen Versicherten um vergleichbare Sachverhalte. Wesentlicher Unterschied ist die Ursache der Arbeitsunfähigkeit. Wenngleich die Höhe der Entgeltersatzleistung bei § 47 SGB VII gegenüber § 47 SGB V leicht modifiziert ist, vgl. § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB VII („Maßgabe“), rechtfertigt dies allein nicht eine andere Behandlung bei den Beiträgen zur Alterssicherung bei Verletztengeldbezug auf der einen und Krankengeldbezug auf der anderen Seite. Vielmehr ist allgemein davon auszugehen, dass die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung typischerweise eher höher sind als diejenigen der gesetzlichen Krankenversicherung (so auch BSG, Urteil vom 25. November 2015 aaO., juris Rz. 17, 20). Bei in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten führt die leicht unterschiedliche Höhe der beiden Entgeltersatzleistungen (Kranken- bzw. Verletztengeld) hinsichtlich der Übernahme der Arbeitgeberbeiträge durch den jeweiligen Leistungsträger ebenfalls nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Eine Ungleichbehandlung von Versicherten bei Bezug von Kranken- bzw. Verletztengeld bezüglich der finanziell durchaus relevanten Beiträge zur Alterssicherung wäre nicht gerechtfertigt und willkürlich. Unabhängig davon, ob Kranken- oder Verletztengeld im Raum steht, ist der jeweilige Arbeitgeber nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung gesetzlich nicht mehr zur Tragung von Beiträgen zur Alterssicherung verpflichtet. Diese werden bezüglich der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 170 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI hälftig vom jeweils zuständigen Leistungsträger übernommen. Vor Einführung des § 47a SGB V galt Entsprechendes bei in berufsständischen Versorgungswerken Versicherten nicht. Dieser Personenkreis musste Beiträge zur Alterssicherung vielmehr trotz einer im Vergleich zum Regelentgelt reduzierten Entgeltersatzleistung allein finanzieren. Das stand zwar im Widerspruch zum o.g. Willen des Gesetzgebers aus dem Jahr 1995, war aber nicht willkürlich, sondern konnte durch die unterschiedlichen Systeme der Alterssicherung gerechtfertigt werden. Dieses zulässige Unterscheidungskriterium wurde vom Gesetzgeber durch die Einführung des § 47a SGB V aufgegeben. Nunmehr wäre es willkürlich, die ausgewogenen Vorgaben des Gesetzgebers zur Berechnung des dem Versicherten verbleibenden Nettos durch eine Schlechterstellung von Verletztengeldbeziehern bei den Beitragszahlungen zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen zu konterkarieren. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Schlechterstellung vom Gesetzgeber gewollt wäre.
Die Rechtsprechung des BSG steht einer analogen Anwendung des § 47a SGB V für das Verletztengeld nicht entgegen. Zwar hat das BSG u.a. in seinem Urteil vom 14. Februar 2001 (Az. B 1 KR 25/99 R) darauf hingewiesen, dass insgesamt die Übernahme der gesetzlichen, berufsständischen und privaten Altersvorsorge bei Arbeitsunterbrechungen in sehr unterschiedlicher Weise geregelt sei. Dies stehe einer analogen Anwendung von Vorschriften für in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte auf (freiwillige) Mitglieder berufsständischer Versorgungseinrichtungen entgegen. Eine künftige Grenzziehung werde anderenfalls nahezu unmöglich (vgl. BSG aaO., juris Rz. 19). Eine der genannten Argumentationslinie des BSG vergleichbare Konstellation liegt seit Inkrafttreten des § 47a SGB V jedoch nicht mehr vor. Im hier zu entscheidenden Fall geht es nicht darum, die Auswirkungen verschiedener Systeme der Altersvorsorge auszugleichen. Die Frage ist vielmehr, ob Versicherte während des Bezugs von Verletztengeld schlechter gestellt werden als bei Bezug von Krankengeld.
Die Regelung des § 31 SGB I kann der Klägerin von der Beklagten bei einer analogen Anwendung des § 47a SGB V nicht entgegengehalten werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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