Medizinrecht

Anfechtungsklage, Entziehung der Fahrerlaubnis, Nichtvorlage des geforderten ärztlichen Gutachtens, 83-jährige Fahrerlaubnisinhaberin, Zweifel an der Fahreignung (psychische Erkrankung, schwere chronische Bronchitis)

Aktenzeichen  W 6 K 21.513

Datum:
28.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 53570
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3
FeV § 11 Abs. 1
FeV § 11 Abs. 8
FeV § 46 Abs. 3
Nrn. 7.5, 7.8 und 11.3 der Anlage 4 zur FeV

 

Leitsatz

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.   

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten auf deren Durchführung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
1. Die erhobene Klage ist sinngemäß dahingehend auszulegen, dass die Klägerin eine Aufhebung des Bescheids des Landratsamts Bad Kissingen vom 11. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Unterfranken vom 11. Mai 2021 begehrt, § 88 VwGO.
Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig, insbesondere ist sie entgegen der Auffassung des Beklagten zu keinem Zeitpunkt verfristet gewesen.
Die Klage ist zulässig, wenn sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen. Zu den besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der Anfechtungsklage gehören die Durchführung des Vorverfahrens, §§ 68 ff. VwGO, die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 VwGO sowie die Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO. Wird der Widerspruchsbescheid angefochten, ist zusätzlich § 79 VwGO zu beachten.
Grundsätzlich ist während eines statthaften und noch offenen Widerspruchsverfahrens die Erhebung einer Klage unstatthaft, vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Widerspruchsbehörde über den Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat, § 75 Satz 1 VwGO. Dann ist die Erhebung einer Anfechtungsklage zulässig, ohne dass es einer Entscheidung über den Anfechtungswiderspruch bedürfte, da das Klagebegehren auf die Aufhebung der behördlichen Entscheidung gerichtet ist. Gleiches gilt, wenn die Behörde zu erkennen gibt, dass sie in der Sache keine Entscheidung treffen wird. Für die Beurteilung des Gerichts, ob die Klage (schon) zulässig ist, kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 75 Rn. 11). In der Sache handelt es sich bei § 75 VwGO um eine zusätzliche Prozessvoraussetzung (Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 1; vgl. VG Würzburg, U.v. 1.10.2021 – W 6 K 21.25, BeckRS 2021, 30549 Rn. 27, beck-online).
Maßgebend für die Beurteilung dieser Sachurteilsvoraussetzungen sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (BVerwG NVwZ 2018, 986 Rn. 17; Eyermann/Happ, 15. Aufl. 2019, VwGO § 42 Rn. 24; Kopp/Schenke, Vorb. § 40 Rn. 11). Wird im schriftlichen Verfahren entschieden, kommt es auf den Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung an.
Der Entziehungsbescheid vom 11. Januar 2021 wurde der Klägerin am 14. Januar 2021 zugestellt. Die Monatsfrist des hiergegen gegebenen Rechtsmittels – Klage oder alternativ Widerspruch – lief damit bis zum 15. Februar 2021, da der 14. Februar 2021 ein Sonntag war. Vorliegend hat die Klägerin am 20. Januar 2021 „Einspruch“ erhoben, der sinngemäß als Widerspruch auszulegen war und von der Behörde auch so verstanden wurde. Über den Widerspruch wurde in der Folgezeit zunächst nicht entschieden, sodass die Klägerin am 14. April 2021 Klage vor dem Verwaltungsgericht erhob. Hierbei handelt es sich prozessual gesehen um eine Anfechtungsklage in Form einer Untätigkeitsklage, § 75 Satz 1 VwGO. Ungeachtet dessen, dass zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich keine Untätigkeit der Verwaltung vorgelegen hat, sodass zum Zeitpunkt der erstmaligen Anhängigkeit eine Zulässigkeit wohl zu verneinen gewesen wäre, kommt es darauf nicht an, da eine Untätigkeitsklage in ihre Zulässigkeit durch Zeitablauf hineinwachsen kann, da maßgeblicher Zeitpunkt vorliegend derjenige der gerichtlichen Entscheidung ist. Nachdem in der Folgezeit die Widerspruchsbehörde mit Bescheid vom 11. Mai 2021, der Klägerin zugestellt am 14. Mai 2021, über den eingelegten Widerspruch entschieden hatte, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021 gegenüber dem Gericht eindeutig ihren Willen bekundet, den Widerspruchsbescheid zum Gegenstand ihrer Klage machen zu wollen und hat diesen damit zum Verfahrensgegenstand gemacht. Hierbei handelt es sich um eine zulässige Erweiterung des Streitgegenstands nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts war die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Landratsamts vom 11. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Mai 2021 damit zulässig.
2. Die Klage hat jedoch keinen Erfolg, da sie unbegründet ist. Denn der Bescheid des Landratsamts Bad Kissingen vom 11. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung Unterfranken vom 11. Mai 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Klägerin wurde zu Recht die Fahrerlaubnis entzogen und die Rückgabe des Führerscheins gefordert. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Entziehungssowie Widerspruchsbescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V. m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen, finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Gemäß Anlage 4 zur FeV ist bei bestimmten Erkrankungen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr teilweise ausgeschlossen, teilweise wird die Eignung abhängig von den Umständen des Einzelfalls beurteilt. Nach der hier einschlägigen Norm des § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens an, wenn Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, so darf sie bei ihrer Entscheidung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Voraussetzung ist allerdings insoweit, dass die Untersuchungsanordnung rechtmäßig ist und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt (BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 25/04 – DAR 2005, 581; BayVGH, B.v. 25.6.2008 – 11 ZB 08.1123 – juris).
Die behördlicherseits vorgegebene Fragestellung in der Gutachtensanordnung muss insbesondere den sich aus § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV ergebenden Anforderungen gerecht werden. Der Betroffene soll sich für den Fall der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung auch darüber schlüssig werden können, ob er die mit einer Begutachtung regelmäßig verbundenen Eingriffe in sein Persönlichkeitsrecht und/oder sein Recht auf körperliche Unversehrtheit hinnehmen oder sich – mit der Gefahr, seine Fahrerlaubnis entzogen zu bekommen – einer entsprechenden Begutachtung verweigern will. In materieller Hinsicht setzt die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Untersuchung vor allem voraus, dass sie den Grundsätzen der Anlassbezogenheit und Verhältnismäßigkeit genügt (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2008 – 11 C 08.1030 – juris). Vor diesem Hintergrund und im Hinblick darauf, dass eine Gutachtensanordnung nicht isoliert mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann, kann auf die strikte Einhaltung der vom Verordnungsgeber für die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aufgestellten formalen Voraussetzungen nicht verzichtet werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2012 – 11 ZB 12.1596 – ZfSch 2013, 177).
Nachdem die Klägerin der zu Recht ergangenen Aufforderung vom 31. August 2020 zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens ohne hinreichenden Grund nicht nachgekommen ist, durfte der Beklagte gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV wegen der Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens auf die Nichteignung der Klägerin schließen, die Fahrerlaubnis entziehen und die Herausgabe des Führerscheins anordnen, § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 und Abs. 3 FeV, § 47 Abs. 1 FeV.
Das Bekanntwerden der psychischen Erkrankung einerseits und den schweren Atemwegserkrankungen (nach eigener Aussage der Klägerin vom 26. August 2020 könne sie deshalb sehr schwer atmen und laufen) andererseits, stellt einen hinreichenden Anlass dar, der gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV i.V.m. Nrn. 7.5, 7.6 und 11.3 der Anlage 4 zur FeV aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung der Klägerin begründet. Diesbezüglich ist es unerheblich, dass die Fahrerlaubnisbehörde von diesem Umstand in einem Kontext erfuhr, der in keinem Zusammenhang mit einer Teilnahme der Klägerin am Straßenverkehr stand.
Die Gutachtensaufforderung ist hinreichend nach Art und Umfang bestimmt, die Fragestellung wahrt die Grenzen der Verhältnismäßigkeit, die gesetzte Frist von über zwei Monaten ist ebenfalls ausreichend. Die genannte Rechtsgrundlage ist zutreffend, das eröffnete Ermessen wurde fehlerfrei ausgeübt. Die erforderlichen Hinweise auf einen Arzt nach § 11 Abs. 2 Nr. 5 FeV und Anlage 14 zur FeV sowie § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV sind enthalten. Sonstige Fehler sind weder ersichtlich noch wurden sie dargelegt. Das Gericht schließt sich vollumfänglich den zutreffenden Ausführungen im Widerspruchsbescheid an. Der Beklagte hat in der Gutachtensaufforderung auf die Folgen einer Nichtbeibringung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV hingewiesen. Nachdem die Klägerin dieser Aufforderung nicht nachgekommen ist, erfolgte die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtmäßig.
Mit dem Einwand, die in Bezug genommenen medizinischen Gutachten bzw. der Polizeibericht vom 14. August 2020 seien rechtswidrig bzw. auf einer unzutreffenden Grundlage erstellt, kann die Klägerin nicht durchdringen. Denn ihr Vorbringen ist pauschal und wenig nachvollziehbar, sodass es deren Aussagekraft und die sich daraus ergebenden Zweifel nicht zu erschüttern vermag. Die Klägerin hat weder dargelegt, noch ist ersichtlich, weshalb die Mitteilung der Polizei vom 14. August 2020 fehlerhaft sein sollte. Ebenso wenig ist ersichtlich oder dargelegt, weshalb die beiden Gutachten vom 30. Oktober 2019 bzw. 8. August 2020, die im Rahmen des Betreuungsverfahrens für das Betreuungsgericht Bad Kissingen erstellt wurden, fehlerhaft oder auf einer unzutreffenden Grundlage erstellt worden sein sollten. Die Gutachten wurden von zwei verschiedenen Fachärzten für Psychiatrie zur Frage einer Einrichtung bzw. Abbestellung einer Betreuung der Klägerin erstellt. Die Einwände der Klägerin erscheinen umso mehr unberechtigt, als zwei voneinander unabhängige Gutachter der Klägerin in ihren Stellungnahmen eine fehlende Krankheitseinsicht hinsichtlich ihrer psychischen Erkrankung bescheinigt haben.
Soweit die Klägerin wiederholt vorbringt, sie sei zwingend auf ihr Fahrzeug angewiesen, kann sie damit nicht gehört werden. Die sicherheitsrechtliche Fahrerlaubnisentziehung ist eine präventive Maßnahme zum Schutz der Sicherheit im Straßenverkehr. Sie mag im Einzelfall einschneidende Folgen für die Lebensführung des Betroffenen haben, jedoch können persönliche Härten für die Klägerin beim Entzug der Fahrerlaubnis, der als sicherheitsrechtliche Maßnahme im Interesse der Allgemeinheit ergeht, nicht berücksichtigt werden.
Bedenken im Hinblick auf die Nebenentscheidungen des verfahrensgegenständlichen Bescheids sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
3. Die Klage war daher mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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