Medizinrecht

Anordnung erkennungsdienstlicher Behandlung einer Muslimin in unverschleiertem Zustand

Aktenzeichen  W 9 K 18.252

Datum:
18.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36986
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 81b 2. Alt
VwGO § 114 S. 2
GG Art. 4

 

Leitsatz

1 Trägt eine Frau muslimischen Glaubens aus religiösen Gründen ein Kopftuch in der Öffentlichkeit, stellt die Aufnahme von Lichtbildern von ihr in unverschleiertem Zustand einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit dar und zwar unabhängig davon, ob bei der Fertigung der Aufnahmen ausschließlich weibliche Beamtinnen anwesend sind. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Notwendigkeit von Maßnahmen für Zwecke des Erkennungsdienstes nach § 81b Alt. 2 StPO beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Vornahme dieser Maßnahmen. Im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle einer streitigen, noch nicht vollzogenen Anordnung zur erkennungsdienstlichen Behandlung kommt es deshalb für die Beurteilung der Notwendigkeit der Maßnahme auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an (ebenso BayVGH BeckRS 2013, 58893). (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Anordnung der Aufnahme von Lichtbildern von einer das muslimische Kopftuch tragenden Frau in unverschleiertem Zustand ist nur verhältnismäßig, wenn es möglich erscheint, dass ein Zeuge Merkmale wie Haare, Ohren und Hals überhaupt wahrnehmen kann. Davon ist grundsätzlich nicht auszugehen, wenn die Frau bislang nicht in unverschleiertem Zustand in der Öffentlichkeit aufgefallen ist. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Nr. 1 des Bescheids der Polizeiinspektion Bad Brückenau vom 15. September 2016 wird insoweit aufgehoben, als die erkennungsdienstliche Behandlung der Klägerin in Form der Fertigung von Lichtbildern in unverschleiertem Zustand, d.h. ohne Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt, angeordnet wird.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, die insbesondere als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft ist, ist begründet.
Nr. 1 des Bescheids der PI Bad Brückenau vom 15. September 2016 ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zwar liegen die Voraussetzungen für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO vor und der Beklagte hat ohne Ermessensfehler die grundsätzliche Notwendigkeit einer Anordnung nach § 81b 2. Alt. StPO bejaht. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Gründe des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 7. November 2016 im Verfahren W 5 S 16.1017 Bezug genommen.
Die in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids getroffene Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Klägerin im gänzlich unverschleierten Zustand hält jedoch einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, da sie ermessensfehlerhaft erging und sich die Anordnung mangels Erforderlichkeit als unverhältnismäßig erweist.
Der Bescheid leidet hinsichtlich der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung der Klägerin im gänzlich unverschleierten Zustand an einem Ermessensfehler in Form des Ermessensausfalls.
Rechtsgrundlage der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ist § 81b 2. Alt. StPO, wonach, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, u.a. Lichtbilder des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen werden dürfen. Zur Vorbereitung der Identifizierungsmaßnahmen kann auch die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes des Beschuldigten angeordnet und gegebenenfalls zwangsweise durchgeführt werden (vgl. Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, 5. Aufl. 2012, § 81b Rn. 12 f.).
Der Erlass einer Anordnung nach § 81b 2. Alt. StPO liegt im Ermessen der Behörde, dessen ordnungsgemäße Ausübung vom Gericht im Rahmen von § 114 VwGO, Art. 40 BayVwVfG lediglich auf Ermessensfehler hin überprüft werden kann. Dem Gericht ist es hingegen versagt, die behördlichen Ermessenserwägungen durch eigene zu ersetzen.
Die von der Behörde zu treffende Entscheidung umfasst sowohl die Frage, ob sie handeln will (Erschließungsermessen), als auch die Frage, wie sie handeln will (Auswahlermessen). Dabei hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (Art. 40 BayVwVfG). Ein Ermessensfehler liegt zunächst dann vor, wenn die Behörde überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat (sog. Ermessensausfall), wenn sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschreitet (sog. Ermessensüberschreitung), wenn sie nicht alle nach Lage des Falles betroffenen Belange in ihre Ermessensentscheidung eingestellt, sie ihre Entscheidung also auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage getroffen hat (sog. Ermessensdefizit) und schließlich wenn von dem durch die Befugnisnorm eingeräumten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist, die Behörde sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder ein Belang willkürlich falsch gewichtet (sog. Ermessensfehlgebrauch) worden ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 14 ff.).
Ob die Ermessensausübung im Einzelfall pflichtgemäß oder fehlerhaft erfolgte, lässt sich nur anhand der nach Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG erforderlichen Begründung ermitteln (Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 14 ff.). Eine bezüglich der Ermessensausübung fehlende oder unzureichende Begründung indiziert einen Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch, sofern sich nicht aus den Umständen anderes ergibt (Eyermann, VwGO, § 114 Rn. 23).
So liegt der Fall hier:
Zwar ist die Ausübung des Auswahlermessens durch die PI Bad Brückenau hinsichtlich der Fertigung von Lichtbildern im Rahmen der erkennungsdienstlichen Behandlung im Allgemeinen nicht zu beanstanden. Die Geeignetheit und Notwendigkeit von Lichtbildern für Identifizierungszwecke ist im streitgegenständlichen Bescheid hinreichend dargelegt. Es lässt sich diesem jedoch nicht entnehmen, dass die PI Bad Brückenau ihr Auswahlermessen hinsichtlich der konkret getroffenen Maßnahme der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Klägerin im unverschleierten Zustand ausgeübt hat. Die insoweit fehlende Begründung des Verwaltungsakts indiziert den Ermessensausfall. Erwägungen zur Geeignetheit und Erforderlichkeit einer solchen Maßnahme finden sich im Bescheid nicht. Darüber hinaus lässt sich dem Bescheid nicht entnehmen, dass die Interessen der Klägerin berücksichtigt worden wären, zumal diese vor Bescheiderlass nicht angehört wurde und somit ein Ermittlungsdefizit vorliegt. Auch aus den sonstigen Umständen ergibt sich kein Anhaltspunkt, dass die Behörde den Aspekt der Religionsfreiheit der Klägerin bei der streitgegenständlichen Entscheidung berücksichtigt hat.
Die Klägerin beruft sich nachvollziehbar auf einen unzulässigen Eingriff in ihre Religionsfreiheit. Im vorliegenden Fall ist daher der Schutzbereich der Religionsfreiheit betroffen und der inhaltliche Geltungsbereich dieses Grundrechts durch die streitgegenständliche Anordnung beeinträchtigt.
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes Grundrecht, das die Freiheit des Glaubens und das Recht auf freie Religionsausübung garantiert. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, d.h. einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen, und einem anderen Glauben zuzuwenden („forum internum“), sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben („forum externum“). Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben, wozu auch die religiös motivierte Gestaltung des äußeren Erscheinungsbilds durch Kleidung gehört (BVerfG, U.v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02 – BVerfGE 108, 282; VG Augsburg, U.v. 30.6.2016 – Au 2 K 15.457 – juris m.w.N.).
Bei Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben (BVerfG, B.v. 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 – BVerfGE 24, 236). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine religiös anzusehende Motivation hat (vgl. z.B. BVerfG, U.v. 15.1.2002 – 1 BvR 1783/99 – BVerfGE 104, 337).
Nach diesem Verständnis des Grundrechts der Religionsfreiheit ist dessen Schutzbereich eröffnet, weil das Tragen eines muslimischen Kopftuches („Hidschab“), durch das Haare und Hals nachvollziehbar aus religiösen Gründen bedeckt werden, als Teil der Religionsausübung nach außen in den Bereich des sog. „forum externum“ fällt (BVerfG, B.v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10; VG Augsburg – a.a.O. m.w.N.). Die Klägerin macht auch – ohne dass dies zweifelhaft erscheint – eine religiöse Motivation für das von ihr als aus Glaubensgründen verpflichtend dargestellte Tragen des Kopftuchs geltend. Die religiöse Fundierung der Pflicht, als Frau ein islamisches Kopftuch zu tragen, ist plausibel und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt (s. hierzu BVerfG, B.v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – BVerfGE 138, 296; VG Augsburg – a.a.O.).
Die Aufnahme von Lichtbildern der Klägerin im gänzlich unverschleierten Zustand ist auch als Eingriff in die Religionsfreiheit zu sehen – unabhängig davon ob bei Durchführung der Aufnahmen ausschließlich eine weibliche Beamtin anwesend ist -, denn die Aufnahmen sind aufgrund ihrer Speicherung weiteren, auch männlichen Polizisten zugänglich und werden ggf. auch im Rahmen von Zeugenbefragungen verwendet, wie die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat.
Nachdem ein Ermessensgebrauch der Behörde bei der Auswahl der streitgegenständlichen Maßnahme nicht festzustellen ist und der Aspekt der Religionsfreiheit der Klägerin nach den vorliegenden Akten und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht berücksichtigt wurde, liegt insofern ein Ermessensausfall vor, der von der Behörde auch nicht durch Ergänzung der Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren kompensiert werden konnte.
Zwar kann gemäß § 114 Satz 2 VwGO die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Das Polizeipräsidium Unterfranken hat in der Klageerwiderung vom 16. November 2016 Ausführungen zur Erforderlichkeit der Maßnahme und zur Interessenabwägung gemacht und explizit erklärt, von der Möglichkeit des Nachschiebens von Gründen Gebrauch zu machen.
Insoweit bedarf es aber einer Abgrenzung zwischen der bloßen Ergänzung defizitärer Ermessenserwägungen (insofern treffend der Wortlaut von § 114 Satz 2 VwGO) und der neuen Ermessensentschließung (Eyermann, VwGO, § 114 Rn. 90). Im Anwendungsbereich des § 114 Satz 2 VwGO liegen jedoch nur Fälle, in welchen bei einem Ermessensverwaltungsakt unvollständige Ermessenserwägungen ergänzt wurden, nicht hingegen jene, in denen es an Ermessenserwägungen bisher fehlte, das Ermessen also gar nicht ausgeübt wurde und nun erstmals ausgeübt wird oder wesentliche Teile der Ermessenserwägungen ausgetauscht oder erst nachträglich nachgeschoben wurden (Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 50 m.w.N.; Eyermann, VwGO, § 114 Rn. 90).
Die ganz h.M. (vgl. BeckOK VwGO/Decker, § 114 VwGO Rn. 40 ff. m.w.N.) geht im Hinblick auf den Wortlaut „ergänzen“ in § 114 Satz 2 VwGO davon aus, dass ein (völliges) Auswechseln der Ermessenserwägungen ebenso nicht unter die Vorschrift subsumiert werden kann, wie eine erstmalige Begründung einer Ermessensentscheidung, z.B. weil erst im Prozess erkannt wird, dass der Behörde ein Ermessensspielraum eröffnet ist bzw. war (vgl. BVerfG, B.v. 9.7.2007 – 2 BvR 206/07 – NVwZ 2007, 1178). § 114 Satz 2 VwGO setzt mithin voraus, dass schon vorher bei der behördlichen Entscheidung Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts angestellt worden sind, das Ermessen also in irgendeiner Weise betätigt worden ist (OVG Lüneburg, B.v. 13.4.2007 – 2 LB 14/07 – BeckRS 2007, 22992; BayVGH, U.v. 18.1.2010 – 11 BV 08.789 – BayVBl 2010, 371).
Hier lagen im verwaltungsbehördlichen Verfahren einschließlich des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids hinsichtlich der Auswahlentscheidung bzgl. der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung im unverschleierten Zustand keine unvollständigen Ermessenserwägungen vor. Vielmehr gab es diesbezüglich keine Ermessensentscheidung. Wenn nun aufgrund der Erkenntnisse im Eilverfahren bzw. Hauptsacheverfahren erstmals Ermessenserwägungen angestellt werden, liegt hierin kein Fall des Nachschiebens von Gründen i.S.d. § 114 Satz 2 VwGO. Der streitgegenständliche Bescheid leidet hinsichtlich der Ausübung des Auswahlermessens bzgl. der angeordneten Maßnahme der erkennungsdienstlichen Behandlung im unverschleierten Zustand an einem Ermessensausfall und erweist sich deshalb als materiell rechtswidrig.
Es kann daher auch offen bleiben, ob die im gerichtlichen Verfahren vom Beklagten angestellten Ermessenserwägungen – etwa eine herabgesetzte Schutzwürdigkeit der Religionsfreiheit der Klägerin aufgrund eines Missbrauchs der Bekleidung – ihrerseits den Anforderungen an eine ermessensfehlerfreie Entscheidung genügen oder etwa sachfremde Erwägungen enthalten. Ebenfalls kommt es nach alledem auf den Aspekt, ob der angeordnete Eingriff in die Religionsfreiheit der Klägerin verfassungsrechtlich gerechtfertigt wäre, nicht mehr an.
Die streitgegenständliche Anordnung erweist sich auch als unverhältnismäßig, da nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung eine Notwendigkeit der Fertigung von Lichtbildern der Klägerin im unverschleierten Zustand nicht ersichtlich ist. Die Notwendigkeit der angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen für die Zwecke des Erkennungsdienstes i.S.d. § 81b Alt. 2 StPO beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Vornahme dieser Maßnahmen; insoweit ist nicht nur auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme der erkennungsdienstlichen Behandlung abzustellen. Im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle einer streitigen, noch nicht vollzogenen Anordnung zur erkennungsdienstlichen Behandlung kommt es deshalb für die Beurteilung der Notwendigkeit der Maßnahme auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an, weil die Vollziehung der Anordnung noch bevorsteht (vgl. BayVGH, U.v. 12.11.2013 – 10 B 12.2078 – juris m.w.N.).
Als Zwangsmaßnahme unterliegt die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b 2. Alt. StPO dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die erkennungsdienstlichen Unterlagen müssen im Wiederholungsfall zur Förderung der dann zu führenden Ermittlungen geeignet erscheinen (vgl. Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, 5. Aufl. 2012, § 81b Rn. 12 f.).
Warum es für Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig sein soll, die Klägerin, die in der Vergangenheit strafrechtlich ausschließlich mit Ladendiebstahl aufgefallen und bei der Tatausübung jeweils mit einem Hidschab bekleidet aufgetreten ist, gänzlich unverschleiert zu fotografieren, erschließt sich weder aus dem streitgegenständlichen Bescheid in Verbindung mit dem Inhalt der von dem Beklagten vorgelegten Akten, noch aus dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere der Anhörung der Klägerin.
Zunächst lässt sich den Behördenunterlagen nicht entnehmen, dass die Klägerin jemals in einem Ladengeschäft oder ansonsten in der Öffentlichkeit ohne die von ihr üblicherweise getragene Kopfbedeckung gesehen worden wäre oder dass dies überhaupt in Betracht kommt. Nachdem der Beklagte die Klägerin vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides nicht angehört hat, war ihm auch nicht bekannt, dass es für die Klägerin aus religiösen Gründen ausgeschlossen ist, sich in der Öffentlichkeit ohne Hidschab zu bewegen. Im Sofortverfahren hat die damals zur Entscheidung berufene Kammer die Bedeutung des Tragens eines Kopftuchs aus religiösen Gründen für die Klägerin der Verfahrensakte W 7 K 15.30524 des asylrechtlichen Klageverfahrens der Klägerin, in dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Urteil vom 11. Juli 2016 verpflichtet wurde, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, entnommen.
Dem Beklagten gelang es auch im gerichtlichen Verfahren nicht, die Notwendigkeit der Fertigung von Lichtbildern der Klägerin im gänzlich unverschleierten Zustand, d.h. ohne den von ihr üblicherweise getragenen Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt, darzulegen. Es mag sein, dass Haare, Ohren und Hals einer Person für die polizeiliche Ermittlungsarbeit grundsätzlich wesentliche Merkmale darstellen, anhand derer Zeugen ein Gesicht vom anderen unterscheiden können. Dies gilt allerdings nur in Fällen, in denen es überhaupt möglich erscheint, dass ein Zeuge diese Merkmale einer Person, die er identifizieren soll, wahrgenommen haben kann. Ansonsten bestünden bereits Zweifel an der Geeignetheit der Fertigung solcher Lichtbilder für Identifizierungszwecke. Jedenfalls wäre die Anordnung der Fertigung von Lichtbildern, die Körperteile zeigen, die eine Person niemals unbedeckt in der Öffentlichkeit zeigt, im Falle einer Wiederholungsgefahr von Delikten, die in der Öffentlichkeit begangen werden, nicht notwendig. Die Klägerin ist in der Vergangenheit ausschließlich mit Ladendiebstahlsdelikten aufgefallen. Warum vorliegend nach Ansicht des Beklagten Bilder von den Haaren, den Ohren und dem Hals der Klägerin vorgehalten werden müssen, ist nicht nachvollziehbar, da diese Körperteile der Klägerin weder bislang von Zeugen im Rahmen eines Diebstahlsdelikts gesehen wurden oder gesehen werden konnten sowie von einer Überwachungskamera aufgenommen werden konnten, noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Klägerin hierbei künftig ohne ihre üblicherweise getragene Kopfbedeckung aufgenommen oder gesehen werden könnte. Die Vertreterin des Beklagten führte in der mündlichen Verhandlung aus, es lägen zwar keine Erkenntnisse vor, dass die Klägerin sich in der Öffentlichkeit ohne die von ihr üblicherweise getragene Kopfbedeckung bewege, es sei aber auch nicht auszuschließen, dass die Klägerin im unverschleierten Zustand unterwegs sei. Nach Überzeugung des Gerichts war jedoch bereits im Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht zu erwarten, dass die Klägerin auch unverschleiert in der Öffentlichkeit unterwegs sein wird. Auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehen hierfür keinerlei Anhaltspunkte. In Übereinstimmung mit ihren Ausführungen im Verfahren W 7 K 15.30524 legte die Klägerin auf Befragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubhaft dar, dass sie bereits im Heimatland nur mit dem Hidschab in die Öffentlichkeit gegangen sei und dies auch in Deutschland fortführe, da im Koran stehe, sie müsse ihren Kopf vor fremden Männern bedecken. Angesichts der von der Klägerin eindringlich dargestellten Bedeutung, die das Tragen des Kopftuchs für sie habe, hält das Gericht es für ausgeschlossen, dass die Klägerin künftig aus taktischen Gründen ohne Kopfbedeckung Ladendiebstahlsdelikte begehen könnte, wie von Seiten des Beklagten gemutmaßt wird. Im Übrigen setzt sich der Beklagte mit dieser Annahme in Widerspruch zu seiner Auffassung, die Klägerin nutze ihre weite Bekleidung zur Tatbegehung aus. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kommt noch hinzu, dass die Klägerin, die sich im Übrigen der erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen hat, seit Erlass des Bescheides nicht mehr mit Straftaten aufgefallen ist und auch einen inneren Einstellungswandel plausibel darlegen konnte, so dass auch aus diesem Grund die Fertigung von Lichtbildern im unverschleierten Zustand aus jetziger Sicht nicht mehr erforderlich und damit unverhältnismäßig erscheint.
Nach alledem erweist sich die Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Klägerin im gänzlich unverschleierten Zustand bereits aus den genannten Gründen als unverhältnismäßig, ohne dass es insoweit noch darauf ankommt, ob die angeordnete erkennungsdienstliche Maßnahme auch einen unzulässigen Eingriff in die freie Religionsausübung der Klägerin darstellt.
Als Unterlegener hat der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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