Medizinrecht

Anspruch auf Unterbringung eines Obdachlosen in einem Einzelzimmer

Aktenzeichen  M 22 E 17.3704

Datum:
22.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
VwGO VwGO § 123

 

Leitsatz

1 Die von der Sicherheitsbehörde zu leistende Obdachlosenfürsorge dient der Verschaffung einer vorübergehenden Unterkunft einfacher Art. Obdachlose Personen müssen, weil ihre Unterbringung nur eine Notlösung sein kann, eine weitgehende Einschränkung ihrer Wohnansprüche hinnehmen, wobei freilich die Grenze zumutbarer Einschränkungen dort liegt, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (ebenso BayVGH BeckRS 2012, 57203). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2 Voraussetzung für das Vorliegen von Obdachlosigkeit ist, dass es dem Betroffenen nicht möglich ist, der Wohnungslosigkeit aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln zu begegnen (ebenso BayVGH BeckRS 2008, 27444). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung seiner Obdachlosigkeit ein Einzelzimmer in einer Unterkunft zuzuweisen und vorläufig bis einschließlich 2. Oktober 2017 zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Am 8. August 2017 beantragte der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München zur Niederschrift,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, ihn ab sofort im Rahmen der Hilfe für Obdachlose in einem Einzelzimmer unterzubringen.
Zur Begründung seines Antrags bringt der Antragsteller vor, er sei seit 5. August 2017 obdachlos. Von Oktober 2016 bis 5. August 2017 habe er bei seiner Mutter in der R. Straße … in G. zur Untermiete gewohnt, da sich die Antragsgegnerin trotz der nachgewiesenen Notwendigkeit zur Unterbringung in einem Einzelzimmer bisher geweigert habe, ihn auf diese Weise unterzubringen. Er leide seit 38 Jahren an schweren Depressionen, seit einiger Zeit auch verbunden mit einer chronisch-rezidivierenden bipolaren Störung mit therapieresistenter manischer Episode. Er sei aufgrund dieser Erkrankung zu 60% schwerbehindert und beziehe seit 1. Februar 2017 eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 426,27 Euro. Er verfüge nicht über die finanziellen Mittel, sich vorübergehend in eine günstige Pension einzumieten. Die Unterbringung in einem Einzelzimmer sei aufgrund der schweren psychischen Erkrankungen zwingend erforderlich, da andernfalls mit einer akuten psychischen Dekompensation und massiven Komplikationen gerechnet werden müsse. Die weitere Unterbringung bei seiner Mutter sei nicht möglich, da dies zu einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes führen würde und derzeit auch kein Kontakt bestehe.
Der Antragsteller legte mehrere fachärztliche Atteste sowie Nachweise über seine finanzielle Situation vor.
Mit Schreiben vom 9. August 2017 beantragte die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt sie aus, der Antragsteller habe sowohl am 11. Oktober 2016 als auch am 14. Februar 2017 bei der Antragsgegnerin wegen der obdachlosenrechtlichen Unterbringung in einem Einzelzimmer vorgesprochen. Dem Antragsteller sei mitgeteilt worden, dass zur Unterbringung in einem Einzelzimmer ein ärztlicher Nachweis erforderlich sei und er weitere Unterlagen über seine Bedürftigkeit einreichen müsse. Seither habe kein Kontakt mehr bestanden. Vielmehr habe die Antragsgegnerin von der AWO-Wohnungsnothilfe die Information erhalten, dass der Antragsteller bei seiner Mutter unterkommen könne und von Seiten seiner Familie nach einer geeigneten Unterkunft gesucht werde. Die Mutter des Antragstellers sei bereit, die Kosten für eine Unterkunft zu übernehmen. Daraus ergebe sich, dass der Antragsteller nicht obdachlos sei. Zum einen habe er seine Bedürftigkeit nicht hinreichend glaubhaft gemacht, zum anderen sei er in der Lage, die Obdachlosigkeit selbst zu beheben, da nach Kenntnis der Antragsgegnerin weiterhin die Bereitschaft der Mutter des Antragstellers bestehe, ihn finanziell zu unterstützen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag des Antragstellers nach § 123 VwGO ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht, vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.
1. Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Zuweisung einer Unterkunft zu Vermeidung von Obdachlosigkeit ist Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG. Danach ist die Sicherheitsbehörde zum Tätigwerden verpflichtet, um die in der Obdachlosigkeit bestehende Gefahr für Leben und Gesundheit des Betroffenen abzuwehren.
2. Die von der Sicherheitsbehörde zu leistende Obdachlosenfürsorge dient dabei nicht der „wohnungsmäßigen Versorgung“, sondern der Verschaffung einer vorübergehenden Unterkunft einfacher Art (vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5). Auch unter Berücksichtigung der humanitären Zielsetzung des Grundgesetzes ist es ausreichend, wenn obdachlosen Personen eine Unterkunft zugewiesen wird, die vorübergehend Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt. Obdachlose Personen müssen, weil ihre Unterbringung nur eine Notlösung sein kann, eine weitgehende Einschränkung ihrer Wohnansprüche hinnehmen, wobei freilich die Grenze zumutbarer Einschränkungen dort liegt, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 14.7.2005 – 4 C 05.1551). Der Betroffene hat grundsätzlich keinen Anspruch auf Zuweisung einer bestimmten oder von ihm gewünschten Unterkunft (vgl. VG München, B.v. 2.12.2008 – M 22 E 08.5680 – juris Rn. 10). Dementsprechend ist auch ein Anspruch auf Zurverfügungstellung eines Einzelzimmers nur ausnahmsweise denkbar, wenn auf andere Weise eine menschenwürdige und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung nicht möglich wäre.
2.1 Gemessen an diesen Vorgaben ist die Antragsgegnerin nach summarischer Prüfung verpflichtet, den Antragsgegner (vorläufig) in einem Einzelzimmer obdachlosenrechtlich unterzubringen. Der Antragsteller kann einen Anordnungsanspruch auf obdachlosenrechtliche Unterbringung in einem Einzelzimmer hinreichend glaubhaft machen. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten ist erkennbar, dass einzig durch die Zurverfügungstellung eines Einzelzimmers eine die Grundrechte auf Menschwürde und körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung gewährleistet ist. Insbesondere geht aus den fachärztlichen Stellungnahmen vom 13. Februar 2017, 7. August 2017 sowie vom 18. August 2017 hervor, dass aufgrund der schweren psychischen Erkrankungen des Antragstellers derart gravierende psychischen Beeinträchtigungen bestehen, die eine Unterbringung in einem Einzelzimmer zwingend erforderlich machen. Andernfalls steht ausweislich der eingereichten fachärztlichen Atteste zu befürchten, dass sich der gesundheitliche Zustand des Antragstellers in einer Weise verschlechtert, die ihm nicht zugemutet werden kann.
2.2 Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin steht es der Bejahung des Anordnungsanspruchs auch nicht entgegen, dass der Antragsteller zur Selbsthilfe in der Lage sei. Voraussetzung für das Vorliegen von Obdachlosigkeit ist, dass es dem Betroffenen nicht möglich ist, der Wohnungslosigkeit aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln zu begegnen. Dies folgt aus dem Subsidiaritätsgrundsatz, wonach die Selbsthilfe Vorrang vor dem Einschreiten der Sicherheitsbehörde nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG besitzt (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2008 – 4 CE 07.2893 – juris Rn. 7; VG Augsburg, B.v. 1.12.2016 – Au 7 E 16.1669).
Vorliegend stehen dem Antragsteller ausreichende eigene Mittel nicht zur Verfügung. Die dem Gericht vorgelegten Kontoauszüge und sonstigen Nachweise über die finanziellen Verhältnisse lassen erkennen, dass der Antragsteller nicht über hinreichende Einkünfte verfügt, um sich mit eigenen Mitteln eine Wohnung oder ein Zimmer zu verschaffen. Dem Antragsteller steht kein nennenswertes Vermögen zur Verfügung. Einkünfte erzielt der Antragsteller lediglich aus einer Erwerbsminderungsrente sowie aus Sozialhilfe nach dem SGB XII, welche ihrer Höhe nach nicht ausreichen dürften, um der Obdachlosigkeit – und sei es auch nur vorübergehend – wirksam durch Anmietung einer Wohnung oder eines Zimmers zu begegnen.
Ferner hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass derzeit eine Beseitigung der Obdachlosigkeit durch eine Unterbringung bei seiner Mutter nicht möglich erscheint. Aus dem ärztlichen Attest vom 17. August 2017 geht hervor, dass sich der gesundheitliche Zustand des Antragstellers während seines Aufenthalts bei seiner Mutter stetig verschlechtert hat. Ausweislich des fachärztlichen Attests vom 13. Februar 2017 führt eine Unterbringung in der Wohnung der Mutter zu massiven Konfliktsituationen, die eine gesundheitliche Dekompensation des Antragstellers nach sich führen würden.
Inwiefern derzeit die Bereitschaft der Mutter besteht, den Antragsteller finanziell zu unterstützen, um eine Unterkunft anzumieten, ist für das Gericht nicht erkennbar. Es ist nichts dahingehend ersichtlich, dass durch eine Hilfestellung der Mutter kurzfristig – worauf es hier alleine ankommt – eine Beseitigung der Obdachlosigkeit erfolgen könnte.
2.3 Bedenken, der Antragsteller sei nicht unterbringungsfähig, vermag die Kammer anhand der vorgelegten Atteste sowie der Behördenakte nicht zu erkennen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich des Umgangs mit obdachlosen Menschen, die häufig ein unbequemes und störendes Verhalten an den Tag legen, kein kleinlicher Maßstab angelegt werden darf. Für den Fall etwa, dass es zu erheblichen Unzuträglichkeiten gekommen ist, aufgrund derer es gerechtfertigt oder geboten erscheint, den Untergebrachten aus der ihm zugewiesenen Obdachlosenunterkunft zu verweisen, kann nicht ohne Weiteres bereits davon ausgegangen werden, dass keine Unterbringungsfähigkeit gegeben sei und damit die ordnungsbehördliche Verpflichtung, eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, entfiele (vgl. VG München, B.v. 10.5.2017 – M 22 E 17.1791). Je nach den Umständen muss die Behörde in solchen Fällen vielmehr auch in Betracht ziehen, ob nicht die Möglichkeit einer anderweitigen der Situation angemessenen Unterbringung besteht (vgl. Ehmann, Obdachlosigkeit, 2. Aufl. 2006, Nr. 3.1.5).
Im vorliegenden Fall kann aus den in Bezug genommenen Unterlagen nicht gefolgert werden, dass der Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht unterbringungsfähig wäre. Die nachgewiesenermaßen bestehenden psychischen Erkrankungen des Antragstellers reichen hierfür allein nicht aus. Konkrete Geschehnisse, die Zweifel an der Unterbringungsfähigkeit aufkommen lassen würden, gehen aus den zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht hervor.
2.4 Ein Anordnungsgrund folgt aus der Eilbedürftigkeit, da der Antragsteller nach seinen glaubhaften Angaben bereits seit mehreren Tagen ohne Obdach ist.
3. Im Hinblick darauf, dass es im vorliegenden Verfahren nur um eine vorläufige Rechtschutzgewährung geht und sich die maßgeblichen Verhältnisse kurzfristig ändern können, wird die Anordnung befristet, wobei darauf hinzuweisen ist, dass der Antragsteller und seine Betreuerin, zu deren Aufgaben unter anderem auch Wohnungsangelegenheiten gehören, gehalten sind, sich – ggf. unter Inanspruchnahme von Behörden oder Sozialleistungsträgern (vorliegend könnten Ansprüche auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach §§ 67 Satz 1, 68 SGB XII bestehen) – um eine anderweitige Unterkunft zu bemühen. Bei Ablauf der Frist ist von der Antragsgegnerin erneut zu prüfen, ob dem Antragsteller weiterhin Obdachlosigkeit droht und eine Verlängerung der Unterbringung veranlasst ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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