Medizinrecht

Anspruch auf Zahlung einer Versorgungsrente und Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Schockschadens

Aktenzeichen  L 20 VG 4/13

Datum:
28.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 130014
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BVG § 30 Abs. 1 S. 1 u. 3 u. Abs. 2, § 31 Abs. 1 S. 1
OEG § 1 Abs. 1 S. 1
StGB § 113 Abs. 1, § 121, § 185, § 186, § 187, § 223, § 226 Abs. 1 Nr. 1 u. 3, § 240

 

Leitsatz

Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu sogenannten “Schockschäden” bei einem Sekundäropfer erfordert eine “besonders schreckliche Gewalttat”. Eine solche Gewalttat ist nur bei Totschlag und Mord sowie vergleichbaren Gewalttaten anzunehmen. Eine schwere Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB fällt nicht darunter. (Rn. 38 und 40)

Verfahrensgang

S 4 VG 13/12 2012-11-27 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 27. November 2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG), aber nicht begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 07.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2012, mit dem der Beklagte bei der Klägerin in der Zeit vom 15.06.2011 bis längstens 30.06.2011 als Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 OEG Kopfschmerzen und diesbezüglich einen Anspruch auf Heilbehandlung anerkannt, die Zahlung einer Versorgungsrente und die begehrte Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Schockschadens aber abgelehnt hat.
Zu Recht hat das SG die Klage gegen den Bescheid vom 07.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2012 abgewiesen.
Die von der Klägerin insoweit erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Bescheid vom 07.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2012 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zutreffend hat der Beklagte als vorübergehende Gesundheitsstörung bei der Klägerin anlässlich der Gewalttat vom 15.06.2011 in der Zeit vom 15.06.2011 bis längstens 30.06.2011 Kopfschmerzen und diesbezüglich einen Anspruch auf Heilbehandlung anerkannt, die Zahlung einer Versorgungsrente und die begehrte Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Schockschadens aber abgelehnt. Anlässlich der Gewalttat vom 15.06.2011 kann die Klägerin über den 30.06.2011 hinaus keine Heilbehandlung beanspruchen; die Zahlung einer Versorgungsrente steht ihr auch nicht zu, da über die seitens des Beklagten insoweit anerkannten vorübergehenden Kopfschmerzen keine weiteren Gesundheitsstörungen anlässlich dieser Gewalttat bei der Klägerin vorliegen (dazu unter 2). Zutreffend hat der Beklagte auch die von der Klägerin begehrte Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge eines Schockschadens abgelehnt; die Klägerin ist insoweit weder als vom Schutzbereich des OEG erfasstes sogenanntes Sekundäropfer anzusehen noch steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin durch die Kenntniserlangung von der zum Nachteil ihres Sohnes verübten Gewalttat vom 30.11.2010 einen Schock erlitten hat (dazu unter 1.). Mangels Vorliegens dauerhafter Gesundheitsstörungen kann auch kein GdS festgestellt werden, so dass auch eine Erhöhung eines solchen wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG nicht in Betracht kommt (dazu unter 3.).
1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
Ab einem GdS von 30 erhalten Beschädigte eine monatliche Grundrente (vgl. § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG). Der GdS ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG). Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten (§ 30 Abs. 1 Satz 3 BVG).
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Absatz 1 Satz 1 OEG geht der Senat von folgenden Erwägungen aus:
Mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der Senat der Auffassung, dass die Verletzungshandlung im OEG nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch (StGB) geregelt ist, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des „tätlichen Angriffs“ auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 1/13 R, juris Rn. 19; BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VG 2/10 R, juris Rn. 32 m.w.N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB wird der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt und wirkt damit körperlich (physisch) auf einen anderen ein (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 1/13 R, juris Rn. 20 m.w.N.). Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt i.S. des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher Kraft (BSG, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.). Damit liegt ein tätlicher Angriff nach § 1 OEG bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (vgl. BSG, Urteil vom 07.04.2011, B 9 VG 2/10 R, Rn. 35 m.w.N.), wobei sich dieser grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person auszeichnet (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 36 m.w.N.). Ein tätlicher Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt im Regelfall bei einem gewaltsamen, handgreiflichen Vorgehen gegen eine Person vor, setzt jedoch nach seiner äußeren Gestalt nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus; dahinter steht der Gedanke, dass auch nicht zum (körperlichen) Widerstand fähige Opfer von Straftaten den Schutz des OEG genießen sollen (BSG, a.a.O., Rn. 37; BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 1/13 R, juris Rn. 21). Andererseits reicht die bloße Verwirklichung eines Straftatbestandes, z.B. eines Vermögensdelikts, allein für die Annahme eines tätlichen Angriffs i.S. von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht aus, auch wenn das Opfer über den eingetretenen Schaden „verzweifelt“ und z.B. seelische Gesundheitsschäden davonträgt (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 1/13 R, Rn. 22 m.w.N.). Mit Rücksicht auf die grundlegende gesetzgeberische Entscheidung, dass durch die Verwendung des Begriffs des tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein soll, ist nach der Rechtsprechung des BSG schon immer in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt die Grenze der Wortlautinterpretation erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichteten Einwirkungen – ohne Einsatz körperlicher Mittel – allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellen und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielen (BSG, a.a.O., Rn. 22 m.w.N.). Im Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 1/13 R, hat das BSG dies dahingehend präzisiert, dass ein tätlicher Angriff dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt (dazu sogleich). Bereits im Urteil vom 14.02.2001 (B 9 VG 4/00 R) zum Phänomen des „Mobbings“ hatte das BSG entschieden, dass für die Anwendbarkeit von § 1 Abs. 1 OEG ein tätlicher Angriff als eine in strafbarer (d.h. mit Strafe bedrohter) Weise unmittelbar auf den Körper eines anderen abzielende Einwirkung erforderlich ist (BSG, a.a.O., Rn. 14). Damit ist ein nicht-tätliches Vorgehen, möge dies das Opfer auch in seinem Ansehen, seiner Ehre, gesellschaftlichen Reputation und Selbstachtung attackiert und verletzt haben, nicht vom Anwendungsbereich des § 1 OEG erfasst, denn für die Anwendung des OEG ist von seinem Grundgedanken auszugehen, dass nur Opfer von Gewalttaten entschädigt werden sollen (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 14). Das OEG deckt mithin nicht alle – sonstigen – aus dem Gesellschaftsleben folgenden Verletzungsrisiken ab, die einem anderen als dem Geschädigten zuzurechnen sind (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 14). Von den vor allem bei „Mobbing“ in Betracht kommenden Ehrverletzungsdelikten Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung (§§ 185, 186, 187 StGB) kann nur die Beleidigung auch durch Tätlichkeit begangen werden; dasselbe gilt für die Nötigung (§ 240 StGB) und wird bei der Körperverletzung (§ 223 StGB) die Regel sein (BSG, a.a.O., Rn. 15). Mit neuerem Urteil vom 16.12.2014 (B 9 V 1/13 R) hat das BSG nunmehr – unter Aufgabe von alter Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 24.07.2002, B 9 VG 4/01 R) – deutlich ausgeführt, dass ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 OEG eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraussetzt und die bloße Drohung mit einer – wenn auch erheblichen – Gewaltanwendung oder Schädigung für einen tätlichen Angriff nicht ausreicht. Danach lässt das BSG eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person auch ohne physische Einwirkung (Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc.) nicht mehr bereits aufgrund der objektiven Gefährlichkeit der Situation (z.B. Drohung mit geladener Schusswaffe) für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG ausreichen (BSG, a.a.O., Rn. 24). Eine Einwirkung ohne den Einsatz körperlicher Mittel allein auf einer intellektuell bzw. psychisch vermittelten Beeinträchtigung, zu der das Opfer mit einer Bedrohung für Leib oder Leben zu bestimmten Handlungen bzw. Unterlassungen genötigt werden soll, stellt somit keinen tätlichen Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG dar (vgl. BSG, a.a.O., Rn, 27).
Das OEG räumt zudem grundsätzlich Ansprüche nur unmittelbar Geschädigten ein, wobei „Unmittelbarkeit“ grundsätzlich als enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungs„tatbestand“ und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder verstanden wird (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 14 m.w.N.). Sie betrifft eine Vorfrage der Kausalität und begrenzt den berechtigten Personenkreis (BSG a.a.O.). Ob das Opfer einer Gewalttat durch den Angriff „unmittelbar“ geschädigt worden ist, beurteilt sich je nach den Umständen des Einzelfalls wertend anhand des Schutzzwecks des Gesetzes (BSG a.a.O.).
Die grundsätzliche Einschränkung, dass nur die Folgen unmittelbarer Schädigungen entschädigt werden, entfällt für den Anwendungsbereich des OEG nicht etwa deswegen, weil nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch eine Person anspruchsberechtigt sein kann, die durch einen auf eine andere Person verübten Angriff geschädigt wird („aberratio ictus“; BSG, Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 16). Während nach dem Recht der Kriegsopferversorgung eine gezielte Schädigung des Opfers nicht Anspruchsvoraussetzung ist, weil Personen, die durch Kampfhandlungen unbeabsichtigt mitgeschädigt werden, fraglos zum Kreis der Entschädigungsberechtigten zählen, bedarf das Recht der Gewaltopferentschädigung zur Erstreckung des gesetzlichen Schutzes auf Opfer, gegen die sich die vorsätzliche Gewalttat nicht gerichtet hat (Sekundäropfer), einer ausdrücklichen Erweiterung (BSG a.a.O.). Diese findet sich in § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG (vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff gegen „eine andere Person“). Dazu ist in der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) der Bundesregierung vom 27.08.1974 (BT-Drucks. 7/2506 S. 14) sinngemäß bemerkt, die Beschränkung der Anspruchserfordernisse auf vorsätzliche Gewalttaten mache eine Ausweitung des berechtigten Personenkreises nötig. Es wurde dabei an Fälle gedacht, „in denen ein tätlicher Angriff rechtlich als fahrlässige Straftat zu werten ist, eine Entschädigung des Verletzten aber dennoch angebracht ist, weil die Handlung der Gewaltkriminalität zuzurechnen ist“; das ist zum Beispiel bei der so genannten „aberratio ictus“ der Fall, wenn der Schuss des Angreifers fehlgeht und einen anderen trifft als den, auf den gezielt worden war (vgl. BSG, Urteil vom 07.11.1979, 9 RVg 1/78, juris Rn. 16; s.a. BT-Drucks. 7/2506 S. 14). Grundsätzlich wird jedoch damit der Kreis der Entschädigungsberechtigten gegenüber dem Kriegsopferrecht nicht erweitert, denn auch das Opfer einer „aberratio ictus“ erleidet eine Schädigung unmittelbar durch den Angriff auf einen anderen (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 16).
Auf dieser Grundlage schützt § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch sog „Sekundäropfer“; im Anschluss an die Rechtsprechung zur Kriegsopferversorgung zählen hierzu auch solche Personen, deren Schädigung und Schädigungsfolgen psychischer Natur sind (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 15). Im Ergebnis werden die psychischen Auswirkungen einer schweren Gewalttat als mit dieser so unmittelbar verbunden betrachtet, dass beide eine natürliche Einheit bilden (BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 15). Wie das BSG bereits dargelegt hat, liegt in der Anerkennung von Schockschadensopfern keine Erweiterung des Personenkreises gegenüber dem BVG, wenngleich darin ein weites Verständnis des Begriffs der Unmittelbarkeit zum Ausdruck kommt (BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 15). Eine Einbeziehung aller durch Kenntnisnahme von der Gewalttat psychisch geschädigten Personen in den Kreis der Anspruchsberechtigten würde indessen den Rahmen dieser auf dem Ausnahmetatbestand der „aberratio ictus“ beruhenden Erweiterung der zu entschädigenden Fälle sprengen (BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 16). Das BSG hat den insoweit gebotenen engen Zusammenhang bejaht, wenn das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat gewesen ist, als der seelische Schock eintrat (zeitliche und örtliche Nähe; Eigenschaft als Augenzeuge), und es zudem aus Gründen einer sachgerechten Fassung des Schutzbereichs des OEG als erforderlich angesehen, die Unmittelbarkeit jedenfalls bei nahen Angehörigen (personale Nähe) auch dann anzunehmen, wenn eine solche Person die Nachricht von der vorsätzlichen Tötung des Primäropfers erhält und „dadurch“ einen Schock erleidet, ohne dass eine Tatzeugenschaft vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 16 m.w.N.). In einem solchen (letztgenannten) Fall bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen, weswegen auch der Empfänger der Nachricht von dem „besonders schrecklichen Geschehen“ nicht etwa nur mittelbar, sondern – wenn auch zeitlich versetzt – unmittelbar geschädigt wird (BSG, Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 17). Denn erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat (BSG, Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 17). Schockschäden hat das BSG als „ungewöhnliche Folgen besonders schrecklicher Gewalttaten“ bezeichnet (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, juris Rn. 18). Wie das BSG insoweit aber auch klargestellt hat, erfasst der Schutzbereich des Gesetzes die von Gewalttaten an ihren Angehörigen betroffenen Schockgeschädigten nicht auf Grund familiärer Beziehung, sondern infolge der tatbestandlichen Erstreckung (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, juris Rn. 18).
Bei Sekundäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden „Vorgang“ anzuknüpfen (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R, juris Rn. 15). Sie müssen demnach „durch“ Wahrnehmung dieses „Vorganges“ oder eine sonstige Kenntnisnahme „davon“ geschädigt worden sein (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R, juris Rn. 15 m.w.N.). Darüber hinaus müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden (BSG, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R, juris Rn. 15).
Unter Beachtung dieser Maßgaben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin nicht als vom Schutzbereich des OEG erfasstes sogenanntes Sekundäropfer anlässlich der gegen ihren Sohn am 30.11.2010 verübten Gewalttat anzusehen ist. Dem Beklagten ist darin beizupflichten, dass es vorliegend bereits an der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geforderten „besonders schrecklichen Gewalttat“, teilweise auch als „besonders schreckliches Geschehen“ bezeichnet (vgl. BSG, Urteile vom 07.11.1979, 9 Rvg 1/78, 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, und 10.12.2002, B 9 VG 7/01 R, m.w.N.), wie sie bei Totschlag und Mord anzunehmen ist, fehlt. Auch wenn der Senat nicht verkennt, dass die gegen den Sohn der Klägerin am 30.11.2010 verübte Gewalt, wegen der der Täter rechtskräftig wegen schwerer Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB verurteilt worden ist, bei dem Sohn der Klägerin zu schweren und bleibenden Folgen geführt hat, und die Klägerin als Mutter des Geschädigten psychisch betroffen ist, ist dies nicht geeignet, bei der Klägerin eine Anerkennung als Sekundäropfer nach dem OEG zu erreichen. Eine einem Totschlag oder Mord vergleichbare Gewalt, d.h. eine nach der Rechtsprechung des BSG zu fordernde „besonders schreckliche Gewalttat“ (s.o.), stellt diese Tat – trotz ihrer für das Opfer schlimmen Folgen – nicht dar.
Unbeschadet dessen bildet die Kenntniserlangung der Klägerin am 07.12.2011 über die genauen Tatumstände der zum Nachteil ihres Sohnes am 30.11.2010 begangenen Straftat unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des OEG auch keine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen am 30.11.2010 selbst, welches zu diesem Zeitpunkt längst vollendet war. Auch wenn der Klägerseite insoweit Recht zu geben ist, dass es nicht auf das kumulative Vorliegen der zeitlichen, örtlichen und personalen Nähe ankommt, sondern vorliegend die personale Nähe der Klägerin als Mutter des Opfers ausreichend ist, erfasst, wie das BSG klargestellt hat (s.o.), der Schutzbereich des OEG die von Gewalttaten an ihren Angehörigen betroffenen Schockgeschädigten nicht aufgrund familiärer Beziehung, sondern infolge der tatbestandlichen Erstreckung. Die nach der Rechtsprechung auch bei Sekundäropfern erforderliche unmittelbare Schädigung, also der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Schädigungs„tatbestand“ und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente dergestalt, dass das Sekundäropfer durch Wahrnehmung dieses Vorganges oder sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden ist und darüber hinaus die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sind, dass beide eine natürliche Einheit bilden, liegt hier nicht mehr vor. Zwar war die Klägerin unstreitig keine Tatzeugin und ist die insoweit personale Nähe der Klägerin zum Opfer als dessen Mutter ausreichend, es fehlt vorliegend aber am engen untrennbaren Zusammenhang mit dem Schädigungs„tatbestand“. Der Schädigungstatbestand, d.h. die Tat gegen den Sohn der Klägerin am 30.11.2010, war insoweit an diesem Tag bereits beendet. Die Folgen dieses Geschehens waren der Klägerin auch alsbald nach der Tat bekannt. Die Klägerin befand sich insoweit am Tattag bei ihrem Sohn im Krankenhaus, der dort notoperiert worden ist, um sein Leben zu retten. Während ihrer polizeilichen Vernehmung am 16.12.2010 ist der Klägerin dann auch eröffnet worden, dass wegen des Geschehens am 30.11.2010 gegen ihren Ehemann P. K. wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener ermittelt werde. Auch wenn die Klägerin zu diesem Zeitpunkt, aufgrund der divergierenden Angaben ihres Ex-Mannes im Rahmen der diversen Vernehmungen, die genauen Tatumstände nicht bekannt waren, so hatte sie spätestens am 16.12.2010 und damit ca. zwei Wochen nach der Tat Kenntnis, dass ihr Sohn aller Wahrscheinlichkeit nach Opfer einer Gewalttat geworden ist. Zu dem Zeitpunkt sind aber keine Schädigungsfolgen im Sinne eines Primärschadens bei der Klägerin im Rahmen einer Schockschädigung nachweisbar. Die Klägerin selbst hat insoweit im Rahmen des Beweisaufnahmetermins vor der zuständigen Berichterstatterin am 16.02.2017 ausgeführt, dass ihr erst im Verhandlungstermin vor dem Strafgericht am 07.12.2011 bewusst geworden sei, was damals am 30.11.2010 mit ihrem Kind geschehen sei, als der Sachverständige Prof. Dr. B. das Tatgeschehen an einer mitgeführten Puppe demonstriert hat. Dabei handelt es sich aber nicht mehr um die Wahrnehmung des Schädigungstatbestands selbst, sondern der genauen Tatumstände. Die Gewissheit der Tatumstände hat die Klägerin damit – ein Jahr nach der Tat – nicht mehr in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Gewalttat gegen ihren Sohn betroffen. Der Senat verkennt dabei nicht, dass ein Schock auch erst nach einer längeren Latenzzeit als Gesundheitsstörung manifest in Erscheinung treten kann, d.h. zunächst ein weitgehend symptomloses psychisches Trauma eintreten kann (siehe dazu auch BSG, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R, juris Rn. 17 ff). Erforderlich ist aber (vgl. BSG a.a.O. Rn. 17) eine starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes bedrohliches Ereignis. Dabei reicht es nicht aus, wenn es zu einer initialen Schädigung erst aufgrund von Ereignissen gekommen ist, die das Primäropfer nach Abschluss des betreffenden schädigenden Vorgangs erfasst haben (vgl. BSG, Beschluss vom 14.10.2015, B 9 V 43/15 B, juris Rn. 10; BSG, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 8/01 R, juris Rn. 12 m.w.N.). Der Senat vermochte sich vorliegend nicht davon zu überzeugen, dass die Klägerin bereits am 30.11.2010 eine derartige starke seelische Erschütterung erlitten hat. Soweit die Klägerin meint, dass die psychischen Auswirkungen durch die Gewalttat bei ihr sukzessive eingetreten seien, fehlt eine entsprechende ärztliche Dokumentation. Im Rahmen des vom Senat angeforderten Fragebogens über medizinische Behandlungen hat die Klägerin keine Angaben zu sie behandelnden Ärzten gemacht. Auf weitere Nachfrage des Senats, bei welchen Ärzten sie sich in Behandlung befunden habe und noch befinde, hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie sich in der Zeit von November 2010 bis 2013 in Behandlung beim Psychologen Herrn F. befunden habe. Dieser hat im Rahmen des Beweisaufnahmetermins vor der zuständigen Berichterstatterin am 16.02.2017 aber angegeben, dass die Klägerin von ihm nur im Rahmen des Battered Child Konzepts der Klinik für Neuropädiatrie und Neurologische Rehabilitation an der S. Klinik F-Stadt – während der stationären Aufenthalte ihres Sohnes vom 19.12.2010 bis 19.05.2011, 17.11.2011 bis 04.02.2012, 02.01.2013 bis 14.02.2013 und 28.01.2014 bis 20.02.2014 – psychotherapeutisch unterstützt und begleitet worden sei. Im Fokus stehe aber der Behandlungsauftrag für das Kind, die Angebote für die Eltern würden nur begleitend stattfinden. Bei den Angeboten für die Eltern gehe es darum, diese zu stabilisieren, um dem Kind eine Rückkehr in ein stabiles Umfeld zu ermöglichen. Eine klassische Diagnostik bei den Eltern würde nicht vorgenommen. Erst bei Anhaltspunkten für eine erhebliche psychische Belastung der Eltern würde die Neurologie hinzugezogen, um dort gegebenenfalls das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bei den Eltern abklären zu können. Dieser Weg sei bei der Klägerin nicht gegangen worden. Die Klägerin befindet sich daher wegen psychischer Folgen anlässlich der Gewalttat gegen ihren Sohn vom 30.11.2010 weder in ärztlicher Behandlung noch ist bei Herrn F. eine entsprechend diesbezügliche Behandlung durchgeführt worden.
2. Auch anlässlich der Gewalttat vom 15.06.2011 (zweimalige Faustschläge gegen die Stirn) liegen bei der Klägerin – außer den vom Beklagten bereits als vorübergehend anerkannten (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG) Kopfschmerzen – keine weiteren (dauerhaften) Gesundheitsstörungen vor. Wie das SG insoweit zu Recht ausgeführt hat, sind die zweimaligen Faustschläge gegen die Stirn nicht geeignet, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hervorzurufen. Nach F43.1 der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM), die die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland ist, ist notwendiges Kriterium für die Anerkennung einer PTBS zunächst „ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Ein solches Ereignis stellen die während der Autofahrt erlittenen zweimaligen Faustschläge gegen die Stirn nicht dar. Dazu, dass die Kopfschmerzen nicht bleibend waren, spricht zudem die eigene Aussage der Klägerin am 16.06.2011 im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung, wo sie angab, dass sie durch die Schläge auf den Kopf gestern starke Kopfschmerzen gehabt habe, aber darauf verzichte einen Arzt aufzusuchen, da diese heute wieder weg seien. Soweit die Klägerin weitere Gesundheitsstörungen, wie Schlafstörungen, Appetitverlust, Gedankenkreisen, vegetative Symptome wie Schweiß, Schwindel, Mundtrockenheit sowie Panikanfälle und Angstzustände beklagt, hat sie im Klageverfahren, wie das SG zutreffend ausführt, selbst angegeben, dass diese ausschließlich auf dem Umstand beruhen würden, dass ihr Sohn Opfer einer Gewalttat geworden sei. Im Übrigen hat der Beklagte im Bescheid vom 07.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2012 zu Recht auch nur die zweimaligen Faustschläge als tätlichen Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anerkannt. Die Drohung, jetzt alle umzubringen, kann – mangels Tätlichkeit (siehe die obigen Ausführungen zum „tätlichen“ Angriff) – ebenso wenig nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anerkannt werden wie die erfolgten Beschimpfungen und Beleidigungen.
3. Mangels Vorliegens dauerhafter Gesundheitsstörungen kann auch kein GdS festgestellt werden, so dass auch eine Erhöhung eines solchen wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 30 Abs. 2 BVG nicht in Betracht kommt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
5. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.


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