Medizinrecht

Außervollzugsetzung, Einstweilige Anordnung, Normenkontrollantrag, Erbringung von Dienstleistungen, Folgenabwägung, Streitwertfestsetzung, Summarische Prüfung, Verfassungsrechtliche Anforderungen, Prüfung der Erfolgsaussicht, Kostenentscheidung, Gleichbehandlungsgrundsatz, Offene Erfolgsaussichten, Prüfungsmaßstab, Außerkrafttreten, Vorwegnahme der Hauptsache, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Reduzierung des Streitwerts, Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, Entscheidung in der Hauptsache, Hauptsacheverfahren

Aktenzeichen  20 NE 20.2990

Datum:
13.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38276
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG §§ 28, 28a, 32
BayIfSMV § 12 Abs. 2 11.

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin betreibt ein Haarentfernungsstudio in Bayern. Mit ihrem Antrag wendet sie sich gegen § 12 Abs. 2 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (11. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 737) in der Fassung vom 8. Januar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 5). Sie gibt an, überwiegend aus medizinischen Gründen, aber auch aus kosmetischen Gründen Haarentfernungen vorzunehmen. Sie hält die angegriffene Norm für unverhältnismäßig, da sie nach einem strengen Hygienekonzept arbeite und eine Betriebsschließung nicht gerechtfertigt sei. Auch liege ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf die zulässigen körpernahen Dienstleistungen nach § 12 Abs. 3 Satz 1 11. BayIfSMV vor. Sie sei durch die Maßnahme schwer wirtschaftlich betroffen.
II.
Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
1. Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 12 Abs. 2 11. BayIfSMV hat unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (a) bei summarischer Prüfung bereits keine durchgreifende Aussicht auf Erfolg (b). Unabhängig davon ginge auch eine Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus (c).
a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – NVwZ-RR 2019, 993 – juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
b) Nach diesen Maßstäben ist der Eilantrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der angegriffenen Bestimmungen abzulehnen, weil ein in der Hauptsache noch zu stellender Normenkontrollantrag bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.
aa) Im Hinblick auf die Frage, ob die angegriffene Untersagung körpernaher Dienstleistungen durch § 12 Abs. 2 11. BayIfSMV auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt und an das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG genügt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf den Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2020 (20 NE 20.2461 – juris Rn. 22ff.), wonach gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 28a IfSG jedenfalls im Rahmen des Eilrechtsschutzes keine durchgreifenden Bedenken bestehen.
Die von der Antragstellerin angegriffene Bestimmung des § 12 Abs. 2 11. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 14, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Einklang und erweist sich im Rahmen einer summarischen Prüfung weder als offensichtlich unverhältnismäßig noch als gleichheitswidrig. Hierzu kann im Grundsatz auf die Ausführungen des Senats in den Beschlüssen vom 5. November 2020 (Az. 20 NE 20.2468 – juris Rn. 14 ff.) und 12. November 2020 (Az. 20 NE 20.2463 – juris Rn. 33 ff. betreffend § 10 Abs. 1 bis 3 8. BayIfSMV i.d.F.v. 30.10.2020; zu § 12 Abs. 2 Satz 2 10. BayIfSMV vgl. B.v. 14.12.2020 – 20 NE 20.2621) Bezug genommen werden.
Mit Inkrafttreten der 11. BayIfSMV am 15. Dezember 2020 wurde das öffentliche Leben in Bayern sehr stark eingeschränkt. Nachdem noch unter Geltung der 10. BayIfSMV vom 8. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 711) nur freizeitbezogene Aktivitäten weitgehend untersagt waren, um so nicht zwingend erforderliche physische Kontakte zu verhindern und das Infektionsgeschehen abzuschwächen, sind jetzt wegen weiterhin ansteigender Infektionszahlen auch Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen und der Einzelhandel ganz überwiegend geschlossen, die Erbringung von Dienstleistungen nur noch eingeschränkt möglich und private Kontakte, insbesondere seit Inkrafttreten der Verordnung zur Änderung der 11. BayIfSMV (BayMBI 2021 Nr. 5), stark beschränkt. Die Untersagung der Erbringung körpernaher Dienstleistungen erfolgt im Rahmen eines Gesamtkonzepts des Verordnungsgebers zur Infektionsbekämpfung, das soziale Kontakte reduzieren und so Infektionsketten verhindern bzw. durchbrechen soll. Immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen, besteht das Risiko einer Ansteckung. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus voraussichtlich nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann (BT-Drs. 19/23944 S. 31). In der derzeitigen pandemischen Situation mit einem anhaltend starken diffusen Infektionsgeschehen begegnet die Entscheidung des Verordnungsgebers, die Ausübung körpernaher Dienstleistungen so weit einzuschränken, dass in diesem Bereich physische Kontakte minimiert werden, keinen durchgreifenden Bedenken (vgl. zur alten Rechtslage BayVGH, B.v. 5.11.2020 – 20 NE 20.2468 – BeckRS 2020, 29302 Rn. 21; vgl. auch die Begründungen zur 11. BayIfSMV vom 15. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 738) sowie zur Änderung der 11. BayIfSMV vom 8. Januar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 6)). Auf die Frage, ob es in Haarentfernungsstudios bislang zu nachweislichen Infektionen mit dem Coronavirus gekommen ist, kommt es hingegen nicht maßgeblich an.
Soweit sich die Antragstellerin darauf beruft, dass ihr Unternehmen in den Anwendungsbereich des § 12 Abs. 3 11. BayIfSMV fällt, weil sie „überwiegend medizinische Dienstleistungen“ erbringe, bleibt dies der Klärung in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO vorbehalten. Außerdem besteht die Möglichkeit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 27 Abs. 2 11. BayIfSMV.
c) Unabhängig von Vorstehendem ergibt eine Folgenabwägung, dass die betroffenen Schutzgüter der Normadressaten, insbesondere ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.2020 – BvR 2530/20 – juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – BeckRS 2020, 31088 – Rn. 41); eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen kommt daher auch insofern nicht in Betracht.
Das Infektionsgeschehen ist weiter auf hohem Niveau. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 12. Januar 2021 (vgl. abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jan_2021/2021-01-12-de.pdf? blob=publicationFile) ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Das RKI schätzt die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt deutschlandweit bei 164 Fällen pro 100.000 Einwohner, in Bayern bei 159. In Sachsen und Thüringen liegt sie sehr deutlich über der Gesamtinzidenz. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei Personen zwischen 60 und 79 Jahren liegt bei aktuell 130 Fällen und bei Personen über 80 Jahren bei 317 pro 100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten, im beruflichen Umfeld sowie in Alten- und Pflegeheimen. Zusätzlich findet in zahlreichen Kreisen eine diffuse Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung statt, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind. Das genaue Infektionsumfeld lässt sich häufig nicht ermitteln. Nach dem starken Anstieg der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle bis Mitte November (von 879 Fällen am 20.10 [abrufbar unter https://www.divi.de/divi-intensivregister-tagesreport-archiv] auf 3.615 Fälle am 20. November 2020), hat sich dieser mittlerweile etwas verlangsamt, die Gesamtzahl liegt derzeit bei 5.230 (- 59 zum Vortrag). Am 11. Januar 2021 wurden dem RKI im Vergleich zum Vortag 12.802 neue Fälle und 891 neue Todesfälle übermittelt. 688.782 Personen wurden einmal gegen COVID-19 geimpft. Am 19.12.2020 wurde im Vereinigten Königreich über eine neue Virusvariante (B.1.1.7) berichtet. Das ECDC hat am 29.12.2020 hierzu ein Risk Assessment veröffentlicht. Es ist noch nicht abschließend geklärt, wie sich die neue Variante auf das Infektionsgeschehen auswirkt. Vertreter dieser Linie sind weltweit in zahlreichen Ländern identifiziert worden. Es ist zu erwarten, dass in weiteren Ländern Infektionen mit der neuen Variante detektiert werden. In Deutschland wurden dem RKI vereinzelt Fälle dieser Variante übermittelt. Es ist zu erwarten, dass weitere Fälle bekannt werden, die durch die Virusvariante bedingt sind. Die WHO berichtet außerdem von einer weiteren, neuen Virusvariante in Südafrika, die ebenfalls möglicherweise mit einer höheren Übertragbarkeit einhergeht.
In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen – im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten – schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Rechte der Normadressaten. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der von der Schließung von Haarentfernungsstudios Betroffenen, trotz der schweren wirtschaftlichen Folgen der Schließungen, derzeit zurücktreten (vgl. auch BVerfG, B.v. 15.7.2020 – 1 BvR 1630/20 – juris Rn. 25; BVerfG, B.v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG, wobei eine Reduzierung des Streitwerts auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht erscheint, da der Eilantrag im Hinblick auf den befristeten Geltungszeitraum (31. Januar 2021, § 29 Abs. 1 11. BayIfSMV) der in der Sache angegriffenen Verordnungsbestimmung auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet war.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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