Medizinrecht

Behandlungsfehler, Schadensersatz, Therapie, Berufung, Gutachten, Revision, Krankheit, Behandlung, Rechtsanwaltskosten, Arzt, Facharzt, Haftung, Ablehnung, Verschulden, Die Fortbildung des Rechts, grober Behandlungsfehler, Aussicht auf Erfolg

Aktenzeichen  1 U 1831/18

Datum:
25.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5395
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

1 O 781/16 2018-04-26 Endurteil LGPASSAU LG Passau

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts Passau vom 26.04.2018, Aktenzeichen 1 O 781/16, abgeändert:
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 30.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 20.12.2016 auf das zugunsten des Klägers als Alleinerben nach S. H. eingerichtete Sparkonto bei der Sparkasse P., … 33, zu bezahlen (Schmerzensgeld).
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere 7.104,51 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 20.12.2016 zu bezahlen (Unterhaltsschaden).
I. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger weitere bis 09.06.2020 entstandene materielle Schäden zu 2/3 zu ersetzen, die ursächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Mutter des Klägers, S. H., infolge eines Behandlungsfehlers der Beklagten am 14.10.2015 gestorben ist, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte kraft Gesetzes übergegangen sind.
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,3 fachen RVG-Gebühr aus einem Wert von 37.180,56 € zzgl. Auslagenpauschale und Umsatzsteuer nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 20.12.2016 zu bezahlen.
I. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
IV. Das Urteil und das angefochtene Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

A.
Der am …2015 geborene Kläger macht gegen die Beklagte, die seine am 14.10.2015 an einer Tumorerkrankung (Zervixkarzinom nach vorangegangener HPV-Infektion) verstorbene Mutter S. H. ab dem 17.04.2014 neben ärztlichen Behandlern als Heilpraktikerin mit „alternativen“ Heilmethoden behandelt hat, wegen behaupteter Behandlungsfehler einen Schmerzensgeldanspruch aus von seiner Mutter ererbtem Recht sowie einen Anspruch auf Barunterhaltsschaden aus eigenem Recht geltend; darüber hinaus begehrt er die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere künftige materielle und immaterielle Schäden.
1. Der Kläger behauptet, dass für die Tumorerkrankung seiner Mutter bei Durchführung und Weiterführung der notwendigen und von ärztlicher Seite angeratenen schulmedizinischen Behandlungen, insbesondere ohne den am 09.06.2015 erfolgten Abbruch der zunächst (nach der Geburt des Klägers) am 13.05.2015 begonnenen Strahlentherapie, gute Heilungschancen bestanden hätten. Die Beklagte habe seiner psychisch von ihr abhängigen Mutter wiederholt und in verschiedener Hinsicht von schulmedizinischen Therapieempfehlungen abgeraten und ein nicht gerechtfertigtes Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Körpers geweckt; infolge ihrer Einwirkung habe die Patientin insbesondere die begonnene Strahlentherapie abgebrochen, die bereits zu einer deutlichen Zurückbildung des Tumors geführt hätte, und sich stattdessen auf eine wirkungslose alternativmedizinische Behandlung mittels Horvi-Präparaten (Schlangengifttherapie) verlassen; dies sei – für eine Heilpraktikerin – fehlerhaft gewesen, insbesondere habe die Beklagte ihre Pflicht zur therapeutischen Sicherungsaufklärung verletzt. Die Behandlungsfehler hätten in der Folge zu einem unheilbaren Krankheitsverlauf, ab September 2015 zu einer Palliativbehandlung und schließlich zum Tod der Mutter des Klägers am 14.10.2015 geführt.
Die Beklagte tritt den Ansprüchen entgegen, bestreitet die Aktivlegitimation des Klägers aufgrund einer angeordneten Testamentsvollstreckung sowie Anspruchsgrund und Anspruchshöhe. Sie behauptet, dass die Geschädigte S. H. sich bewusst, eigenverantwortlich und jederzeit einwilligungsfähig gegen eine Fortführung der schulmedizinischen Behandlung entschieden habe und ihr Tod auch bei Durchführung der schulmedizinischen Behandlung nicht vermieden worden wäre. Sie ist der Auffassung, dass aufgrund der eigenverantwortlichen Entscheidung schon keine Pflichtverletzung der Beklagten vorliege, eine psychische Abhängigkeit habe nicht bestanden. Der Abbruch der Bestrahlung sei primär aufgrund unerträglicher Nebenwirkungen der Strahlentherapie erfolgt; die Risiken des Verzichts auf eine weitere schulmedizinische Behandlung seien der Geschädigten aufgrund von ärztlicher Seite aus erfolgter Aufklärung voll bewusst gewesen.
Zu den Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Passau vom 26.04.2018 (Bl. 236/256 d.A.) Bezug genommen.
2. Das Landgericht hat die Klage (soweit sie nicht übereinstimmend für erledigt erklärt worden war) nach Vernehmung mehrerer Zeugen, Anhörung des gesetzlichen Vertreters des Klägers, Beiziehung der Strafakte der Staatsanwaltschaft Passau, Az. 22 Js 1542/16 (Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte wegen fahrlässiger Tötung, das gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist) und unter Auswertung des vorgelegten Schriftverkehrs und der Behandlungsunterlagen der Beklagten als unbegründet abgewiesen.
Ansprüche aus Delikt wie aus Vertrag scheiden nach Auffassung des Landgerichts aus, da die durchgeführte Beweisaufnahme nicht ergeben habe, dass eine haftungsbegründende Kausalität zwischen etwaigen Pflichtverletzungen bei der unstreitig erfolgten Behandlung der Geschädigten und den geltend gemachten Gesundheits- und Vermögensschäden besteht. Es könne im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob es sich bei den der Beklagten vorgeworfenen Pflichtverstößen um relevante Aufklärungs- und (grobe) Behandlungsfehler gehandelt habe.
Der Kläger habe jedenfalls nicht den ihm obliegenden Vollbeweis für die Kausalität führen können, nämlich dafür, dass die behaupteten Fehler der Beklagten zumindest mitursächlich für den Willensentschluss der Geschädigten zum Abbruch der Strahlenbehandlung am 09.06.2015 geworden seien, bzw. dafür, dass die Umstände der Behandlung, insbesondere mittels Schlangengiftpräparaten, im konkreten Stadium der Erkrankung bei und nach erfolgtem Abbruch der Strahlenbehandlung den weiteren Verlauf dahingehend beeinflusst hätten, dass die Geschädigte ihrem Krebsleiden erlag.
Das Landgericht war der Auffassung, dass eine etwaige Beweislastumkehr gemäß § 630 h Abs. 5 BGB wegen grober Behandlungsfehler sich nicht auf die Frage erstrecke, ob ein bestimmter Willensentschluss eines Patienten maßgeblich auf einen Behandlungsfehler zurückgeht. Deshalb ließ es das Vorliegen eines (groben) Behandlungsfehlers offen. Die Ursache für die Verschlechterung des Krebsleidens und den Tod der Geschädigten liege hier nicht in der Behandlung durch die Beklagte an sich, sondern im Abbruch einer außerhalb des Verantwortungsbereichs der Beklagten begonnenen medizinischen Behandlung. Ein bestimmender oder auch nur mitursächlicher Einfluss der Beklagten auf diese Entscheidung der Geschädigten lasse sich auf Grundlage der Beweisaufnahme nicht begründen. Es habe sich danach bei der Mutter des Klägers um eine hinsichtlich des Krankheitsbildes und der Behandlungsrisiken und -alternativen in jedem Krankheits- bzw. Behandlungsstadium voll aufgeklärte Patientin gehandelt, welche sich aus freiem Willen zunächst zum Aufschub und schließlich zur Beendigung der begonnenen schulmedizinischen Therapie entschieden habe.
Es lasse sich nicht nachweisen, dass die Ablehnung der schulmedizinischen Behandlung und der am 09.06.2020 erfolgte Behandlungsabbruch auf dem Einfluss der Beklagten beruhte. Dagegen sprächen insbesondere bereits früher bestehende Vorbehalte der Geschädigten gegenüber der Schulmedizin und deren ohnehin bestehende Neigung zu alternativmedizinischen Behandlungsmethoden, ihr zumindest zeitweises Ignorieren ärztlicher Hinweise auf auffällige Befunde, ihr (nachvollziehbares) Zurückstellen einer Totaloperation oder sofortigen Chemotherapie nach Feststellung des Tumors während der Schwangerschaft im Interesse ihres werdenden Kindes trotz der damit verbundenen Prognoseverschlechterung, der Umstand, dass die Beklagte die Geschädigte bis zum Abbruch der strahlentherapeutischen Behandlung nur begleitend behandelte und durchgehend in schulmedizinischer Behandlung wusste, die erfolgte volle und umfassende Sicherungsaufklärung der Geschädigten über die voraussichtlich tödlichen Konsequenzen des Abbruchs der Strahlentherapie von ärztlicher Seite aus (durch die Strahlentherapeutin Dr. Wa. und den Nebenintervenienten des Klägers Dr. We., den damaligen Gynäkologen der Geschädigten), die Inanspruchnahme auch weiterer alternativmedizinischer Behandler und eines Hypnosetherapeuten (des Nebenintervenienten der Beklagten Lehnert) durch die Geschädigte sowie Zeugenbekundungen über deren starken eigenen Willen. Ein konkretes Abraten von der Strahlenbehandlung seitens der Beklagten lasse sich nicht beweiskräftig belegen, es sei auch kein sicherer Rückschluss auf die Beweggründe der Geschädigten zum Abbruch der Strahlenbehandlung möglich.
Soweit als Ansatzpunkt für eine Haftung bleibe, dass die Beklagte ihre Patientin nicht mit dem erforderlichen Nachdruck zur Fortsetzung der Strahlenbehandlung angehalten und darauf hingewiesen habe, dass die Schlangengiftpräparate keine wirksame Alternative für die Tumorbehandlung darstellen könnten, wirke sich dies angesichts der vollumfänglichen Aufklärung von ärztlicher Seite nicht nachweisbar kausal aus. Die Strahlentherapie sei nicht von der Beklagten als Heilpraktikerin, sondern von Ärzten durchgeführt worden, gegenüber der unmissverständlichen Aufklärung durch diese habe sich die Geschädigte als beratungsresistent erwiesen und den Behandlungsabbruch sogar ohne Rücksprache mit der Beklagten veranlasst. Dem Kläger komme auch keine Beweislastumkehr dahingehend zugute, dass das Ergebnis einer erfolgten zusätzlichen Aufklärung durch die Beklagte die Wiederaufnahme der Strahlentherapie durch die Geschädigte gewesen wäre. Auch im Anraten bzw. der Anwendung der Horvi-Präparate liege kein kausaler Behandlungsfehler. Die Beklagte habe die Schlangengiftbehandlung zunächst ohnehin nicht als Alternative zur Bestrahlung dargestellt, die alleinige alternativmedizinische Behandlung sei erst nach dem eigenverantwortlich getroffenen Entschluss zum Abbruch der Strahlenbehandlung erfolgt. Schließlich sei nicht auszuschließen, dass die von der Geschädigten im Mai 2015 angetretene Hypnosetherapie in F. bei der überraschenden Entscheidung für den erfolgten Behandlungsabbruch im Juni sowie für die plötzliche Heilungsgewissheit der Mutter des Klägers eine Rolle gespielt habe. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zu etwaigen Behandlungsfehlern bedürfe es angesichts dessen nicht.
Im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
3. Der Kläger verfolgt mit seiner Berufung gegen das Urteil seine erstinstanzlichen Ansprüche vollumfänglich weiter. Er rügt sowohl die Beweiswürdigung des Erstgerichts wie auch dessen rechtliche Bewertung.
Entgegen der Auffassung des Erstgerichts sei der Kausalverlauf zwischen den behaupteten Pflichtverletzungen der Beklagten und dem eingetretenen Gesundheitsschaden nicht durch einen freiverantwortlichen Willensentschluss der Geschädigten zum Abbruch der schulmedizinischen Therapie unterbrochen worden. Auf Grundlage der Zeugenaussagen sei ersichtlich, dass die Geschädigte zunächst durchaus offen für die notwendige schulmedizinische Behandlung gewesen sei. Für den offenkundigen Sinneswandel und den unerklärlichen Zustand von Euphorie und Heilungssicherheit, der zum Abbruch der Strahlentherapie geführt habe, fehle jede Erklärung. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Beklagte maßgeblichen Einfluss auf die Geschädigte ausgeübt habe und sie durch ihre Heilungsversprechen in eine Abhängigkeit gebracht habe, sodass sie den Warnungen der Ärzte nicht mehr zugänglich gewesen sei. Das Landgericht habe auch den E-Mail-Verkehr zwischen der Geschädigten und der Beklagten unzutreffend ausgewertet. Aus diesem hätte es den Schluss ziehen müssen, dass die Beklagte die von ihr zu verlangende kritische Distanz zu den angebotenen Behandlungsmethoden, insbesondere der Horvi-Therapie, nicht gewahrt und der Geschädigten eine wissenschaftlich nicht begründete Heilungssicherheit vermittelt habe, ohne auf die tatsächliche Wirkungslosigkeit der alternativen Medizin bzw. die Notwendigkeit einer schulmedizinischen Behandlung ausdrücklich hinzuweisen. Dieses Verhalten der Beklagten sei in mehrfacher Hinsicht behandlungsfehlerhaft. Das Landgericht habe überhöhte Anforderungen an den Nachweis einer Beeinflussung der Geschädigten durch die Beklagte gestellt und dabei insbesondere verkannt, dass die Beweisaufnahme gezeigt habe, dass die Geschädigte aufgrund ihrer schweren Krankheit verunsichert und verängstigt und einer fremden Beeinflussung daher besonders zugänglich gewesen sei.
Als Verstöße gegen materielles Recht rügt der Kläger das Verkennen mehrerer Behandlungsfehler der Beklagten durch das Erstgericht. Solche lägen in der unterlassenen Aufklärung über die wissenschaftlich nicht nachgewiesene Wirksamkeit der Horvi-Präparate, in der Übernahme der Behandlung der Geschädigten trotz infauster Prognose und ohne notwendige Fachkunde und insbesondere in einem Fehler der therapeutischen Sicherungsaufklärung durch das Unterlassen einer ausdrücklichen Aufklärung über die Notwendigkeit der Fortsetzung der Strahlentherapie. In der Behandlung der Geschädigten mittels Horvi, bei der es sich um eine völlige Außenseitermethode handele, und der unterbliebenen Aufklärung über die Wirkungslosigkeit des Mittels sowie die Risiken eines Abbruchs der schulmedizinischen Behandlung sei richtigerweise ein grober Behandlungsfehler zu sehen, der zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Klägers führe. Eine etwaige eigenverantwortliche Entscheidung der Geschädigten habe zudem nicht zu einer Ablehnung der Haftung dem Grunde nach führen dürfen, sondern könne gegebenenfalls erst auf der Stufe eines möglichen Mitverschuldens anspruchsmindernd berücksichtigt werden. Das Landgericht habe es zu Unrecht unterlassen, zur Beurteilung der Fehlerhaftigkeit des Behandlungsverlaufs ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen.
Im Verlauf des Berufungsverfahrens hat der Kläger sein Vorbringen ergänzt und vertieft. Er meint insbesondere, dass die Beeinflussung der Geschädigten durch die Beklagte massiv und „gehirnwäscheähnlich“ gewesen sei und letztlich zu einer Hörigkeit geführt habe. Ein etwaiger Einfluss anderer Behandlern für die Entscheidung zum Abbruch der schulmedizinischen Behandlung entlaste die Beklagte nicht, sondern führe allenfalls zu einer Gesamtschuldnerschaft gemäß § 426 BGB. Für die Frage, wie sich die Geschädigte ohne die grob fehlerhafte therapeutische Sicherungsaufklärung entschieden hätte, komme die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens zum Tragen. Bei der dann anzunehmenden Weiterführung oder auch Wiederaufnahme der Strahlentherapie hätte die Geschädigte auch gute und dauerhafte Überlebenschancen gehabt.
Im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung vom 30.05.2018 (Bl. 263/286 d.A.) und die Schriftsätze des Klägers vom 09.01.2019 (Bl. 330/336 d.A.), 29.01.2019 (Bl. 346/349 d.A.), 15.02.2019 (Bl. 359/367 d.A.), 21.09.2019 (Bl. 423/434 d.A.), 28.01.2020 (Bl. 470/478 d.A.), 24.06.2020 (Bl. 572/583 d.A.), 03.08.2020 (Bl. 594/596 d.A.), 03.12.2020 (Bl. 633/636 d.A.), 13.01.2021 (Bl. 651/652 d.A.) vom 18.02.2021 (Bl. 684/689 d.A.) und vom 24.02.2021 (Bl. 729/737 d.A.) Bezug genommen.
Der Kläger und sein Streithelfer beantragen im Berufungsverfahren zuletzt:
I. Unter Abänderung des am 26.04.2018 verkündeten Endurteils des Landgerichts Passau, Az. 1 O 781/16, dem Kläger und Berufungskläger mit vollständiger Urteilsbegründung zugestellt am 02.05.2018, wird die Beklagte und Berufungsbeklagte verurteilt, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, dessen Höhe 50.000,00 € nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.12.2016 auf das zugunsten des Klägers als Alleinerben eingerichtete Sparkonto von L. S., bei der Sparkasse P., IBAN: …33, zu zahlen.
II. Die Beklagte und Berufungsbeklagte wird verurteilt, an den Kläger Schadensersatz in Höhe von 13.441,31 € als Barunterhaltsschaden für die Vergangenheit sowie Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.12.2016 zu zahlen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte und Berufungsbeklagte verpflichtet ist, dem Kläger weitere künftige materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen, die ursächlich darauf zurückzuführen sind, dass die Krebserkrankung der Geschädigten S. H. durch die Beklagte unzureichend behandelt wurde.
IV. Die Beklagte und Berufungsbeklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.748,10 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 20.12.2016 zu zahlen.
Die Beklagte und ihr Streithelfer beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
4. Die Beklagte und ihr Streithelfer treten der Berufung entgegen und verteidigen das landgerichtliche Urteil.
Das Landgericht habe zutreffend jedenfalls die erforderliche Kausalität zwischen den der Beklagten vorgeworfenen Pflichtverstößen und dem vom Kläger geltend gemachten Schaden verneint. Die Beweiswürdigung, dass sich keinerlei Anhaltspunkte für eine maßgebliche Beeinflussung der Geschädigten durch die Beklagte im Hinblick auf eine Ablehnung oder gar einen Abbruch der schulmedizinischen Behandlung ergäben, sei beanstandungsfrei. Die behaupteten Anhaltspunkte des Klägers für Zweifel an diesen Feststellungen des Erstgerichts seien konstruiert. Es habe sich um einen freiverantwortlichen Behandlungsabbruch durch die Geschädigte nach umfassender schulmedizinischer Beratung über dessen Risiken gehandelt. Das Landgericht sei zutreffend zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Geschädigten um eine hinsichtlich des Krankheitsbildes und der Behandlungsrisiken und Alternativen in jedem Krankheits- bzw. Behandlungsstadium voll aufgeklärte Patientin gehandelt habe, welche sich aus freiem Willensentschluss zunächst zum Aufschub und schließlich zur Beendigung der begonnenen schulmedizinischen Therapie entschieden habe. Die Beklagte als neben den fachmedizinischen Behandlern tätige Heilpraktikerin sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Geschädigte auf die überlegenen Therapie- und Diagnosemöglichkeiten von Fachärzten hinzuweisen; dieser sei bewusst gewesen, dass die Beklagte keine fachmedizinische Kompetenz besitze, sie habe ja gerade eine Therapie jenseits der üblichen Methoden der Fachmedizin bei ihr gesucht. Es sei zwar richtig, dass die verstorbene Mutter des Klägers sich nach dem Austragen des Kindes zunächst schulmedizinisch behandeln habe lassen, die Beklagte sei aber für den Abbruch der schulmedizinischen Behandlung weder ursächlich noch nur mitursächlich geworden. Wenn ein einwilligungsfähiger Patient bei vollem Bewusstsein eine Behandlung abbreche und sich gegen eine weitere schulmedizinische Behandlung entscheide, sei der autonome Patientenwille auch dann verbindlich, wenn die Verweigerung der weiteren Behandlung lebensgefährlich sei. Im Übrigen habe nicht ausschließbar ein alternativer Kausalverlauf vorgelegen, da die Geschädigte auch bei anderen Behandlern Rat gesucht habe. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens sei nicht erforderlich gewesen, da es allein um die Freiwilligkeit des Willensentschlusses der Geschädigten gegangen sei. Die Behandlung mit dem Horvi-Präparat sei ohnehin nicht durch die Beklagte erfolgt, sie sei dafür nicht verantwortlich, sondern habe nur die von einem anderen Heilpraktiker verordneten Präparate bestellt. Ein Anraten des Behandlungsabbruchs habe die Beweisaufnahme nicht ergeben. Selbst wenn man das Verhalten der Patientin erst auf der Ebene des Mitverschuldens berücksichtigen wollte, entfiele eine Haftung der Beklagten, da ein etwaiges Verschulden ihrerseits vollständig hinter das Eigenverschulden der Geschädigten zurücktreten würde.
Auch die Beklagte hat im Verlauf des Berufungsverfahrens ihren Vortrag ergänzt und vertieft. Sie hebt insbesondere hervor, dass die Beklagte nur eine begleitende Behandlung der Geschädigten vorgenommen habe, die zudem am 04.06.2015 beendet worden sei; die letzte in der Dokumentation festgehaltene Behandlung am 08.06.2015 sei ein Termin für den Kläger wegen Bauchschmerzen gewesen, bei dem die Geschädigte diesen lediglich begleitet und natürlich auch von sich erzählt habe. Die Geschädigte sei ihr nicht hörig gewesen. Sie habe nicht zum Abbruch der Strahlentherapie geraten; dabei habe es sich um einen autonomen Entschluss der Geschädigten gehandelt; sie habe erst durch die E-Mail vom 17.06.2015 vom Abbruch der Strahlentherapie erfahren. Die Horvi-Therapie sei ursprünglich durch Frau Dr. L. geplant gewesen, wobei die Beklagte vermittelt habe, und später – als sich deren Therapieplan verzögerte – dann ab 29.06.2015 bei dem Heilpraktiker Haug durchgeführt worden. Als sie den Therapieplan der Frau Dr. L. am 25.06.2015 erhalten habe, habe sie diesen der Geschädigten samt Beiblatt mit der dort enthaltenen Einschätzung einer infausten Prognose gegeben und ihr gesagt: „Horvi geht nimma“. Auch habe sie ausweislich der E-Mail Korrespondenz der Geschädigten bereits zuvor, am 22.06.2015, eine überbrückende Fortführung der Strahlentherapie bis zum Eintreffen dieses Therapieplans empfohlen, dies im Hinblick auf die psychische Befindlichkeit der Geschädigten in entsprechend einfühlsamer und zurückhaltender Weise.
Es liege kein Behandlungsfehler der Beklagten vor, jedenfalls kein grober; die Geschädigte hätte einen entsprechenden Rat der Beklagten ohnehin nicht befolgt. Im Übrigen sei der Behandlungsabbruch der Strahlentherapie am 09.06.2015 nicht kausal für das Versterben der Geschädigten im Oktober 2015 geworden, dieser habe den Verlauf weder belastet noch lebensverkürzend beeinflusst. Gegen die geltend gemachten Ansprüche bestünden auch Einwendungen der Höhe nach. Zusammenfassend sei die Klage aus verschiedenen Gründen abzuweisen: Die Geschädigte sei von ärztlicher, schulmedizinischer Seite nicht nur voll darüber aufgeklärt gewesen, dass der Abbruch der Strahlentherapie mit einem Todesurteil gleichzusetzen sei, sondern auch darüber, dass die alleinige Horvi-Therapie keine Aussicht auf Erfolg habe. Daneben sei für eine therapeutische Aufklärungspflicht der Beklagten als Heilpraktikerin kein Raum. Ein Heilpraktiker müsse einen Patienten, der sich ersichtlich von der Schulmedizin abgewendet habe, auch nicht besonders darauf hinweisen, dass die von ihm angewandte Therapie wissenschaftlich nicht anerkannt sei, und nur dann ausnahmsweise auf schulmedizinischem Niveau aufklären, wenn er schulmedizinische Behandlungsmethoden durchführe. Da die Beklagte hinsichtlich der HorviTherapie lediglich die Behandlungsunterlagen an Frau Dr. L. weiterleiten und deren Einschätzung abwarten wollte, sei insoweit auch keine therapeutische Aufklärung geschuldet gewesen. Von 8.06.2015 bis 16.06.2015 hätten der Beklagten keine aktuellen Befunde und Krankenunterlagen vorgelegen, sie habe nur die Aussagen der Geschädigten über eine Schrumpfung des Tumors und derart starke Nebenwirkungen gekannt, dass diese die gut angelaufene Strahlentherapie nicht fortführen wollte; daraufhin habe sie ihr pflichtgemäß geraten, diese schulmedizinische Frage mit dem Nebenintervenienten Dr. We., ihrem Gynäkologen, zu besprechen. Ihrem Beweisangebot auf eine eigene Parteieinvernahme insoweit sei der Senat zu Unrecht nicht nachgekommen. Am 16.06.2015 habe sie die Behandlungsunterlagen als Anlage einer E-Mail zur Weitergabe an Frau Dr. L. erhalten und in dieser Mail mitgeteilt bekommen, dass Dr. We. zunächst von dem Behandlungsabbruch ganz geschockt gewesen sei, aber nach einem abendlichen persönlichen Besuch bei ihr und einem offenen Gespräch nun auch glaube, dass sie es ohne Schulmedizin schaffe. Daraufhin habe sie davon ausgehen dürfen, dass der Facharzt Dr. We. den Abbruch der Strahlentherapie gut hieß und eine Heilung ohne diese für möglich hielt; es könne von ihr als Heilpraktikerin nicht gefordert werden, mit Nachdruck der Einschätzung eines Facharztes zu widersprechen, jedenfalls scheide insoweit ein grobes Verschulden aus. Die Aussage der Strahlentherapeutin, dass der Behandlungsabbruch einem Todesurteil gleichkäme, habe die Geschädigte der Beklagten verschwiegen. Trotz der Aussage des Dr. We. habe die Beklagte der Geschädigten sicherheitshalber eine Fortsetzung der Strahlentherapie mindestens so lange vorgeschlagen, bis eine schulmedizinische Zweitmeinung von Frau Dr. L. vorliege. Zudem habe die Beklagte als Heilpraktikerin, selbst wenn sie zur therapeutischen Aufklärung verpflichtet gewesen wäre, keine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten der Horvi-Therapie abgeben können, da dafür eine schulmedizinische Evaluation erforderlich wäre, die allein Sache der Schulmediziner sei.
Der Streithelfer der Beklagten meint, dass sich die Geschädigte auch dann gegen eine Fortführung der Strahlentherapie entschieden hätte, wenn zusätzlich zu den Warnungen der behandelnden Schulmediziner auch die Beklagte eindringlich zu deren Fortführung geraten hätte. Die Patientin hätte einen solchen Ratschlag wie alle sonstigen Warnungen auch „in den Wind geschlagen“. Es könne daher dahinstehen, ob die Beklagte ihre Aufklärungs- und Beratungspflichten verletzt habe oder nicht.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Senat mit der in seinen Hinweisen mitgeteilten vorläufigen Rechtsauffassung von höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätzen abweiche und beantragt die Zulassung der Revision.
Im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderung vom 03.08.2018 (Bl. 297/306 d.A.) und die Schriftsätze der Beklagten vom 06.03.2019 (Bl. 372/384 d.A.), 24.09.2019 (Bl. 416/420 d.A.), 27.09.2020 (Bl. 422 d.A.), 02.03.2020 (Bl. 489/492 d.A.), 31.03.2020 (Bl. 495/512 d.A.), 05.05.2020 (Bl. 517/524 d.A.), 15.06.2020 (Bl. 542/571 d.A.), 25.11.2020 (Bl. 621/624 d.A.), 02.12.2020 (Bl. 627/632 d.A.), 09.12.2020 (Bl. 640/644 d.A.), 20.01.2021 (Bl. 653/664 d.A.), 27.01.2021 (Bl. 666/675 d.A.), und vom 18.02.2021 (Bl. 690/728 d.A.), sowie auf die Schriftsätze des Streithelfers der Beklagten vom 08.01.2019 (Bl. 323/329 d.A.) und vom 18.02.2020 (Bl. 484/488 d.A.) verwiesen.
5. Der Senat hat am 10.01.2019 (Bl. 337/340 d.A.), 07.05.2020 (Bl. 525/533 d.A.) und am 28.01.2021 (Bl. 680/683 d.A.) mündlich verhandelt und dort sowie mit Verfügungen vom 11.01.2019 (Bl. 341/343 d.A.), 29.04.2020 (Bl. 514/516 d.A.), Beschluss vom 18.05.2020 (Bl. 534/540 d.A.) und Verfügung vom 30.11.2020 (Bl. 625 d.A.) rechtliche Hinweise erteilt. Auf die Sitzungsprotokolle und die genannten Aktenfundstellen wird verwiesen. Er hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 22.03.2019 (Bl. 386/390 d.A.) durch Erholung eines Gutachtens des Sachverständigen I. Ku. (Heilpraktiker) und gemäß Beweisbeschluss vom 08.07.2020 (Bl. 585/587 d.A.) und ergänzendem Beschluss vom 04.12.2020 (Bl. 637/639 d.A.) durch Erholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Ki. (gynäkologisch/onkologischer Sachverständiger). Auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Ku. vom 27.12.2019 (Bl. 440/457 d.A.) und dessen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 07.05.2020 sowie auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Ki. vom 26.10.2020 (Bl. 600/606 d.A.) und dessen Ergänzungsgutachten vom 10.12.2020 (Bl. 645/647 d.A.) wird ebenfalls Bezug genommen. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Passau war auch im Berufungsverfahren beigezogen.
Auf Streitverkündung der Beklagten mit Schriftsatz vom 28.11.2018 (Bl. 315/317 d.A.) ist der Streitverkündete Dr. R. We. mit Schriftsatz vom 25.02.2019 (Bl. 368 d.A.) auf Seiten der Klagepartei dem Rechtsstreit beigetreten, auf Streitverkündung der Beklagten mit Schriftsatz vom 12.12.2018 (Bl. 319/321 d.A.) der Streitverkündete M. L. auf Seiten der Beklagtenpartei.
B.
Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts ist zulässig und überwiegend begründet. Die Beklagte ist dem Kläger wegen der fehlerhaften ärztlichen Behandlung seiner Mutter zum Schadensersatz verpflichtet. Hinsichtlich des Schmerzensgeldanspruches ergibt sich dies aus §§ 630 a Abs. 1, 280 Abs. 1, 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 1922 Abs. 1 BGB; für den Unterhaltsschaden aus §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 2 BGB. Dabei ist der Kläger auch hinsichtlich des ererbten Anspruches aktivlegitimiert, weil die Testamentsvollstreckerin die Geltendmachung der klagegegenständlichen Ansprüche durch Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 05.04.2017 (Anlage K 23) genehmigt hat, § 2012 BGB.
Die Beklagte ist bei der Behandlung von dem als Heilpraktikerin geschuldeten Standard abgewichen und hat dadurch den Tod der Mutter des Klägers verursacht.
I.
1. Zwischen Frau H. und der Beklagten bestand ein Behandlungsvertrag im Sinne von § 630 a Abs. 1 BGB, der zum Zeitpunkt der relevanten Behandlung auch nicht beendet war. Wenn man von seiner Beendigung ausgehen wollte, hätte die Beklagte nachvertragliche Sorgfaltspflichten verletzt.
a) Die Vorschriften der §§ 630 a ff. BGB gelten auch für Heilpraktiker (Palandt Weidenkaff, BGB, 80. Aufl., Rn. 3 vor § 630 a BGB). Da die Beklagte als solche auftritt, nimmt sie das entsprechende Vertrauen für sich in Anspruch und muss sich an dem insoweit etablierten Standard messen lassen (grundlegend: BGH VI ZR 206/90, insbes. Rn. 24 bei juris).
b) Die Behandlung erfolgte nach dem 26.02.2013, so dass das „Patientenrechtegesetz“ anwendbar ist.
c) Unstreitig und rechtlich nicht in Zweifel gezogen bestand zwischen Frau Hö. und der Beklagten jedenfalls zunächst ein vertragliches Behandlungsverhältnis, das insbesondere eine fortlaufende Beratung der Patientin im Hinblick auf ihre Tumorerkrankung zum Inhalt hatte.
d) Der Behandlungsvertrag bestand über den 04.06.2015 hinaus fort.
1) Zwar mag die Beklagte für die Zeit danach keine Rechnungen mehr gestellt haben, doch findet das eine ebenso schlüssige Erklärung in dem weiteren Krankheitsverlauf, dessen Entwicklung die Beklagte davon abgehalten haben kann, nun auch noch Rechnungen zu erstellen. Weiter hat die Beklagte zwar für die Zeit ab 08.06.2015 nichts mehr in ihrer Dokumentation festgehalten. Diese Dokumentation ist aber insgesamt so wenig aussagekräftig, dass der Senat daraus keine Rückschlüsse zu ziehen vermag. Es fällt im Gegenteil auf, dass sich die Beklagte zwar aus der Behandlung zurückgezogen haben will, dies aber gerade nicht in ihrer Dokumentation vermerkt hat, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Dabei steht nach dem Inhalt der E-Mails vom 05.06.2015 und 06.06.2015 (Anlage B1) fest, dass die Mutter des Klägers die Beklagte noch am 08.06.2015 aufgesucht (und dabei nicht nur den Kläger begleitet) hat: Am 05.06.2015 bedankte sie sich für den Termin und fragte, ob sie den Kläger mitnehmen dürfe und am 06.06.2015 beschrieb sie ihren Zustand, kündigte an, mit der Bestrahlung aufhören zu wollen und fragte nach dem Schlangengift.
Auch wenn sich Frau Hö. im Juni 2015, insbesondere ab 23.06.2015 dem Heilpraktiker Haug als Behandler zugewendet hat, folgt daraus keine „Entlassung“ der Beklagten aus ihren Pflichten. Tatsächlich hat sie Frau Hö. weiterhin beraten und ihr die – von Herrn Ha. verordneten – Horvi-Präparate besorgt. In ihrer E-Mail vom 16.06.2015 (Anlage K 28a) formuliert sie: „… damit wir möglichst schnell mit der Horviherapie beginnen können“. Sie bezeichnet sich dort auch als „in die Begleitung involviert“. In einer E-Mail vom 23.06.2015 (Anlage K 28 b) äußert sie sich zu dem Einnahmeplan und bewertet und ergänzt die Verordnung des Herrn Ha. Dem entspricht auch, dass Frau Hö. in einer E-Mail vom 22.06.2015 an Herrn Ha. von der Beklagten als „meine Heilpraktikerin“ spricht (Anlage zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 07.05.2020, nach Bl. 533 d. A.).
2) Und auch wenn es sich nicht um ein Dauerschuldverhältnis im Rechtssinne handelte, hätte die Beklagte die von ihr nun behauptete Beendigung des Vertragsverhältnisses jedenfalls gegenüber ihrer Patientin zum Ausdruck bringen und ihr damit deutlich machen müssen, dass sie für den Fortgang der Dinge nicht mehr verantwortlich sein wollte. Das hat sie schon nach eigenem Vortrag nicht getan und auch aus den dargestellten Umständen konnte die Patientin dies so nicht folgern.
Die Verantwortung der Beklagten für das Wohl der ihr vertrauenden Patienten endete erst mit deren Aufenthalt in einer „Klinik“ des Herrn Ha. ab 29.06.2015.
e) Selbst wenn man davon ausgehen will, der Behandlungsvertrag sei mit dem 04.06.2015 beendet gewesen, traf die Beklagte eine nachvertragliche Sorgfaltspflicht, die erkennbar ihren Rat und ihre Unterstützung suchende Patientin angemessen zu beraten (oder klar und unmissverständlich auf die Beendigung des Verhältnisses hinzuweisen).
2. Die deliktische Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB steht – unabhängig von einer möglichen Beendigung des Vertrages und mit im Übrigen gleichen Voraussetzungen neben der Haftung gemäß §§ 630 a ff BGB. Da die Einwilligung des Patienten stets nur auf eine dem Standard entsprechende Behandlung gerichtet ist, ist eine den Standard unterschreitende Behandlung eine Körperverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB. Auch im deliktischen System gelten entsprechend ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Grundsätze der Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler (Katzenmeier in Bamberger-Roth, BGB, 4. Aufl. 2019, § 630 h BGB, RdNr. 6).
II.
1. Die Beklagte hat Frau Hö. nicht ausreichend (therapeutisch) aufgeklärt und ist damit vom Standard einer sorgfältigen Heilpraktikerin negativ abgewichen.
a) Die Beklagte hätte in der Zeit zwischen 05.06.2015 und 09.06.2015 der Mutter des Klägers mit Nachdruck widersprechen müssen, als diese ankündigte, die Strahlentherapie abzubrechen. Nach dem 09.06.2015 und bis 29.06.2015 hätte sie aktiv und dringend zuraten müssen, die abgebrochene Strahlentherapie wieder aufzunehmen. Dabei ist dieser Zeitraum insgesamt zu betrachten und es kommt nicht auf die einzelnen Äußerungen im E-Mail-Verkehr oder am Telefon zu bestimmten Tagen an. Denn das Unterlassen der Beklagten hat sich Tag für Tag fortgesetzt – anders ausgedrückt: Die Beklagte hätte jederzeit und wiederholt in dem beschriebenen Sinn auf die Patientin einwirken müssen. Für ihre Behauptung, Frau Hö. am 25.06.2015 das Schreiben der Frau Dr. L. mit deren Einschätzung einer infausten Prognose gegeben und dazu geäußert zu haben „Horvi geht nimmer“, konnte die Beklagte keinen Beweis anbieten. Das zur Sitzungsniederschrift vom 07.05.2020, dort Seite 6 (Bl. 530 d.A.) erklärte Angebot, Herrn Ha. als Zeugen zu vernehmen, bezieht sich erkennbar darauf, dass Frau Hö. ab 29.06.2015 dessen Klinik aufgesucht hat, nicht auf die vorstehende Behauptung, die Beklagte habe ihre Patientin am 25.06.2015 persönlich informiert. Die Voraussetzungen einer Vernehmung als Partei von Amts wegen gemäß § 448 ZPO liegen nicht vor. Eine informatorische Anhörung beider Gesprächsteilnehmer war nach dem Tod der Patientin nicht mehr möglich.
Überdies ergibt sich auch aus einem so als zutreffend unterstellten Sachverhalt noch keine wirkliche Zäsur, denn auch zu diesem Zeitpunkt hat die Beklagte ihrer Patientin eben nicht klar und nachdrücklich den nun erst recht einzig richtigen Rat gegeben, sich wieder der Strahlentherapie zu unterziehen.
b) Die Überzeugung des Senates davon, dass die Beklagte ihre Pflichten gegenüber ihrer Patientin verletzt hat, gründet sich auf die Ausführungen des Sachverständigen Ku., ebenso aber auch auf die eigene Bewertung des E-Mail-Verkehrs zwischen der Patientin und der Beklagten durch den Senat.
Zunächst legt der Sachverständige zutreffend die Grundsätze dar, welche sich aus der Berufsordnung für Heilpraktiker (BOH) ergeben. Hierauf wird verwiesen (Gutachten, Seiten 6 ff); der Senat macht sich dies in rechtlicher Hinsicht als eigene Bewertung zu eigen.
Es bestehen bereits Zweifel daran, ob die Beklagte hinreichend qualifiziert war, die naturheilkundliche Betreuung einer onkologisch erkrankten Patientin auch nur im Sinne einer Begleittherapie zu übernehmen (Gutachten, Seite 8). Die relevante Fortbildung lag zum Zeitpunkt der Behandlung zehn Jahre zurück und hatte (nur) ca. 8 Stunden inklusive Pausen betragen. Auch sonst hatte die Klägerin seit ihrer Ausbildung außer einer Fortbildung in Humoralpathologie/Regenatherapie im Jahr 2004/2005 mit einem Umfang von ca. 28 Stunden keine weiteren Fortbildungen in den relevanten Bereichen mehr gemacht. Der Sachverständige schätzt den gesamten Umfang der Ausbildung als gering ein (Gutachten, Seite 8).
Weiter erscheint die Sinnhaftigkeit einer Horvi – Therapie von vorneherein zweifelhaft. Sie soll sich zwar seit 50 Jahren in der Praxis bewährt haben, wofür einige 100 Erfahrungsberichte über einzelne Fälle sprechen, jedoch gibt es keine unabhängigen klinischen Studien (Gutachten, Seite 9); in der Literatur wird die Therapie von verschiedenen Autoren ausdrücklich nicht als eine gültige Alternative zu etablierten Verfahren angesehen (Gutachten, Seite 9). Ihre Evidenz ist nicht belegt (Anhörung vom 07.05.2020, Seite 7). Sie durfte jedenfalls im Zustand der Frau Hö., anders als vielleicht sonst einmal, nicht als alleinige Therapie für ausreichend angesehen werden, sondern die Patientin brauchte eine medizinische Behandlung. Die entsprechende Beratung der Patientin war nach den für Heilpraktiker geltenden Maßstäben ausführlich zu dokumentieren und nicht so aufzuklären, war ein Fehler (Anhörung vom 07.05.2020, Seite 5). Es mag so sein, dass, wie die Beklagte anführt, die von ihr angewendeten Methoden von vorneherein jeglicher Evidenz entbehren und gerade darin der Unterschied zu den Behandlungsansätzen der „Schulmedizin“ liegt. Das verkennt freilich den Anspruch, dem die Beklagte als ausgebildete und geprüfte Heilpraktikerin entsprechen muss, was der Sachverständige überzeugend ausgeführt hat. Sie nimmt gegenüber ihren Patienten Vertrauen in Anspruch, die auf dieser Grundlage davon ausgehen dürfen, die Beklagte könne ihnen – anders als ein Mediziner, aber wirksam – helfen. Anders mag es sich bei einem schamanischen Heiler oder ähnlichen „Therapeuten“ verhalten.
Überdies ist die Horvi – Therapie nicht nur keine evidenzbasierte Behandlungsmethode, sondern in der Fachliteratur für Heilpraktiker wird ausdrücklich davon abgeraten, sie bei onkologischen Patienten einzusetzen (Gutachten, Seite 9).
Der Beklagten musste klar sein, dass sie aus Sicht der Patientin in deren Hoffen auf Genesung der „letzte Strohhalm“ war und deswegen musste sie berücksichtigen, dass die Patientin trotz bereits erfolgter Fremdaufklärung ihre Erkrankung und ihre konkrete Situation möglicherweise falsch einschätzte (Gutachten, Seite 10). Auch insoweit fehlt jegliche Dokumentation zu Art und Umfang der Aufklärung (Gutachten, Seite 10).
Der Sachverständige hat den E-Mail-Verkehr der Beklagten mit ihrer Patientin dargestellt und sorgfältig ausgewertet. Daraus ergibt sich eine „zunehmende Unsicherheit der Geschädigten“. Die Beklagte hätte das „erkennen und Frau Hö. erneut auf die Folgen eines Therapieabbruchs der Strahlentherapie hinweisen müssen“, (Gutachten, Seite 13 zum 22.06.2015; Anhörung vom 07.05.2020, Seite 5 zum 17.06.2015 und 21.06.2015). Stattdessen hob die Beklagte im E-MailVerkehr die möglichen Nebenwirkungen bzw. Folgen der Strahlentherapie hervor und „implizierte, dass die Horvi – Therapie eine geeignete Alternative sei“ (Gutachten, Seite 14). Insbesondere ergab sich aus den E-Mails vom 17.06.2015 und 21.06.2015 eine Verschlechterung und damit „rote Flaggen“ für die behandelnde Heilpraktikerin, was geboten hätte, nun die Patientin in einem persönlichen Gespräch zu beraten (Anhörung vom 07.05.2020, Seite 5). Anstatt klare Worte zu finden, hat die Beklagte mit E-Mail vom 22.06.2015 geschrieben „fühle mal rein, ob es für dich ein gangbarer Weg ist, die Bestrahlung überbrückend weiterzuführen“. Dem Mailverlauf war zu entnehmen, dass die Patientin Ängste hatte und ihre Situation wohl auch falsch eingeschätzt hat (Anhörung vom 07.05.2020, Seite 6).
Auf der Grundlage einer eigenen Bewertung des E-Mail-Verkehrs stimmt der Senat mit dem Fazit des Sachverständigen überein, es sei „eindeutig zu erkennen, dass bei Frau Hö. hinsichtlich ihrer Erkrankung erhebliche Unsicherheit und zunehmende Angst bestand und sie – trotz der ärztlicherseits erfolgten Aufklärung – die Folgen eines Abbruchs der Strahlentherapie sowie die Erfolgsaussichten einer palliativen Therapie mit der Horvi – Enzymtherapie falsch einschätzte“. Die Reaktion der Beklagten war der Situation nicht angemessen und sie hat es vorwerfbar unterlassen, die Patientin erneut und nachdrücklich auf die möglichen Folgen eines Therapieabbruchs, die Notwendigkeit der Fortsetzung der Strahlentherapie hinzuweisen (Gutachten, Seite 14).
Dabei hätte sich die Mutter des Klägers nicht zwischen der medizinischen Behandlung und alternativen Behandlungsmethoden entscheiden müssen, sondern letztere hätten begleitend fortgeführt werden können (Gutachten, Seite 15). Die Beklagte hätte sich also nicht einmal aus der Behandlung zurückziehen müssen.
Zwar ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, dass die Beklagte ihrer Patientin aktiv zum Abbruch der Strahlentherapie geraten hat, was „zweifelsfrei ein grob fahrlässiges, schlechterdings nicht nachvollziehbares Verhalten“ gewesen wäre (Gutachten, Seite 16). Aus der Dokumentation ergibt sich aber für den Sachverständigen wie für das Gericht kein einziger Anhaltspunkt in Richtung der geschuldeten Beratung. Dies gilt insbesondere für die behauptete Weitergabe des Schreibens der Frau Dr. L. vom 25.06.2015 und deren dort enthaltene Einschätzung, die Horvi – Therapie mache im Fall der Frau Hö. keinen Sinn mehr.
c) Es gibt keinen Anlass, an den Ausführungen des Sachverständigen zu zweifeln. Er ist, dem Grundsatz der fachgleichen Begutachtung entsprechend, selbst Heilpraktiker. Er wird vom Fachverband Deutscher Heilpraktiker e.V. regelmäßig als Gutachter benannt und vorgeschlagen. Herr Ku. ist selbst auch als Dozent tätig. Er war besonders geeignet, im konkreten Fall das Gericht sachverständig zu beraten, weil er – unter anderem – auch eine Ausbildung in naturheilkundlicher Onkologie durchlaufen hat. Der Sachverständige hat sein Gutachten sorgfältig aus den spezifisch für Heilpraktiker geltenden berufsrechtlichen und inhaltlichen Vorgaben hergeleitet, dies auch durch Angabe von Literaturstellen belegt. Er ist sehr differenziert vorgegangen, hat insbesondere tatsächliche Fragen von Rechtsfragen getrennt und sich zu letzteren (insbesondere zur Grobheit des festgestellten Behandlungsfehlers, Gutachten Seite 16) einer eigenen Beurteilung enthalten. Im Vorfeld der Begutachtung hat er die Qualifikationen der Beklagten abgefragt. Bei all dem ist deutlich geworden, dass er naturkundliche Behandlungsmethoden grundsätzlich als berechtigt betrachtet, zugleich aber auch deren Grenzen vorurteilsfrei einzuschätzen weiß.
2. Die Beklagte war nicht nur Vermittlerin oder Botin von oder zu Frau Dr. L., sondern aktive Behandlerin der Klägerin. Das belegt der gesamte E-Mail-Verkehr, beginnend schon in der Zeit der Schwangerschaft (vgl. Anlage K 10 vom 19.03.2015) und danach andauernd (vgl. die oben bei Zi. 1. b) wiedergegebenen E-Mails).
3. Die Beklagte wird auch nicht dadurch entlastet, dass sich Frau Hö. ab 23.06.2015 Herrn Ha. als – sei es auch primären – Behandler zugewendet haben mag. Es wurde bereits dargestellt (oben I.1. d)), dass die Beklagte weiterhin aktiv an der Behandlung teilgenommen hat. Dass der Vorwurf einer fehlerhaften Behandlung ab diesem Zeitpunkt möglicherweise auch Herrn Ha. treffen mag, befreit die Beklagte nicht von der Haftung, sondern ist allenfalls eine Frage des Innenausgleichs mehrerer Gesamtschuldner.
4. Dass Frau Hö. seitens der sie behandelnden Ärzte Dr. We. (Frauenarzt) und Dr. Wa. (Strahlenmedizinerin) über die tödliche Gefahr, ja sogar Wahrscheinlichkeit des Todes bei Abbruch der Strahlentherapie wusste, kann die Beklagte nicht entlasten. Aus seiner fachlichen Sicht hat sich der Sachverständige K. hierzu geäußert, vergleiche oben, Zi. 1b). In rechtlicher Hinsicht gilt: Die Beklagte unterscheidet in ihrer Argumentation nicht hinlänglich zwischen Aufklärung im eigentlichen Sinn und einer therapeutischen Aufklärung, insbesondere wenn sie hervorhebt, dass auf die Aufklärung auch verzichtet werden kann, §§ 630 e Abs. 3, 630 c Abs. 4 BGB. Die in § 630 e Abs. 1 BGB normierten Aufklärungspflichten betreffen die „für die Einwilligung wesentlichen Umstände“. Darum ging es hier indessen nicht, sondern die Beklagte war aufgrund des bestehenden Behandlungsverhältnisses verpflichtet, der ihren Rat suchenden Frau Hö. den (möglichst sicheren) Weg zu weisen. Die Beklagte durfte es nicht einfach so hinnehmen, dass sich ihre Patientin gegen die einzig sinnvolle Behandlung entschieden hatte. Die Patientin suchte ja gerade nach alternativen Heilmethoden, hatte den Glauben an die „Schulmedizin“ verloren und vertraute der Beklagten (und anderen Beteiligten), sie auf diesem Weg zu begleiten. Gerade hierin liegt der zentrale Vorwurf gegen die Beklagte begründet. Die Argumentation der Beklagten würde nur dann Sinn ergeben, wenn man davon ausgehen wollte, Frau Hö. habe sich entschlossen, in den Tod zu gehen. Davon kann freilich angesichts der vorliegenden E-Mail-Korrespondenz keine Rede sein. Frau Hö. wollte – für ihren Sohn, den Kläger – leben und nicht sterben. Insbesondere in einer E-Mail vom 21.06.2015 hat sie das ausdrücklich so formuliert.
5. Zu den zuletzt erhobenen/wiederholten Einwänden der Beklagten:
a) Unzutreffend verweist die Beklagte auf eine frühere Entscheidung des 27. Senates (OLG München, Az. 27 U 86/88). Dort war bei dem Patienten keine sinnvolle Behandlung des bereits fortgeschrittenen Bronchialkarzinoms mehr möglich und der Vortrag der klagenden Witwe war auch gerade nicht darauf gerichtet, dass „durch die Tätigkeit des beklagten Heilpraktikers eine Behandlung durch einen Facharzt unterblieben und hieraus Schaden entstanden“ war. Die Beklagte schuldete in der Tat nicht einen Hinweis auf die überlegene Kompetenz der Fachmedizin, denn die lag auf der Hand. Sie schuldete aber einen Hinweis auf die Unzulänglichkeit ihrer Methode.
b) In der Tat haben der Senat und das OLG Stuttgart entschieden, ein Heilpraktiker müsse nicht auf die überlegenen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Schulmedizin hinweisen und dabei darüber informieren, dass die von ihm empfohlene Therapie medizinischwissenschaftlich nicht allgemein anerkannt ist (OLG München 1 U 5100/97; OLG Stuttgart, 14 U 25/97). Der Vorwurf der fehlerhaften therapeutischen Aufklärung reicht hier aber, wie oben dargestellt, weiter als das Unterlassen eines Hinweises auf einen fehlenden wissenschaftlichen Wirknachweis.
c) Die Patientin hatte die Beklagte am 08.06.2015, also einen Tag vor dem geplanten letzten Termin zur Strahlentherapie aufgesucht. Im Vorfeld hatte sie mit E-Mail vom 06.06.2015 geschrieben, sie werde nun mit der Bestrahlung aufhören. Das hatte sie schon mit einer E-Mail vom 05.06.2015 angedeutet (beide E-Mails Anlage B1). Die Beklagte will nun am 08.06.2015 der Patientin gesagt haben, sie möge dies mit Dr. W. besprechen und leitet daraus ab, dass ihre Verantwortung spätestens an diesem Tage geendet hätte. Dieser Einwand scheitert aber schon auf tatsächlicher Ebene, denn die Äußerung ist vom Kläger bestritten worden und es gibt keinen Eintrag darüber in der Dokumentation der Beklagten für diesen Tag. Mangels jeglichen „Anbeweises“ kam insofern auch keine Parteieinvernahme der Beklagten gemäß § 448 ZPO in Betracht.
d) Die von der Beklagten angeführten E-Mails vom 16. und 17.06.2015 (Anlage B 2, Reaktion der Beklagten vom 17.06.2015 Anlage K 28 a), in denen Frau Hö. ausführte, es sei jetzt „mit Dr. We. so vereinbart, dass wir uns immer wieder sehen und ich sage was ich will. Ob Untersuchung oder ein Gespräch. Er ist für alles offen und das ist so schön. Er geht meinen Weg mit.“ sind bedeutungslos. Die Behandlung war fehlerhaft und ein möglicherweise fehlerhafter Rat eines anderen Behandlers ändert daran zunächst nichts. Die Beklagte durfte auch keinesfalls davon ausgehen, dass Dr. We. damit die Verantwortung für die „alternativen Heilmethoden“ der Beklagten übernommen hatte. Sie zitiert die Äußerungen ihre Patientin unvollständig. Betrachtet man den Wortlaut der Schreiben insgesamt, durfte die Beklagte im Gegenteil gerade nicht davon ausgehen, dass Dr. We. den Abbruch der Strahlentherapie für verantwortbar hielt. Frau Hö. berichtet dort, dass der Arzt „am Abend mit dem Rad bei uns (zuhause) vorbeigekommen“ war und dass er zuvor „ganz geschockt (war), dass ich alles abgebrochen hatte“. Woraus hätte sich denn ein solcher Wandel in der medizinischen Einschätzung ergeben sollen? Die Patientin war nach dem Abbruch der Strahlentherapie ohne jede Therapie, denn sogar die (untaugliche) Schlangengiftbehandlung bedurfte noch weiterer Vorbereitung. Die Beklagte argumentiert insoweit auch widersprüchlich, denn am 22.06.2015 (Anlage B4 und auch Anlage K 29) bat sie die Patientin, in Betracht zu ziehen, die Bestrahlung überbrückend weiterzuführen. Wäre sie davon ausgegangen, dass die Strahlentherapie mit (zutreffender) Billigung des behandelnden Arztes abgebrochen worden war, hätte kein Anlass für diese Frage bestanden.
III.
Die unzureichende therapeutische Aufklärung ist ursächlich für den Tod der Mutter des Klägers geworden.
1. Die Beweislast für den Zusammenhang eines Behandlungsfehlers und des Primärschadens obliegt nach § 286 ZPO dem Patienten, hier dem Kläger als Rechtsnachfolger. Der Primärschaden ist hier der Wegfall der den Tumor bekämpfenden Wirkung der Strahlentherapie, das damit beförderte Wachstum des Tumors und die weitere Entwicklung bis zum Tod der Patientin.
2. Ob der Kläger den danach erforderlichen „Vollbeweis“ führen konnte, mag dahinstehen. Zu seinen Gunsten greift jedenfalls eine Beweislastumkehr gem. § 630 h Abs. 5 BGB, weil die Beklagte sogar grob fehlerhaft gehandelt hat. Der unter Ziffer II. festgestellte Behandlungsfehler erscheint schlechterdings nicht nachvollziehbar. Für die Grobheit des Fehlers kann nicht auf einzelne Tage abgestellt werden, sondern es ist die gesamte Zeit zwischen 05.06.2015 und 29.06.2015 von Bedeutung. Zwar ist dem Sachverständigen das Verhalten der Beklagten erst ab 22.06.2015 als schlechterdings nicht nachvollziehbar erschienen (Anhörung vom 07.05.2020, Seite 7), doch ist anerkannt, dass die Umkehr der Beweislast auch dann gerechtfertigt ist, wenn eine Kette von Fehlern, insbesondere von teilweise groben Fehlern, einen besonders schweren Vorwurf gegen den Behandler begründet (Katzenmeier in Bamberger-Roth, BGB, 4. Aufl. 2019, § 630 h BGB, RdNr. 58 m.w. Nachw.). Schon allein die Zeitdauer weist in Richtung eines groben Behandlungsfehlers. Dies gilt umso mehr, als während dieser Zeit mehrmals „rote Flaggen“ für die behandelnde Heilpraktikerin aufschienen und die Beklagte in der Aus- und Fortbildung nur geringe Kenntnisse im onkologischen Bereich erworben hatte.
Die Beklagte selbst führt auch im Nachhinein keinen einzigen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit ihres Therapieansatzes an, der ihr Vorgehen erklären könnte.
Bei alldem ging es nicht um harmlose Beschwerden, sondern um eine todbringende Krankheit. Das Argument der Beklagten, sie habe die laufende Strahlentherapie nur naturheilkundlich unterstützt, wendet sich jedenfalls für die Zeit ab 09.06.2015 gegen sie, weil sie wusste, dass sich die Patientin gegen die Fortführung der Strahlentherapie entschieden hatte. Dieses Wissen ergibt sich aus den E-Mails der Patientin vom 05.06.2015 und 06.06.2015 ebenso wie aus der Behandlungsdokumentation der Beklagten. Dort ist für den Termin vom 08.06.2015 eingetragen: „= 14 Bestrahlungen # CT“. Darüber ist ergänzt: „will ab morgen Ø mehr“. Damit war die Patientin vorübergehend ohne jede Therapie, es gab also nichts mehr, was naturheilkundlich zu begleiten war. Die Beklagte nimmt zwar insoweit für sich in Anspruch, sie habe der Patientin mit E-Mail vom 16.06.2015 (Anlage B 16 und auch schon B 4) geraten, bis zum Einsetzen der HorviTherapie zu erwägen, doch eine Strahlentherapie zu machen. Dieser Vorschlag war aber in seiner Unverbindlichkeit nicht ausreichend. Es ist insbesondere auch überhaupt nicht nachzuvollziehen, warum die Beklagte sogar nach der klaren Ansage der Frau Dr. L., die Horvi-Therapie könne der Patientin nicht mehr helfen, diese dennoch bei der Beschaffung der notwendigen Präparate unterstützt hat.
3. Die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers greift grundsätzlich auch in den Fällen einer fehlerhaften therapeutischen Aufklärung (BGH VersR 2005, 228).
4. Die Beweislastumkehr entfällt nicht wegen eines gleichgewichtigen Eigenverschuldens der Patientin. In rechtlicher Hinsicht kann daraus folgen, dass die Beweislastumkehr trotz der Grobheit des Fehlverhaltens des Behandlers nicht greift, wenn der Patient durch eigenes sorgloses Verhalten im gleichen Maße wie der Behandler eine erfolgreiche Behandlung erschwert hat, BGH vom 16.11.2004, VI ZR 328/03. Es kommt aber auch in Betracht und ist im konkreten Fall geboten, § 254 BGB anzuwenden (Martis-Winkhart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., 2018 Rn. G 282).
a) Die Umkehr der Beweislast für die Kausalität bei groben Behandlungsfehlern wurde vom Bundesgerichtshof zunächst damit begründet, durch die Grobheit des Behandlungsfehlers werde dem Patienten die Beweisführung für die Kausalität erschwert, (BGH NJW 1983, 333). Der Ansatz hätte zu einem weiteren Schritt in der Beweiserhebung führen müssen: Konsequent wäre es gewesen, unabhängig von der Qualität des Behandlungsfehlers zu klären, ob er den Kausalitätsbeweis wirklich erschwert hat (diese Klärung durch den Tatrichter verlangt denn auch Prütting unter Berufung auf die Gesetzesbegründung, GesR 2017, 681 ff, 684). Da das eigene Argument wohl auch vom Bundesgerichtshof als nicht tragfähig, jedenfalls nicht praktikabel, erkannt wurde, hat er seinen Ansatz nicht konsequent weiterverfolgt (wobei die Gesetzesbegründung zu § 630 h BGB auf diese eigentlich überholte Rechtfertigung zurückgreift (BT-Drucks. 17/10488, 30)). Letztlich handelt es sich dabei um diffuse Billigkeitserwägungen (Gerda Müller, VersR 2006, 1289/1296: „Billigkeitsprinzip“; Katzenmeier (Arzthaftung, 2002, S. 464 ff) versucht demgegenüber eine Herleitung aus den Gesichtspunkten der Gefahrerhöhung und der Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs, sieht aber selbst auch diesen Begründungsansatz nicht als „dogmatisch restlos überzeugend“ an). Der Gesetzgeber des Patientenrechtegesetzes hat in der Gesetzesbegründung ausgeführt: „Von dem Regelfall des Abs. 5 kann allerdings dann nicht ausgegangen werden, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang im Einzelfall äußerst unwahrscheinlich ist. Dies ist etwa dann der Fall, … wenn der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den Heilungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann“ (BT-Drucks. 17-10488 v. 15.8.2012). Das ist nicht schlüssig, zeigt aber den Willen des Gesetzgebers auf, es bei der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (auch insoweit) zu belassen. Damit wird man auch unter Geltung des Patientenrechtegesetzes in solchen Fällen grundsätzlich weiterhin dazu kommen können, dass trotz der Grobheit des Behandlungsfehlers die Beweislastumkehr entfällt, obwohl dies in § 630 h BGB so nicht ausdrücklich formuliert ist. Dabei ist aber die Umkehr der Beweislast die Regel und die Ausnahme von der Regel muss in besonderem Maße gerechtfertigt sein.
b) Für eine gleichgewichtige Mitverursachung durch Frau Hö. und den sich daraus ergebenden Wegfall der Beweislastumkehr sprechen mehrere Umstände. Das beginnt mit dem Unterlassen einer eigentlich indizierten Chemotherapie und setzt sich fort mit dem Abbruch der Strahlentherapie. All das geschah gegen den ausdrücklichen Rat des Dr. We., obwohl der sich nachhaltig und in besonders hervorzuhebender Weise um die Patientin bemüht hatte, wie auch gegen den Rat der ebenfalls besonders verantwortlich handelnden Frau Dr. Wa., die den Abbruch der Strahlentherapie der Patientin gegenüber wörtlich mit einem Todesurteil gleichgesetzt hatte. Frau Hö. war wohl auch anderweitig beraten; die Idee einer Horvi-Therapie ging sogar initial von ihr aus (Anlage B1 vom 06.06.2015). Und schließlich hat sich Frau Hö. aus eigenen Stücken an den Heilpraktiker Ha. gewandt, als die erwartete Verordnung seitens der Frau Dr. L. auf sich warten ließ.
c) Dennoch muss es hier bei der Umkehr der Beweislast bleiben. Frau Hö. war auf der verzweifelten Suche nach alternativen Heilungsmöglichkeiten und das unterscheidet den Fall von jenen, in denen der Patient einen Rat des Behandlers leichtfertig nicht befolgt. In ihrer irrationalen Ablehnung der „Schulmedizin“ suchte sie Stärkung und Unterstützung und vertraute dabei der Beklagten. Bei aller Eigenständigkeit auf der Suche nach „alternativer“ Behandlung hat sie doch fortlaufend deren Rat gesucht und befolgt. Die Beklagte hat diese Abkehr der Patientin befördert (beispielhaft Anlage K 12 vom 08.04.2015, damals noch im Zusammenhang mit der von den Ärzten angeraten Chemotherapie: „Ich hatte heute erst wieder eine Patientin in der Praxis, die mir erzählte, dass ihr Opa vor über 15 Jahren eine Chemo ablehnte, seinen Weg ging und nun derjenige ist, der als einziger … überlebt hat. Und: „(es gibt Umfragen unter Ärzten, dass sie selbst zu 90% im EIGENEN Fall keine Chemo wollen … und ganz anders entscheiden, als sie dies bei Patienten tun.)“
5. Der Beklagten ist der ihr grundsätzlich mögliche Gegenbeweis, also der nach dem Maßstab des § 286 ZPO zu führende Beweis, ihr Fehler sei nicht kausal für den weiteren Verlauf geworden, nicht gelungen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Frau Hö. ohnehin und in gleicher Zeit dem Tode entgegen gegangen wäre.
a) Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass Frau Hö. dem von der Beklagten geschuldeten Rat zuwider die Strahlentherapie auf keinen Fall fortgeführt oder wieder aufgenommen hätte. Zwar ist richtig, dass die Patientin den klassischen Behandlungsmethoden der von ihr so bezeichneten Schulmedizin ablehnend gegenüberstand. Das Landgericht hat das in seinem Urteil ab Seite 9 grundsätzlich zutreffend dargestellt. Auch wenn die Ausführungen der Zeugen Dr. Hu., Dr. We., Dr. Wa. und Dr. Ka. und die Dokumentation des Dr. Z. vor dem Landgericht in diese Richtung weisen, reicht das in Zusammenhang mit den gewechselten E-Mails dem Senat nicht, sich die nach § 286 ZPO notwendige Überzeugung zugunsten der Beklagten zu bilden.
In ihrer E-Mail vom 22.06.2015 (Anlage K 29 S.1) schrieb Frau Hö. an die Beklagte: „ich hab auch kurz überlegt, ob ich nicht doch den ganzen schulmedizinischen Weg gehe, aber es fühlt sich nicht wirklich stimmig an“; am 21.06.2015 beschrieb sie sich als „total verunsichert“ (Anlage K 29 S.2). Nach dem Abbruch der Strahlentherapie hatte die Beklagte am 16.06.2015 in der bereits angeführten E-Mail (Anlagen B 16 = Anlage K 28a) Frau Hö. gefragt, ob sie denn nicht mit der Bestrahlung die Wartezeit bis zum Eintreffen der Verordnung für die Horvi – Therapie überbrücken wolle. Dies hat Frau Hö. nicht rundherum abgelehnt, sondern nachgefragt: „Glaubst du echt, dass es so heikel ist, wenn selbst du mich fragst, ob die Fortsetzung der Strahlentherapie ein gangbarer Weg ist?“ (Anlage K 29 S.1). Die Beklagte argumentiert im Prozess nun damit, infolge ihrer Anfrage habe sich die Patientin an Herrn Ha. gewendet, was belege, dass sie schon auf einen solchen sehr zurückhaltenden Rat mit Misstrauen und Abkehr reagiert habe. Das ist nicht überzeugend. Denn die Anfrage an Herrn Ha. war erkennbar dadurch motiviert, dass Frau Dr. L. den erwarteten Therapieplan noch nicht erstellt hatte. Natürlich stand die Patientin Ende Juni unter dem Eindruck des nun bereits fortgeschrittenen Krankheitsverlaufs, aber ihre Äußerungen weisen doch darauf hin, dass sie bei einer energischen und frühen Intervention der Beklagten ihre Entscheidung möglicherweise anders getroffen hätte. Der Sachverständige Ku. hat das ebenso bewertet (oben, II.1. b), Gutachten, Seite 14).
Bei aller Offenheit gegenüber naturheilkundlichen Ansätzen im Sinne einer unterstützenden Therapie waren die als Zeugen vernommenen Behandler Ärzte – in der Weltsicht der Patientin „Schulmediziner“ – und standen damit von vorneherein in einem Antagonismus zu „alternativen Behandlungsmethoden“. Hätte die Beklagte die gesundheitliche Situation der Patientin zutreffend und übereinstimmend mit den behandelnden Ärzten geschildert und zur Strahlentherapie geraten, hätte genau das den Ausschlag dafür geben können, die gebotene Behandlung fortzuführen.
Die erneute Vernehmung der Zeugen war nicht geboten; der Senat weicht nicht von der Beweiswürdigung des Landgerichts ab, dessen Urteil auf der Annahme beruht, die Beweislast liege beim Kläger und das dann den Kausalitätsbeweis als nicht geführt angesehen hat.
b) Wäre Frau Hö. dem geschuldeten Rat gefolgt, hätte sie sogar sehr gute Heilungschancen gehabt.
1) Dies folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Ki.
Der Sachverständige hat sich zunächst zu seinem methodischen Vorgehen und den Beurteilungsgrundlagen aus medizinischer Sicht geäußert (Gutachten, Seiten 1-4). In der Folge stellt er dar, dass und warum die Variante der Wiederaufnahme der Strahlentherapie schwieriger zu beurteilen ist als die der ununterbrochenen Fortsetzung und führt aus, dass die ununterbrochene Fortsetzung eine größere Wahrscheinlichkeit für eine positive Entwicklung gehabt hätte als die Wiederaufnahme nach Unterbrechung (Gutachten, Seiten 4-5).
Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass Frau Hö. mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 50% fünf Jahre überlebt hätte (Gutachten, Seite 6). Bei konsequent durchgeführter Strahlentherapie hätte die Überlebenswahrscheinlichkeit bezogen auf den Tod am 14.10.2015 mehr als 98% betragen. Das gilt zunächst sogar für die Wiederaufnahme einer unterbrochenen Therapie.
Die Wahrscheinlichkeit für ein Überleben von einem Jahr betrug bei konsequent fortgesetzter Strahlentherapie 85% bis 90%, für das Überleben von 2,5 Jahren 75% für das Überleben von fünf Jahren 60%. Für ein darüber hinausgehendes Langzeitüberleben betrug die Wahrscheinlichkeit ca. 50%. (Gutachten, Seite 6). Eine mehrwöchige Unterbrechung der Strahlentherapie beeinflusste die Erfolgschancen negativ, eine Wiederaufnahme am 01.07.2015 hätte aber immer noch eine relevante Überlebenswahrscheinlichkeit auf Dauer erbracht (Gutachten, S. 4-6). Alle von der Beklagten und anderen Heilpraktikern diskutierten oder eingesetzten Therapien waren demgegenüber völlig ungeeignet, die Überlebenschance nach unterbrochener Strahlentherapie positiv zu beeinflussen (Gutachten, Seite 6). Dabei hatte Frau Hö. keine „sehr seltene“ Erkrankung und es hatte auch zur Zeit der durch Dr. Ka. während der Schwangerschaft erfolgten Operation noch kein zervixüberschreitendes Wachstum vorgelegen (Ergänzungsgutachten, Seite 2). Blutungen in der 25. und 26. Schwangerschaftswoche lassen nicht den sicheren Schluss darauf zu, dass der Tumor weiter gewuchert war (Ergänzungsgutachten, Seite 2). Selbst bei einem unterstellten Tumorgeschehen im Stadium III (statt II a +/- II b) hätte die Strahlentherapie eine ca. 30% bis 40% langfristige Überlebenschance beinhaltet (Ergänzungsgutachten, Seite 3). Der Sachverständige spricht insoweit von der kombinierten Radiochemotherapie, meint jedoch durch den Bezug auf die Ausführungen des Erstgutachtens erkennbar die im Fall der Klägerin unterbrochene Strahlentherapie).
2) Der Senat folgt dem Sachverständigen ohne jeden Zweifel. Das liegt nicht nur an seiner hervorragenden Stellung als Leiter der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universitätsklinik E. Der Sachverständige ist auch gerade auf dem Gebiet der gynäkologischen Onkologie ein ausgewiesener Spezialist, wie seine Vita (https://frauenklinik. …/) und die umfangreichen Quellenangaben in seinem Gutachten vom 26.10.2020 belegen. Er hat den Sachverhalt gewissenhaft ausgewertet, dargestellt und medizinisch beurteilt. Auf die Fragen der Beklagten ist er in seinem Ergänzungsgutachten vom 10.12.2020 sorgfältig eingegangen. Seine Ausführungen sind nicht nur für den auf Arzthaftungsachen spezialisierten Senat gut nachvollziehbar, sondern stehen auch in Einklang mit der Einschätzung der früheren Behandler Dr. We. und Dr. Wa. Sie lassen schließlich auch keine Voreingenommenheit gegenüber der Beklagten als naturheilkundlich tätiger Heilpraktikerin erkennen.
IV.
Das unter Zi. III 4 b) dargestellte Verschulden der Frau Hö. gegen sich selbst ist bei der Schmerzensgeldbemessung und gem. §§ 846, 254 BGB in Bezug auf den materiellen Schaden zu berücksichtigen. Die Abwägung der beiderseitigen Beiträge führt zu einer Mitverschuldensquote von 1/3.
Dabei konnte sich der Senat nicht die Überzeugung bilden, dass Frau Hö. der Beklagten „hörig“ war. Des hierfür vom Kläger angebotenen Sachverständigenbeweises durch psychiatrisches Gutachten bedurfte es nicht, weil der Senat aus den vorliegenden Tatsachen eine eigenständige Beurteilung zu treffen vermag. Der Kläger hat keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass seine Mutter an einer psychischen Erkrankung im Sinne der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision) gelitten hat. Das unter Zi. III 4 b) bereits dargestellte Verhalten der Frau Hö. belegt, auch unter Berücksichtigung der einzelnen Formulierungen im E-Mail-Verkehr, dass sie sich vielfältig informiert und eigenständige Entscheidungen getroffen hat. Insoweit ist insbesondere der Umstand, dass die Patientin sich auch Herrn Ha. zugewendet hat, als die Verordnung der Horvi – Therapie durch Frau Dr. L. unerwartet lang gedauert hatte, von Bedeutung.
Zulasten der Beklagten hat der Senat ihr angesichts der Schwere der Krankheit völlig inadäquates Vorgehen über Wochen und Monate hinweg berücksichtigt.
In der Gesamtschau war eine hälftige Teilung nicht zu rechtfertigen, da die Mutter des Klägers sich in größter Not der Beklagten als Patientin anvertraut und auf deren überlegenes – von ihr vorausgesetztes – Fachwissen verlassen hatte.
V.
Für die Bemessung des Schmerzensgeldes gilt, dass nur die Zeit vom Abbruch der Strahlentherapie am 09.06.2015 bis zum Tod am 14.10.2015 Berücksichtigung finden kann und die Patientin auch bei Fortführung der Strahlentherapie und gegebener Grunderkrankung in dieser Zeit Schmerzen und Nebenwirkungen hätte erdulden müssen. Die in dem umschriebenen Zeitraum damit hypothetisch einhergehenden Schmerzen bleiben jedoch hinter dem Leid einer sterbenden Krebspatientin im finalen Stadium weit zurück. Dies ist allgemein bekannt und bedarf daher nicht des Beweises, insbesondere nicht des Beweises durch Sachverständigen. Zudem wirkt schwer, dass die Patientin in ihren letzten Wochen erleben musste, dass sie sterben und den Kläger, dessen Wohlergehen vom Beginn der Schwangerschaft an für sie so wichtig gewesen war, dass sie ihre eigene Behandlung hintanstellte, ohne Mutter zurücklassen würde. Sie musste erkennen, dass sie sich im Vertrauen auf die Beklagte für einen todbringenden Weg entschieden hatte und mit dieser Erkenntnis leben (und sterben). Unter Abwägung aller Gesichtspunkte, auch und gerade des eigenen Verhaltens, beträgt das angemessene Schmerzensgeld 30.000,00 €. Der Umstand, dass sich die Beklagte fahrlässig, möglicherweise auch ihre berufsrechtlichen Pflichten verletzend, nicht haftpflichtversichert hat, bleibt dabei außer Betracht.
Der Kläger konnte und musste die Zahlung eines ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrages auf das zu seinen Gunsten als Alleinerben eingerichtete Sparkonto beantragen. Die Mutter des Klägers hatte mit letztwilliger Verfügung Testamentsvollstreckung angeordnet. Die Testamentsvollstreckerin hat für den Kläger das im Urteilstenor benannte Sparkonto eingerichtet und bei Genehmigung der Prozessführung des Klägers die Zahlung dorthin angeordnet (Anlage K 23).
VI.
1. Für das erste Lebensjahr des Klägers wird in der Klage ein „Barunterhalts- und Haushaltsführungsschaden“ von 9.468,60 € dergestalt berechnet, dass dessen Mutter bis 14.04.2016 nicht berufstätig gewesen wäre und sich persönlich 36,7 Stunden in der Woche um den Kläger gekümmert hätte. Das begegnet ebenso wie der geltend gemachte Ansatz von 10,00 €/Stunde keinen Bedenken, § 287 ZPO.
Für die Zeit danach hat der Kläger einen monatlichen Barunterhaltsschaden in Höhe von 567,53 € berechnet und diesen vom 14.05.2016 bis 14.12.2016 mit 3.972,71 € beziffert und eingeklagt. Der auf Seiten 25/26 der Klage dargestellte Berechnungsansatz trifft zu, § 287 ZPO. Allerdings war das Mitverschulden der Mutter des Klägers mit 1/3 zu berücksichtigen. Weiter muss sich der Kläger die seit 14.10.2015 bezogene Waisenrente anrechnen lassen, wie sie sich aus der Anlage zum Protokoll vom 28.01.2021 ergibt; insoweit ist die Forderung auf den Sozialversicherungsträger übergegangen.
In dieser ursprünglichen Berechnung ist der Zeitraum vom 14.04.2016 bis 14.05.2016 nicht mit erfasst. Für diese Zeit wurde ein Barunterhaltsschaden nicht eingeklagt. Soweit der Kläger dies mit Schriftsatz vom 18.02.2021 (Seite 2, Bl. 685 d.A.) nachträglich geltend machen will, liegt darin eine Klageerweiterung, die nach Schluss der mündlichen Verhandlung unzulässig ist (vgl. Thomas/Putzo-Seiler, ZPO, 41. Aufl., § 296a Rn. 1).
Damit ergibt sich folgende Berechnung:
Unterhaltsschaden vom 14.10.2015 bis 14.12.2016 13.441,31 (ohne 14.04.2015 bis 14.05.2015)
Davon 2/3 8.960,87 €
Waisenrente vom 14.10.2015 bis 14.12.2016 – 1.856.36 €
(ohne 14.04.2015 bis 14.05.2015)
(4,5 × 146,24 € + 3 x 145,9 € + 5,5 × 152,11 €)
7.104,51 €
Der seit 15.12.2016 monatlich entstehende Unterhaltsschaden unterfällt dem Feststellungsausspruch, wobei auch hier das Mitverschulden der Mutter des Klägers zu berücksichtigen war. Die auch für diese Zeit gebotene Anrechnung der Waisenrente ergibt sich aus dem im Tenor ausgesprochenen Vorbehalt des Anspruchsüberganges auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte.
2. Allerdings konnte der insoweit nach dem Maßstab des § 287 ZPO beweisbelastete Kläger nicht die Überzeugung des Gerichts davon begründen, seine Mutter hätte ihm noch viele Jahre mehr Unterhalt leisten können. Dies folgt aus den Angaben des Sachverständigen Professor Dr. Ki. die bereits dargestellt wurden, oben Ziffer III.5.b). Eine hinreichende Überlebenswahrscheinlichkeit kann davon ausgehend nur für einen Zeitraum von fünf Jahren ab 09.06.2015 angenommen werden. Überdies kommt es insoweit auch nicht auf das bloße Überleben der Mutter des Klägers an, sondern darauf, ob sie ihm überhaupt Unterhalt hätte leisten können, wenn sie länger gelebt hätte.
Mit Schriftsatz vom 18.02.2021, Seite 5 (Bl. 688 d.A.) hat der Kläger nach Schluss der mündlichen Verhandlung beantragt, den Sachverständigen hierzu anzuhören. Dies gebot jedoch nicht, die mündliche Verhandlung gem. § 156 ZPO wieder zu eröffnen. Die Äußerungen des Sachverständigen (wie schon die Fragestellung im Beweisbeschluss) sind klar und eindeutig. Der Kläger kann sich insoweit nicht mit Erfolg darauf berufen, er habe im Schriftsatz vom 03.12.2021, Seite 3 (Bl. 635 d.A.) um einen rechtlichen Hinweis gebeten. Die Bewertung der Ausführungen des Sachverständigen oblag dem Kläger bzw. dem Klägervertreter, dessen Schriftsatz nicht die Zielrichtung einer etwaigen Anhörung des Sachverständigen und mögliche Einwände erkennen lässt, sondern den Anhörungsantrag lediglich für den Fall stellt, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme dem Kläger nicht günstig sei. Ein solcher „bedingter Anhörungsantrag“ war nicht zulässig; ein Hinweis nicht geboten.
VII.
Hinsichtlich zukünftiger immaterieller Schäden ist der Feststellungsantrag allerdings unzulässig, weil insoweit kein Interesse an einer Feststellung mehr bestehen kann, § 256 Abs. 1 ZPO. Die Bemessung des ererbten Schmerzensgeldanspruchs der Geschädigten, die am 14.10.2015 verstorben ist, war ersichtlich vor Klageerhebung abgeschlossen. Eigene immaterielle Ansprüche des Klägers wegen des vorzeitigen Versterbens seiner Mutter stehen nicht im Raum, insbesondere kommt ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld gemäß § 844 Abs. 3 BGB von vornherein nicht in Betracht. Diese Vorschrift ist in zeitlicher Hinsicht nur anwendbar, wenn die zum Tode führende Verletzung nach dem 22.07.2017 eingetreten ist, Art. 229 § 34 EGBGB.
VIII.
Zinsen und vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten kann der Kläger gemäß §§ 284 ff. ZPO verlangen.
IX.
Es ist angemessen, die Kosten des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben §§ 97, 92 Abs. 1 ZPO; für die Streithelfer gilt nach § 101 ZPO, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen müssen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert, § 543 Abs. 2 ZPO.
Verkündet am 25.03.2021
Beschluss
Die Streitwertfestsetzung im Beschluss von 10.01.2019 wird aufgehoben. Der Streitwert wird für beide Rechtszüge auf 82.510 € festgesetzt.
Gründe:
Die Schmerzensgeldforderung hat der Kläger mit mindestens 50.000,00 € beziffert. Er hat weiter materiellen Schaden in Höhe von 13.441,00 € eingeklagt. Der Wert des Feststellungsanspruchs berechnet sich anhand des monatlichen Unterhaltsbetrages von 567,53 €. Davon war gem. § 9 ZPO der dreieinhalbfache Jahresbetrag zu nehmen und um 20% zu kürzen. So ergibt sich ein Betrag von (567,53 € × 42 Monate × 80%) 19.069,01 €.


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